Die Disziplinarklage und das gescheiterte strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren

Einem Be­schluss, mit dem ein An­trag auf Wie­der­auf­nah­me des straf­ge­richt­li­chen Ver­fah­rens gemäß § 359 Nr. 5 StPO ab­ge­lehnt wird, kommt keine Bin­dungs­wir­kung für das Dis­zi­pli­nar­k­la­ge­ver­fah­ren zu.

Die Disziplinarklage und das gescheiterte strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren

Gemäß § 59 Abs. 1 LDG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Demnach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind1. Entsprechend § 86 Abs. 1 VwGO folgt daraus die Verpflichtung, diejenigen Maßnahmen der Sachaufklärung zu ergreifen, die sich nach Lage der Dinge aufdrängen. Dies gilt gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 LDG auch für die Berufungsinstanz.

Diese Aufklärungspflicht wird durch § 58 Abs. 1 Satz 1 LDG eingeschränkt. Danach sind die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren im Disziplinarverfahren, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat, für das Gericht bindend. Nach Satz 2 hat das Gericht jedoch die erneute Prüfung solcher Feststellungen zu beschließen, die offenkundig unrichtig sind. Die gesetzliche Bindungswirkung dient der Rechtssicherheit. Sie soll verhindern, dass zu ein- und demselben Geschehensablauf unterschiedliche Tatsachenfeststellungen getroffen werden. Daher sind die Verwaltungsgerichte nur dann berechtigt und verpflichtet, sich von den Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils zu lösen und den disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalt eigenverantwortlich zu ermitteln, wenn sie ansonsten „sehenden Auges“ auf der Grundlage eines unrichtigen oder aus rechtstaatlichen Gründen unverwertbaren Sachverhalts entscheiden müssten. Dies ist etwa der Fall, wenn die Feststellungen in einem entscheidungserheblichen Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind. Hierunter fällt auch, dass das Strafurteil auf einer Urteilsabsprache beruht, die den rechtlichen Anforderungen nicht genügt. Darüber hinaus entfällt die Bindungswirkung, wenn Beweismittel eingeführt werden, die dem Strafgericht nicht zur Verfügung standen und nach denen seine Tatsachenfeststellungen zumindest auf erhebliche Zweifel stoßen2.

Weiterlesen:
Die Kinderpornos des Polizeimeisters

Diese Würdigung hat im hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall in der Vorinstanz das Oberverwaltungsgericht mit seinem Ablehnungsbeschluss vorweggenommen, ohne die Zeugen selbst gehört zu haben. Es hat mit der abgelehnten Beweisaufnahme nicht nur die Angaben des Zeugen als wahr unterstellt, sondern zugleich entschieden, dass hieraus keine Schlüsse für die Glaubhaftigkeit der Angaben des Tatopfers folgen. Dies kann zwar das mögliche Ergebnis einer durchgeführten Beweisaufnahme sein, die prognostizierte Wahrscheinlichkeit eines Beweisergebnisses rechtfertigt indes nicht deren Unterlassung3. Das Absehen von einer weiteren Sachaufklärung mit der Begründung, etwa in Betracht kommende Beweismittel würden voraussichtlich nicht den gewünschten Aufschluss erbringen, stellt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung und damit eine Verletzung der Verpflichtung des Gerichts dar, den Sachverhalt zu erforschen4. Von Zeugen hat sich das Gericht grundsätzlich selbst in der mündlichen Verhandlung einen unmittelbaren persönlichen Eindruck zu verschaffen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Glaubwürdigkeit des vernommenen Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussagen vorliegen und der persönliche Eindruck daher unverzichtbar ist5.

Hierauf beruht die angegriffene Entscheidung auch. Die Ablehnung des Beweisantrags erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Weder kann sie auf eine Bindungswirkung der Beschlüsse der Strafgerichte im Verfahren nach § 359 Nr. 5 StPO gestützt werden noch kommt diesen Beschlüssen für das Disziplinarverfahren vorliegend eine Indizwirkung zu.

Weiterlesen:
Versorgungsrücklagen - und die Ge­setz­ge­bungs­zu­stän­dig­kei­ten für das Be­sol­dungs- und Ver­sor­gungs­recht

Zwar sind die Prüfungsgegenstände einer strafgerichtlichen Wiederaufnahmeentscheidung nach § 359 Nr. 5 StPO und eines Lösungsbeschlusses nach § 58 Abs. 1 Satz 2 LDG weitgehend identisch6. In beiden Fällen geht es um die Frage, ob angesichts neuer Beweismittel eine erneute Prüfung der tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils veranlasst ist. Eine entsprechende Bindungswirkung misst § 58 Abs. 1 Satz 1 LDG indes nur den im Urteilsverfahren zustande gekommenen Feststellungen bei. Hintergrund hierfür sind die hohen Standards für eine nach den Prozessregeln der strafgerichtlichen Hauptverhandlung durchgeführte Beweisaufnahme und Tatsachenfeststellung7. Im summarischen Verfahren eines Strafbefehls oder anderer Beschlussformen getroffene Feststellungen lösen die Bindungswirkung dagegen nicht aus8.

Dem im Rahmen eines strafgerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens nach § 359 Nr. 5 StPO getroffenen Beschluss kann aber entsprechend § 58 Abs. 2 LDG eine Indizwirkung zukommen, die nur entfällt, wenn die strafgerichtliche Würdigung im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten substantiiert angegriffen worden ist9. Auch hiermit wird dem Anliegen, divergierende Entscheidungen von Straf- und Disziplinargerichten über dieselbe Tatsachengrundlage nach Möglichkeit zu vermeiden, Rechnung getragen. Der Beklagte ist der Würdigung der Strafgerichte vorliegend jedoch im Disziplinarklageverfahren substantiiert entgegengetreten.

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 15. März 2013 – 2 B 22.12

  1. vgl. auch BT-Drs. 14/4659, S. 49 zu § 58 BDG[]
  2. vgl. BVerwG, Urteile vom 29.11.2000 – 1 D 13.99, BVerwGE 112, 243, 245 = Buchholz 235 § 18 BDO Nr. 2 S. 5 f. und vom 16.03.2004 – 1 D 15.03, Buchholz 232 § 54 Satz 3 BBG Nr. 36 S. 81 f.; Beschlüsse vom 24.07.2007 – 2 B 65.07, Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 4 Rn. 11 sowie vom 26.08.2010 – 2 B 43.10, Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 3 Rn. 5[]
  3. vgl. etwa Beschluss vom 04.12.1998 – 8 B 184.98, NVwZ-RR 1999, 336 m.w.N.[]
  4. Beschluss vom 04.09.2008 – 2 B 61.07, Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4 Rn. 10 m.w.N.[]
  5. vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 26.10.2011 – 2 B 69.10; vom 01.06.2007 – 8 B 85.06; und vom 12.07.1985 – 9 CB 104.84, Buchholz 310 § 103 VwGO Nr. 8 jeweils m.w.N.[]
  6. vgl. Weiß, in: Fürst, GKÖD Bd. II, M § 57 Rn. 15[]
  7. vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 16.03.2004 – 1 D 15.03, Buchholz 232 § 54 Satz 3 BBG Nr. 36 Rn. 15[]
  8. BVerwG, Urteil vom 16.06.1992 – 1 D 11.91, BVerwGE 93, 255, 259[]
  9. vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.10.2008 – 2 B 48.08[]
Weiterlesen:
Ärztliche Behandlung eines Beamten im grenznahen Ausland