Angemessene Dauer eines faktisch ausgesetzten Verfahrens

Zeiten, in denen das Ausgangsgericht das bei ihm anhängige Verfahren mit Blick auf ein parallel anhängiges Normenkontrollverfahren, dessen Ergebnis für die Entscheidung im Ausgangsverfahren relevant ist, in vertretbarer Weise (faktisch) aussetzt, sind grundsätzlich auch dann nicht bei der Beurteilung der angemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens zulasten des Ausgangsgerichts zu berücksichtigen, wenn das als „Leitentscheidung“ zu dienen bestimmte Normenkontrollverfahren länger andauert und das Ausgangsgericht während der Zeit des Wartens auf die Entscheidung des Normenkontrollgerichts in einem erheblichen Zeitraum keine eigenen Aktivitäten zur Förderung des Ausgangsverfahrens unternimmt. 

Angemessene Dauer eines faktisch ausgesetzten Verfahrens

Es entspricht bereits der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass es hinsichtlich des Merkmals der „unangemessenen Dauer“ eines Gerichtsverfahrens im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG bei Zugrundelegung einer objektivierenden Betrachtungsweise vertretbar ist, wenn das Ausgangsgericht das bei ihm anhängige Verfahren mit Blick auf einen parallel anhängigen Rechtsstreit, der für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens von rechtlicher Relevanz ist, zeitweise förmlich oder auch nur „faktisch“, d. h. ohne förmliche Anordnung nach § 94 VwGO aussetzt. Im Fall einer vertretbaren (faktischen) Aussetzung des Ausgangsverfahrens ist die Zeit der Bearbeitung und Förderung eines „Leitverfahrens“ bei der Beurteilung der angemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu berücksichtigen1

In diesem Sinne ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung – auch anderer oberster Bundesgerichte – bereits geklärt, dass die Entscheidung, „Musterverfahren“ auszuwählen und vorrangig zu betreiben, während übrige gleich oder ähnlich gelagerte Fälle einstweilen zurückgestellt bleiben, zu den verfahrensgestaltenden Befugnissen des (Ausgangs-)Gerichts gehört, die im Entschädigungsverfahren nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft werden können. Bezüglich der zurückgestellten Verfahren kann dann nicht von einem „bloßen Liegenlassen“ ausgegangen werden, wenn zu erwarten ist, dass in dem Musterverfahren Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für die zurückgestellten (Ausgangs- bzw. Stamm-)Verfahren von Relevanz sind. In diesen Verfahren stellt sich die Zeit des Zuwartens auf die Ergebnisse des Musterverfahrens nicht als unangemessene Verfahrensdauer dar, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Voraussetzungen für eine förmliche Verfahrensaussetzung oder die Anordnung des Ruhens des Verfahrens vorgelegen haben. Unerheblich ist dabei auch, ob sich die Zurückstellung – ex post betrachtet – als förderlich erwiesen hat2. Inzwischen ist ebenfalls geklärt, dass – jedenfalls bei Personenidentität auf Kläger- oder Beklagtenseite – Verzögerungen, die durch die Überlänge des Musterverfahrens in den davon abhängigen, zurückgestellten Verfahren eintreten, regelmäßig nicht zu gesondert entschädigungspflichtigen immateriellen Nachteilen im Ausgangsverfahren führen. Derartige Verzögerungen sind vielmehr bei der Prüfung einer Erhöhung des Regelsatzes nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG in dem das Musterverfahren betreffenden Entschädigungsverfahren zu berücksichtigen3

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Aussetzung des Verfahrens - und der gestorbene Geschäftsführer der beklagten GmbH

Die vorgenannten Grundsätze lassen sich auf die hier vorliegende Konstellation übertragen. Bei dem hier in Rede stehenden Verhältnis von Ausgangsverfahren und Normenkontrollverfahren handelt es sich zwar nicht im engeren Sinne um ein solches zwischen Muster- und Stammverfahren, weil das Normenkontrollverfahren einen nicht vergleichbaren Streitgegenstand aufweist und bei einem anderen Gericht geführt wird. Stellen sich aber in beiden Verfahren insbesondere gleiche Rechtsfragen, ist der vorgreifliche Charakter des Normenkontrollverfahrens und der Nutzen einer Normenkontrollentscheidung für das Ausgangsverfahren nicht zweifelhaft. Das gilt jedenfalls und typischerweise, wenn – wie hier – im Normenkontrollverfahren zu klären ist, ob und inwieweit Satzungsregelungen wirksam sind, welche die Rechtsgrundlage für einen im Ausgangsverfahren streitigen (Beitrags-)Bescheid darstellen. Das Zuwarten des Ausgangsgerichts auf eine den vergleichbaren Sachverhalt und die sich stellenden Rechtsfragen gegebenenfalls umfassender klärende Normenkontrollentscheidung, die zu einer Klärung im Ausgangsverfahren und zu dessen einfacherer Erledigung führen kann, stellt sich dann entschädigungsrechtlich nicht als unangemessene, sondern gerechtfertigte Zeitphase des Ausgangsverfahrens dar. 

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte arf auch das Abwarten der Gerichte auf den Ausgang eines vorgreiflichen Verfahrens nicht zu einer unabsehbaren Verzögerung des ausgesetzten Verfahrens führen; die Wartezeit darf also „nicht unbegrenzt“ sein4. Zwar kann sich in diesem Zusammenhang auch in Konstellationen wie der vorliegenden die Frage stellen, unter welchen Voraussetzungen im Falle vertretbarer (faktischer) Aussetzung des Ausgangsverfahrens ein nicht mehr gerechtfertigtes Warten auf die Entscheidung des Leitverfahrens vorliegt bzw. ob und inwieweit in diesem Fall eine Überlänge des Leitverfahrens im Rahmen des Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen wäre. Allerdings wird – wie in einer aktuellen Entscheidung des Bundesgerichtshofs, welcher das Bundesverwaltungsgericht folgt, weiter geklärt worden ist – den entschädigungsrechtlichen Interessen des von einer Überlänge des vorgreiflichen Verfahrens Betroffenen grundsätzlich dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass eine Verzögerung auch des zurückgestellten Verfahrens im Rahmen einer Entschädigung für die unangemessene Dauer des vorgreiflichen Verfahrens zu berücksichtigen ist, wenn – wie hier – die Betroffenen an beiden Verfahren beteiligt sind5

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Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung - und ihre Kompensation

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 30. Mai 2023 – 5 B 13.22

  1. vgl. BVerwG, Urteil vom 14.11.2016 – 5 C 10.15 D, Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 6 Rn. 155 m. w. N. und Beschlüsse vom 02.05.2017 – 5 B 75.15 D 8; vom 20.02.2018 – 5 B 13.17 D 5; und vom 22.01.2019 – 5 B 1.19 D 4[]
  2. vgl. BVerwG, Urteil vom 14.11.2016 – 5 C 10.15 D 155; BGH, Urteil vom 12.02.2015 – III ZR 141/14 – BGHZ 204, 184 Rn. 32 f.; BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R – SozR 4-1720 § 198 Nr. 4 Rn. 47[]
  3. vgl. BGH, Urteil vom 09.03.2023 – III ZR 80/22 – WM 2023, 762 Rn. 17; vgl. ferner bereits BVerwG, Urteil vom 14.11.2016 – 5 C 10.15 D, BVerwGE 156, 229 Rn.193[]
  4. EGMR, Urteil vom 21.12.2010 – 974/07 35[]
  5. vgl. BGH, Urteil vom 09.03.2023 – III ZR 80/22 – WM 2023, 762 Rn. 17[]

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  • Bundesverwaltungsgericht: Robert Windisch