Die Unverhältnismäßigkeit eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens

Ein gerichtliches Disziplinarverfahren ist einzustellen, wenn der Dienstherr nicht die rechtliche Möglichkeit ausschöpft, das Ziel des Verfahrens auf eine den Soldaten weniger belastende Weise herbeizuführen.

Die Unverhältnismäßigkeit eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens

Der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht einem gerichtlichen Disziplinarverfahren entgegen, wenn dessen Einleitung oder Fortsetzung eine nicht erforderliche oder unzumutbare Belastung des betroffenen Soldaten nach sich zieht. Ebenso wie eine extrem lange Verfahrensdauer die Einstellung eines unverhältnismäßig gewordenen gerichtlichen Disziplinarverfahrens verlangt1, ist dessen Einstellung auch dann geboten, wenn der Dienstherr einen Soldaten mit einem gerichtlichen Disziplinarverfahren überzieht, obwohl er dasselbe Ergebnis durch ein milderes Mittel erreichen kann.

Dies ist in dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Verfahren der Fall, da der Bund die Möglichkeit hatte, dem früheren Soldaten antragsgemäß den Dienstgrad auf administrativem Wege durch Verwaltungsakt zu entziehen.

Der Bund hatte daher die in diesen Vorschriften vorausgesetzte Möglichkeit, den Verzicht des früheren Soldaten auf den Dienstgrad anzunehmen und ihn antragsgemäß aus dem Reservistenverhältnis zu entlassen. Dass das Reservistengesetz eine ausdrückliche Regelung über ein Entlassungsverfahren nur für die in einem Reservewehrdienstverhältnis stehenden unter 65-jährigen Reservistinnen und Reservisten enthält (§ 13 ResG), ändert daran nichts. Denn dies schließt es nicht aus, dass erst recht für die nicht mehr verwendungsfähigen über 65-Jährigen eine freiwillige Entlassungsmöglichkeit nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen besteht, zumal bei diesem Personenkreis ein militärisches Interesse nicht erkennbar ist, ein antragsgemäßes Ausscheiden aus dem Reservistenstatus zu verhindern.

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Dadurch, dass der Dienstherr ohne nähere Befassung mit dieser rechtlichen Möglichkeit den Antrag des früheren Soldaten mit Bescheid vom 23.09.2022 abgelehnt hat, hat er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Denn der Dienstherr hätte das mit der Anschuldigungsschrift verfolgte Ziel, den früheren Soldaten aus dem Kreis der Reservisten einer demokratisch-rechtsstaatlichen Armee auszuschließen, einfacher und schneller durch die antragsgemäße Entlassung aus dem Reservistenverhältnis erreichen können. Die darin liegende Annahme des Verzichts auf den Dienstgrad hätte dazu geführt, dass der frühere Soldat seine mit dem Reservistenstatus verbundenen Rechte verloren hätte, sich Stabsunteroffizier der Reserve nennen und bei genehmigten Anlässen Uniform tragen zu dürfen (vgl. §§ 2, 3 ResG). Da ein Verwaltungsverfahren weniger zeit- und kostenintensiv als ein gerichtliches Disziplinarverfahren ist, stellt es auch einen weniger schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des betroffenen Soldaten dar. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Aberkennung eines Dienstgrades durch Gerichtsurteil im vorliegenden Fall eine effektivere Maßnahme gewesen wäre, um die Integrität des Unteroffizierskorps der Reserve zu gewährleisten. Der Bund muss sich daher den Vorwurf gefallen lassen, dass er gegen den früheren Soldaten ein nicht erforderliches und schon angesichts der mehrjährigen Verfahrensdauer belastendes gerichtliches Disziplinarverfahren betreibt, das insgesamt unverhältnismäßig ist und gerichtliche Ressourcen ohne Not bindet2.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 10. Mai 2023 – 2 WD 14.22

  1. BVerwG, Beschluss vom 01.09.2017 – 2 WDB 4.17, Buchholz 450.2 § 108 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 11[]
  2. vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.01.2022 – 2 WD 13.21, Buchholz 450.2 § 83 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 7[]
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  • Bundesverwaltungsgericht: Robert Windisch