Die Bildschirmarbeitsbrille des Gerichtsvollziehers

Die unionsrechtliche Vorgabe aus Art. 9 Abs. 3 und 4 der RL 90/270/EWG, wonach die Ausstattung eines Arbeitnehmers mit einer speziellen Sehhilfe in keinem Fall zu einer finanziellen Mehrbelastung des Arbeitnehmers führen darf, schließt es aus, einen Gerichtsvollzieher darauf zu verweisen, er habe die Kosten für eine Bildschirmarbeitsbrille aus dem von ihm erwirtschafteten, über seine Alimentation hinausgehenden Gebührenanteil zu finanzieren. Eine nach augenärztlicher Feststellung notwendige spezielle Bildschirmarbeitsbrille ist keine typische Aufwendung für die Gerichtsvollziehertätigkeit i.S.v. § 1 Abs. 3 GVVergVO RP.

Die Bildschirmarbeitsbrille des Gerichtsvollziehers

Rechtsgrundlage für den Anspruch des Gerichtsvollziehers, ihm die Aufwendungen für die Anschaffung einer Bildschirmarbeitsbrille zu erstatten, ist § 62 LBG RP i.V.m. §§ 3, 18, 19 ArbSchG und § 5 Abs. 1 sowie Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge vom 18.12 20081, zuletzt geändert durch Verordnung vom 15.11.20162. Diese Vorschriften setzen die unionsrechtlichen Vorgaben für den bildschirmbezogenen Arbeitsschutz nach Art. 9 der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 29.05.1990 RL 90/270/EWG3 in nationales Recht um.

Danach sind Beschäftigten im Rahmen der sog. Angebotsvorsorge nach § 5 Abs. 1 ArbMedVV von ihren Arbeitgebern oder Dienstherrn spezielle Sehhilfen für ihre Arbeit an Bildschirmgeräten zur Verfügung zu stellen, wenn das Ergebnis einer zuvor durchgeführten Angebotsvorsorge ist, dass eine spezielle Sehhilfe notwendig ist und normale Sehhilfen nicht geeignet sind. Bei einer Bildschirmarbeitsbrille handelt es sich um eine spezielle Sehhilfe, für die der Dienstherr beschaffungspflichtig ist. Ein Kostenerstattungsantrag ist das statthafte Surrogat für den normativ vorgesehenen Anspruch auf Sachausstattung.

Weiterlesen:
Mitbestimmungspflichten beim Einsatz von Leiharbeitnehmern im öffentlichen Dienst

§ 62 Abs. 1 LBG RP bestimmt, dass die aufgrund der §§ 18 und 19 ArbSchG vom 07.08.19964 in der jeweils geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen Anwendung finden. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG sind die Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Arbeitgeber in diesem Sinne sind auch juristische Personen, die Beamte beschäftigen (§ 2 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 ArbSchG)5. Arbeitsschutzrechtlicher Arbeitgeber eines beamteten Gerichtsvollziehers ist unmittelbar das jeweilige Land als Dienstherr der dort beschäftigten Beamten (vgl. § 2 Nr. 1 BeamtStG, § 3 Abs. 2 LBG RP). Beschäftigte im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes sind auch Beamte (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 ArbSchG). Die Verordnungsermächtigungen in den §§ 18 und 19 ArbSchG ermöglichen es, durch Rechtsverordnung vorzuschreiben, welche Maßnahmen der Arbeitgeber zu treffen hat.

§ 5 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge ArbMedVV i.d.F. vom 23.10.20136 legt fest, dass der Arbeitgeber den Beschäftigten arbeitsmedizinische Angebotsvorsorge nach Maßgabe des Anhangs anzubieten hat. Dieser Anhang bestimmt in Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 ArbMedVV, dass die Angebotsvorsorge bei Tätigkeiten an Bildschirmgeräten das Angebot auf eine angemessene Untersuchung der Augen und des Sehvermögens enthält. Erweist sich aufgrund der Angebotsvorsorge eine augenärztliche Untersuchung als erforderlich, so ist diese zu ermöglichen. Den Beschäftigten sind im erforderlichen Umfang spezielle Sehhilfen für ihre Arbeit an Bildschirmgeräten zur Verfügung zu stellen, wenn Ergebnis der Angebotsvorsorge ist, dass spezielle Sehhilfen notwendig und normale Sehhilfen nicht geeignet sind.

Weiterlesen:
Trunkenheit auf dem Fahrrad - Berufswunsch: Polizist

Nach Art. 9 Abs. 3 und 4 RL 90/270/EWG schließlich sind die Arbeitgeber verpflichtet, ihren Arbeitnehmern spezielle Sehhilfen für die Bildschirmarbeit zur Verfügung zu stellen, wenn die Ergebnisse der augenärztlichen Untersuchung der Augen und des Sehvermögens ergeben, dass spezielle Sehhilfen notwendig sind und normale Sehhilfen nicht verwendet werden können. Die dabei getroffenen Maßnahmen dürfen in keinem Fall zu einer finanziellen Mehrbelastung der Arbeitnehmer führen. Der in Art. 2 Buchst. a RL 90/270/EWG näher beschriebene Begriff des Bildschirms als Schirm zur Darstellung alphanumerischer Zeichen oder zur Grafikdarstellung, ungeachtet des Darstellungsverfahrens ist nach der Rechtsprechung des EuGH weit auszulegen7.

Bei der Bildschirmarbeitsbrille handelt es sich um eine spezielle Sehhilfe im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 1 ArbMedVV i.V.m. Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 ArbMedVV sowie von Art. 9 Abs. 3 RL 90/270/EWG. Sie soll über einen großen Sehbereich für die kurzen und mittleren Distanzen verfügen und dadurch bei entspannter Körperhaltung eine deutliche Sicht auf Bildschirm und Tastatur ermöglichen.

Eine solche spezielle Sehhilfe ist ein besonderes Arbeitsmittel, das nach individueller augenärztlicher Feststellung erforderlich ist, um den Beamten vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen hier der Augen und des Sehvermögens am Arbeitsplatz zu schützen8. Es handelt sich um ein spezielles Hilfsmittel des persönlichen Sonderbedarfs, das sich von „besonderen, für die Gerichtsvollziehertätigkeit typischen Aufwendungen, insbesondere für die Einrichtung und den Betrieb des Büros“ im Sinne von § 1 Abs. 3 Gerichtsvollziehervergütungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 08.12 20159 (GVVergVO RP) unterscheidet. Solche für die Gerichtsvollziehertätigkeit typischen Aufwendungen des Allgemeinbedarfs sind etwa Kosten für Büroräume einschließlich etwaiger Nebenräume, Heizung, Strom und Wasser einschließlich Abwasserentsorgung, Reinigungskosten für Geschäftsräume, Büromöbel und Büromaschinen (z B. Kopierer, Faxgerät, Fernsprecheinrichtungen, Computer, Aktenvernichter), Computerhardware, Computersoftware, sonstige Büroausstattung (z.B. Lampen, Vorhänge, Teppiche), Bürokleinmaterial (z.B. Papier, Toner), Literatur, Grundgebühren für Telefon, Handy, Internetanschluss, für die Ausübung der Gerichtsvollziehertätigkeit notwendige Versicherungen (z.B. Haftpflicht, Hausrat, ggf. anteilige Gebäudeversicherungen), Wartung, Reparaturen und Instandsetzung, Schuldzinsen, die zur kreditfinanzierten Anschaffung von Büroeinrichtung zu entrichten sind, sowie Personalgemeinkosten10.

Weiterlesen:
Schuldnerregister - und die Gerichtsvollziehergebühren für die Zustellung der Eintragungsanordnung

Dagegen ist von § 1 Abs. 3 Satz 1 GVVergVO RP ein personenbezogener Sonderbedarf aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht erfasst.

Gemäß Art. 9 Abs. 3 RL 90/270/EWG, § 2 Abs. 2 ArbSchG, § 18 Abs. 2 ArbSchG, § 5 ArbMedVV i.V.m. Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 des Anhangs zur ArbMedVV steht der Dienstherr generell und ausnahmslos in der Pflicht, seinen Beschäftigten seien es Arbeitnehmer, arbeitnehmerähnliche Personen oder Beamte (§ 2 Abs. 2 Nrn. 1, 3 und 4 ArbSchG) spezielle Sehhilfen für die betreffende Arbeit zur Verfügung zu stellen, wenn dies nach den Feststellungen aufgrund augenärztlicher Untersuchung erforderlich ist. Den vom Oberverwaltungsgericht im Berufungsurteil angenommenen Ausschlussgrund keine Pflicht zur Verfügungstellung der speziellen Sehhilfe aufgrund der besonderen Ausgestaltung des Dienstverhältnisses eines beamteten Gerichtsvollziehers kennen Unionsund Bundesrecht nicht. Der Dienstherr hat die speziellen Sehhilfen ohne Ausnahme allen für ihn tätigen Arbeitnehmern und Beamten mit augenärztlich festgestelltem persönlichem Sonderbedarf zur Verfügung zu stellen, ohne dass es auf die besondere Ausgestaltung des Arbeitsoder Dienstverhältnisses ankommt11.

Für Gerichtsvollzieher sind die Regelungen zu den Bürokostenentschädigungen keine vorrangig zu beachtenden spezielleren gesetzlichen Regelungen im Verhältnis zu § 5 Abs. 1 Satz 1 ArbMedVV zu Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 ArbMedVV. Die Anschaffungskosten für Bildschirmarbeitsbrillen sind keine „typischen Aufwendungen, insbesondere für die Einrichtung und den Betrieb des Büros einschließlich Personalkosten sowie bei Nachtdienst“ i.S.d. § 1 Abs. 3 GVVergVO RP.

Weiterlesen:
Abberufung als Sprecher des Gesamtvertrauenspersonenausschusses

Unionsrecht konkret: Art. 9 Abs. 3 und 4 RL 90/270/EWG erfordert es, Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 ArbMedVV als einen Anspruch zu betrachten, der keinen Raum für Einschränkungen oder Pauschalierungen lässt. Insbesondere die Unzulässigkeit von finanziellen Mehrbelastungen („in keinem Fall“) gemäß Art. 9 Abs. 4 RL 90/270/EWG steht der vom Berufungsgericht vorgenommenen Auslegung entgegen. Dem arbeitsschutzrechtlichen Schutzzweck der Norm ist nur Rechnung getragen, wenn der Arbeitnehmer im konkreten Fall nicht überlegen muss, ob er sich die nach augenärztlicher Feststellung individuell notwendige spezielle Sehhilfe leisten kann oder nicht. Das ist nur möglich, wenn der Arbeitgeber in allen Fällen die notwendige Sehhilfe für den Arbeitnehmer kostenfrei zur Verfügung stellt oder den Arbeitnehmern eine vollständige Kostenerstattung gewährt.

Dies gilt unabhängig davon, ob und inwieweit in die Bemessung der Bürokostenentschädigungen für Gerichtsvollzieher Aufwendungen für Bildschirmarbeitsbrillen der Gerichtsvollzieher selbst tatsächlich einfließen oder nicht. Sollten Aufwendungen für Bildschirmarbeitsbrillen tatsächlich pauschalierend berücksichtigt werden, entfällt der individuelle Anspruch des Gerichtsvollziehers aus Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 ArbMedVV dadurch nicht.

Damit verstößt der Rechtssatz des Berufungsurteils, aufgrund der besonderen Ausgestaltung ihrer Dienstverhältnisse seien Gerichtsvollzieher für die Einrichtung und den Unterhalt ihrer Büros und damit auch für die Anschaffung von Bildschirmarbeitsbrillen selbst verantwortlich, gegen Unionsrecht, weil er den Anwendungsvorrang von Art. 9 Abs. 3 und 4 RL 90/270/EWG verkennt12. Darüber hinaus verletzt der vorgenannte Rechtssatz des Berufungsurteils § 2 Abs. 2 Nr. 4, § 18 ArbSchG i.V.m. § 5 ArbMedVV und Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 ArbMedVV und damit höherrangiges Bundesrecht.

Weiterlesen:
Vollstreckung bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften

Die vom Gerichtsvollzieher begehrte Kostenerstattung ist das Surrogat für den normativ vorgesehenen Anspruch auf Sachausstattung. Dies schließt es aus, dass nur ein Zuschuss zu den tatsächlich entstandenen oder notwendigen Aufwendungen gezahlt wird oder dass anderweitige zweckidentische Zahlungen angerechnet werden. Nach Art. 9 Abs. 4 der Richtlinie 90/270/EWG darf die Ausstattung der Arbeitnehmer mit der speziellen Sehhilfe in keinem Fall zu einer finanziellen Mehrbelastung der Arbeitnehmer führen. Mit dieser Vorgabe ist es nicht zu vereinbaren, wenn der Arbeitnehmer einen Teil der erforderlichen Aufwendungen im Ergebnis selbst tragen muss13.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4. Juli 2019 – 2 C 38.17

  1. BGBl. I S. 2768[]
  2. BGBl. I S. 2549 ArbMedVV[]
  3. ABl. EG Nr. L 156, S. 14[]
  4. BGBl. I S. 1246[]
  5. vgl. auch BVerwG, Urteil vom 23.06.2016 2 C 18.15, Buchholz 421.20 Hochschulpersonalrecht Nr. 58 Rn. 47[]
  6. BGBl. I S. 3882[]
  7. EuGH, Urteil vom 06.07.2000 C11/99 [ECLI:?EU:?C:?2000:?368] Dietrich, Slg. 2000, I5589 Rn. 41[]
  8. BVerwG, Urteil vom 27.02.2003 2 C 2.02, Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 121 S. 7[]
  9. GVBl.2015, 437[]
  10. vgl. Leihkauff, in: Schwegmann/Summer, Besoldungsrecht des Bundes und der Länder, 78. Update 12/2018, § 68 Vergütung für Gerichtsvollzieher Rn. 23[]
  11. vgl. bereits Nds. OVG, Urteil vom 25.02.2014 – 3 LD 1/13 96[]
  12. zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts vgl. z.B. BVerwG, Urteile vom 26.07.2012 2 C 70.11, NVwZ 2012, 1472 Rn. 7; und vom 20.07.2017 2 C 31.16, BVerwGE 159, 245 Rn. 18 m.w.N.[]
  13. vgl. BVerwG, Urteil vom 27.02.2003 2 C 2.02, Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 121 S. 7[]
Weiterlesen:
Teil­nah­me von Or­ches­ter­mu­si­kern an Per­so­nal­ver­samm­lun­gen

Bildnachweis:

  • Brille,Tastatur,Bildschirmarbeitsplatz: Pixabay