Das Bundesverfassungsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung einer Referendarin im juristischen Vorbereitungsdienst des Landes Hessen, die sich gegen ein Kopftuchverbot bei Gerichtsverhandlungen wandte, abgelehnt.

In Hessen dürfen Rechtsreferendarinnen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank sitzen, keine Sitzungsleitungen und Beweisaufnahmen durchführen, keine Sitzungsvertretungen für die Amtsanwaltschaft übernehmen und während der Verwaltungsstation keine Anhörungsausschusssitzung leiten. Die Rechtsreferendarin, die als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung in der Öffentlichkeit ein Kopftuch trägt, wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen diese Beschränkungen und rügt vornehmlich die Verletzung ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und ihrer Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG).
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beruht auf einer Folgenabwägung.
Der Ausgangssachverhalt[↑]
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verfassungskonformität der an eine aus religiösen Gründen Kopftuch tragenden Rechtsreferendarin gerichteten Untersagung, mit Kopftuch während der Ausbildung im Gerichtssaal auf der Richterbank zu sitzen, Sitzungsleitungen oder Beweisaufnahmen durchzuführen, Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft zu übernehmen oder während der Ausbildung in der Verwaltungsstation einen Anhörungsausschuss zu leiten.
Die 1982 in Frankfurt am Main geborene beschwerdeführende Referendarin besitzt die deutsche und die marokkanische Staatsangehörigkeit. Sie ist seit dem 2.01.2017 Rechtsreferendarin im Land Hessen, seit Mai 2017 in der Ausbildungsstation Strafrecht. Als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung trägt sie in der Öffentlichkeit ein Kopftuch.
Noch vor Aufnahme der Ausbildung erhielt die Rechtsreferendarin über das Oberlandesgericht ein Hinweisblatt, welches inhaltlich den Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28.06.2007 – 2220-V/A3-2007/6920-V – wiedergab. Der Erlass hat folgenden Wortlaut:
Wenn aus den Bewerbungsunterlagen für die Einstellung in den juristischen Vorbereitungsdienst erkennbar wird, dass während des Vorbereitungsdienstes ein Kopftuch getragen werden soll, sind die Bewerberinnen vor der Einstellung in den Vorbereitungsdienst dahingehend zu belehren, dass sich auch Rechtsreferendarinnen im juristischen Vorbereitungsdienst gegenüber Bürgerinnen und Bürgern politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten haben. Das bedeutet, dass sie, wenn sie während ihrer Ausbildung ein Kopftuch tragen, keine Tätigkeiten ausüben dürfen, bei denen sie von Bürgerinnen und Bürgern als Repräsentantin der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden können.
Praktisch bedeutet dies insbesondere, dass Referendarinnen, die ein Kopftuch tragen,
- bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank sitzen dürfen, sondern im Zuschauerraum der Sitzung beiwohnen können,
- keine Sitzungsleitungen und/oder Beweisaufnahmen durchführen können,
- keine Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft übernehmen können,
- während der Verwaltungsstation keine Anhörungsausschusssitzung leiten können.
Die Bewerberinnen sind darüber zu belehren, dass sich der Umstand, dass einzelne Ausbildungsleistungen nicht erbracht werden können, negativ auf die Bewertung der Gesamtleistung auswirken kann, da nicht erbrachte Regelleistungen grundsätzlich mit „ungenügend“ zu bewerten sein werden. Wie sich dies im Einzelfall auf die abschließende Bewertung der Leistung in der Ausbildungsstelle auswirkt, entscheidet die Einzelausbilderin oder der Einzelausbilder.
Die Rechtsreferendarin erklärte am 7.12 2016 die Annahme des ihr angebotenen Ausbildungsplatzes und merkte an, das Hinweisblatt zur Kenntnis genommen zu haben.
Mit Schreiben vom 09.01.2017 legte die Rechtsreferendarin eine Beschwerde gegen die Verwaltungspraxis in Gestalt des Hinweises ein. Mit Schreiben vom 24.01.2017 teilte der Präsident des Landgerichts Frankfurt am Main der Rechtsreferendarin unter Hinweis auf Erlasse des Hessischen Ministeriums für Justiz vom 28.06.2007 und vom 21.09.2015 mit, dass er der Beschwerde nicht abzuhelfen vermöge.
Hiergegen stellte die Rechtsreferendarin mit Schriftsatz vom 10.02.2017 beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
Anlässlich des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens überprüfte das Justizprüfungsamt die Erlasslage und das Hinweisblatt. Mit Schreiben vom 06.03.2017 teilte das Justizprüfungsamt dem Präsidenten des Oberlandesgerichts mit, der Erlass vom 28.06.2007 werde insbesondere bezüglich der Bewertung nicht erbrachter Ausbildungsleistungen nicht mehr aufrechterhalten. Eine nicht erbrachte Regelleistung als Folge einer Weigerung, dabei auf das Tragen eines Kopftuches aus religiösen Gründen zu verzichten, solle sich nicht negativ auf die Gesamtnote in der Ausbildungsstation auswirken, sondern durch andere Leistungen kompensiert werden können.
Die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen[↑]
Mit Beschluss vom 12.04.2017 hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main das Land Hessen verpflichtet sicherzustellen, dass die Rechtsreferendarin vorläufig ihre Ausbildung als Rechtsreferendarin vollumfänglich mit Kopftuch wahrnehmen kann, und sie insbesondere nicht den Beschränkungen unterliegt, die sich aus dem Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28.06.2007 ergeben.
Für das Kopftuchverbot bei Rechtsreferendaren fehle es an einer ausreichenden Rechtsgrundlage. Zudem sei es aufgrund der Unterschiede in der Amtsführung, bei den Anforderungen an das Amt und den sich aus der Verfassung und dem Gesetz ergebenden Amtspflichten zwischen einem Beamten beziehungsweise einer Beamtin, respektive einem Richter beziehungsweise einer Richterin und einem Rechtsreferendar beziehungsweise einer Rechtsreferendarin im Hinblick auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit und den Stellenwert der Berufswahlfreiheit – auch in der Ausprägung eines ungeschmälerten Ausbildungsumfanges – unverhältnismäßig, Referendaren und Referendarinnen in religiös-weltanschaulicher Hinsicht die gleichen Verhaltenspflichten aufzuerlegen wie der dauerhaft tätigen Beamten- und Richterschaft.
Auf die Beschwerde des Landes Hessen hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 23.05.2017 den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 12.04.2017 aufgehoben1.
Zur Begründung führte der Hessische Verwaltungsgerichtshof aus, eine hinreichende gesetzliche Grundlage sei für die Anordnung eines solchen Kopftuchverbots für Rechtsreferendarinnen mit § 27 Abs. 1 Satz 2 Gesetz über die juristische Ausbildung (Juristenausbildungsgesetz – JAG) in Verbindung mit § 45 Satz 1 HBG gegeben. Der Wille des Gesetzgebers, dass gerade auch § 45 HBG für Rechtsreferendare Geltung haben solle, sei zweifelsfrei erkennbar. Es bestünden entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Zulässigkeit der durch § 27 Abs. 1 Satz 2 JAG vorgenommenen dynamischen Verweisung unter anderem auf § 45 HBG.
Der Hessische Staatsgerichtshof habe in seinem Urteil vom 10.12 2007 – P.St.2016 – entschieden, dass § 27 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 45 Satz 1 und 2 HBG mit der Hessischen Landesverfassung vereinbar seien und in diesem Zusammenhang auch die hinreichende Bestimmtheit bestätigt.
Die Glaubensfreiheit der Rechtsreferendarin sei nicht grenzenlos gewährleistet, sondern werde durch kollidierende Grundrechte anderer Personen und sonstige Verfassungsgüter – namentlich die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Verfahrensbeteiligten und das staatliche Neutralitätsgebot als Gemeinschaftswert von Verfassungsrang – eingeschränkt. Die Abwägung dieser Positionen führe dazu, dass § 27 Abs. 1 Satz 2 JAG in Verbindung mit § 45 Satz 1 und Satz 2 HBG seitens des Landes Hessen verfassungskonform ausgelegt worden sei und die Rechtsreferendarin die genannten Tätigkeiten nicht durchführen könne.
Die Verfassungsbeschwerde[↑]
Am 23.05.2017 nahm die Rechtsreferendarin an einem Lehrgang zur Vorbereitung auf die Sitzung für die Amtsanwaltschaft teil. Am Ende sei ihr mitgeteilt worden, dass ihr Sitzungstermin auf den 6.07.2017 angesetzt sei.
Mit E-Mail vom 02.06.2017 bot das Rechtsamt – 30.1 Zivilrecht – der Stadt Frankfurt am Main der Rechtsreferendarin ein Referendariat im Rahmen der Verwaltungsstation ab September 2017 an und schlug ein Vorstellungsgespräch für den 9.06.2017 vor.
Mit Schriftsatz vom 06.06.2017 hat die Rechtsreferendarin Klage beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main erhoben, über die – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden worden ist.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Rechtsreferendarin unmittelbar gegen den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23.05.2017 und mittelbar gegen § 45 HBG und den Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28.06.2007 – 2220-V/A3-2007/6920-V -. Sie beantragt zudem den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Die Rechtsreferendarin rügt eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 1 und 3 GG.
Mit Schreiben vom 16.06.2017 teilte die Rechtsreferendarin mit, am selben Tag telefonisch von der Pressesprecherin der Amtsanwaltschaft Frankfurt am Main unterrichtet worden zu sein, dass sie den ihr zugeteilten Termin zur Sitzungsvertretung am 6.07.2017 aufgrund des mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs nur würde wahrnehmen dürfen, wenn sie das Kopftuch abnähme.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[↑]
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen2.
Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiesen sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet3. Erweist sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre4.
Die Folgenabwägung gemäß § 32 BVerfGG stützt sich auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen5. Hierbei legt das Bundesverfassungsgericht in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen zugrunde, wie sie in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommen worden sind6.
Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht angezeigt.
Die Verfassungsbeschwerde erscheint weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Zu klären ist insbesondere, ob und unter welchen Umständen das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal, im Rahmen der Sitzungsleitung oder Beweisaufnahme, der Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft oder bei der Leitung des Anhörungsausschusses die Neutralitätspflicht, die Unabhängigkeit der Justiz und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Verfahrensbeteiligten berührt und inwieweit dies hinzunehmen ist, weil der positiven Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und der Berufsfreiheit der Rechtsreferendarinnen Rechnung getragen werden soll. Diese Fragen bedürfen der Klärung im Rahmen einer Hauptsacheentscheidung, die gegebenenfalls dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist (§§ 93b, 93c BVerfGG).
Die gebotene Folgenabwägung führt nicht zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Das erforderliche Überwiegen der Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, kann hier nicht festgestellt werden.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde jedoch als begründet, dann wäre die Rechtsreferendarin bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.
Eine dem Rechtsreferendar auferlegte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen er als Repräsentant des Staates wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden könnte, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Sie stellt den Betroffenen vor die Wahl, entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihm als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.
Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht7. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben8. Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens9. Dazu gehört auch das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze10. Die Rechtsreferendarin kann sich auch als Angestellte im öffentlichen Dienst auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen; ihre Grundrechtsberechtigung wird durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt11.
Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben12. Die Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich dafür auch im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Darauf, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot vertreten werden, kommt es insoweit nicht an, da die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung jedenfalls hinreichend plausibel ist13.
Ein Verbot kann daneben ihre persönliche Identität (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und ihre Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) berühren14.
Das gesetzliche Bekundungsverbot greift in die Grundrechte der Rechtsreferendarin allerdings in zeitlicher sowie örtlicher Hinsicht lediglich begrenzt ein, indem die Rechtsreferendarin ausschließlich von der Repräsentation der Justiz oder des Staates im Rahmen der Ausbildung ausgeschlossen wird, soweit sie das Kopftuch tragen möchte. So erstreckt sich das Verbot etwa auf den Zeitraum einer mündlichen Verhandlung und das Platznehmen hinter der Richterbank. Hingegen bleiben die übrigen, weit überwiegenden Ausbildungsinhalte im Rahmen der Einzelausbildung oder der Arbeitsgemeinschaften unberührt.
Nach dem eigenen Vorbringen der Rechtsreferendarin ist sie seit Mai 2017 in Ausbildung bei einer Strafrichterin. Sie wird nicht gezwungen, ihr Kopftuch abzunehmen, sie kann vielmehr den gerichtlichen Verhandlungen mit Kopftuch im Zuschauerbereich des Gerichtssaals folgen. Lediglich die Sitzungsleitung und Verfahrenshandlungen wie Beweisaufnahmen kann sie nicht durchführen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rechtsreferendare keinen Anspruch auf Übernahme und Durchführung dieser Tätigkeiten haben. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 JAG soll die Rechtsreferendarin oder der Rechtsreferendar in möglichst weitem Umfang praktische Aufgaben selbstständig und, soweit die Art der Tätigkeit es zulässt, eigenverantwortlich erledigen. Dabei obliegt es nach § 16 Verordnung zur Ausführung des Juristenausbildungsgesetzes (Juristische Ausbildungsordnung – JAO) der Ausbilderin beziehungsweise dem Ausbilder zu entscheiden, ob eine Übertragung eigenverantwortlicher Tätigkeiten im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben möglich ist. Dies gilt unterschiedslos für alle Rechtsreferendare. Der Rechtsreferendarin wird somit – selbst wenn es bei einem Verbot der Teilnahme an den genannten Tätigkeiten bleibt – nicht eine den Vorgaben der §§ 28 ff. JAG entsprechende Ausbildung verwehrt.
Soweit die Rechtsreferendarin vorträgt, dass sie am 6.07.2017 eine Sitzungsvertretung für die Amtsanwaltschaft wahrnehmen solle, könnte sie diesen Termin allerdings mit Kopftuch nicht wahrnehmen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich – soweit vorgetragen – nur um einen Termin im Rahmen der Strafstation handelt. Nach dem Ausbildungsplan für die Ausbildung in Strafsachen nach § 31 Abs. 1 Satz 3, § 37 Abs. 4 JAG15 sollen Rechtsreferendare selbstständig als Sitzungsvertreter der Amtsanwaltschaft auftreten. Ausweislich des Ausbildungsplans handelt es sich aber um keine Regelleistungen im engeren Sinne, da sie grundsätzlich einer konkreten Beurteilung durch die Ausbilderin beziehungsweise den Ausbilder nicht zugänglich seien.
Zwar macht die Rechtsreferendarin darüber hinaus geltend, ab September 2017 die Verwaltungsstation beim Rechtsamt absolvieren zu können. Es ist aber zu berücksichtigen, dass eine Zusage ausweislich der vorgelegten Unterlagen noch von einem vorherigen Vorstellungsgespräch abhängig ist, dessen Ausgang nicht vorgetragen worden ist. Im Übrigen ist nicht dargelegt und auch nicht ersichtlich, dass sie im Rechtsamt mit der Leitung eines Anhörungsausschusses betraut werden wird.
Schließlich ist zu beachten, dass nach der geänderten Erlasslage eine nicht erbrachte Regelleistung als Folge einer Weigerung, dabei auf das Tragen eines Kopftuches aus religiösen Gründen zu verzichten, sich nicht negativ auf die Gesamtnote in der Ausbildungsstation auswirken soll.
Erginge indessen die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg, würden die vom Landesgesetzgeber mit § 27 JAG in Verbindung mit § 45 HBG verfolgten Belange, die mit denen der Rechtsreferendarin zumindest gleich zu gewichten sind, einstweilen nicht verwirklicht.
Dies betrifft zuvörderst die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) in Verbindung mit Art. 140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger16. Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten17 und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren18. Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist19. Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist indessen nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern20. Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden21. Auch verwehrt es der Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten22.
Dies gilt nach dem bisherigen Verständnis des Verhältnisses von Staat und Religion, wie es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seinen Niederschlag gefunden hat, insbesondere auch für den vom Staat garantierten und gewährleisteten Bereich der Justiz.
Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet23. Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG) ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem „nicht beteiligten Dritten“ ausgeübt wird24. Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den Begriffen „Richter“ und „Gericht“ untrennbar verknüpft25. Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten26. Das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden Richter27, sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem Richter steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt28. Dieses Verlangen nach Unvoreingenommenheit und Neutralität des Richters ist zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit29.
Auch Rechtsreferendare, die als Repräsentanten staatlicher Gewalt auftreten und als solche wahrgenommen werden, haben das staatliche Neutralitätsgebot zu beachten.
Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge durch Rechtsreferendare kann den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Auftrag der Rechtspflege und der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigen. Kopfbedeckungen und andere Kleidungsstücke sind zwar nicht aus sich heraus religiöse Symbole. Dies gilt auch für das Kopftuch. Eine vergleichbare Wirkung kann es erst im Zusammenwirken mit anderen Faktoren entfalten30. Auch wenn ein islamisches Kopftuch nur der Erfüllung eines religiösen Gebots dient und ihm von der Trägerin kein symbolischer Charakter beigemessen wird, sondern es lediglich als Kleidungsstück angesehen wird, das die Religion vorschreibt, ändert dies nichts daran, dass es in Abhängigkeit vom sozialen Kontext verbreitet als Hinweis auf die muslimische Religionszugehörigkeit der Trägerin gedeutet wird. In diesem Sinne ist es ein religiös konnotiertes Kleidungsstück. Wird es als äußeres Anzeichen religiöser Identität verstanden, so bewirkt es das Bekenntnis einer religiösen Überzeugung, ohne dass es hierfür einer besonderen Kundgabeabsicht oder eines zusätzlichen wirkungsverstärkenden Verhaltens bedarf. Dessen wird sich die Trägerin eines in typischer Weise gebundenen Kopftuchs regelmäßig auch bewusst sein. Diese Wirkung kann sich – je nach den Umständen des Einzelfalls – auch für andere Formen der Kopf- und Halsbedeckung ergeben31.
Des Weiteren ist die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten zu berücksichtigen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben; das bezieht sich auch auf Riten und Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellen. Die Einzelnen haben in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, allerdings kein Recht darauf, von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen sich dieser manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist32.
In Bezug auf den justiziellen Bereich kann von einer solchen unausweichlichen Situation gesprochen werden. Es erscheint nachvollziehbar, wenn sich Prozessbeteiligte in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt fühlen, wenn sie dem für sie unausweichlichen Zwang ausgesetzt werden, einen Rechtsstreit unter der Beteiligung von Repräsentanten des Staates zu führen, die ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen erkennbar nach außen tragen. Das als unverletzlich gewährleistete Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit steht – wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat – in enger Beziehung zur Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte und muss wegen seines Ranges daher extensiv ausgelegt werden33.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27. Juni 2017 – 2 BvR 1333/17
- Hess. VGH, Beschluss vom 23.05.2017 – 1 B 1056/17[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 1, 3; 82, 310, 312; 94, 166, 216 f.; 104, 23, 27; 106, 51, 58[↩]
- vgl. BVerfGE 89, 38, 44; 103, 41, 42; 118, 111, 122; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 105, 365, 371; 106, 351, 355; 108, 238, 246; 125, 385, 393; 126, 158, 168; 129, 284, 298; 132, 195, 232 f. Rn. 87; stRspr[↩]
- BVerfGE 94, 166, 217[↩]
- vgl. BVerfGE 34, 211, 216; 36, 37, 40; BVerfGK 16, 410, 415[↩]
- vgl. BVerfGE 24, 236, 245 f.; 32, 98, 106; 44, 37, 49; 83, 341, 354; 108, 282, 297; 125, 39, 79; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 12, 1, 4; 24, 236, 245; 105, 279, 294; 123, 148, 177[↩]
- vgl. BVerfGE 24, 236, 245 f.; 93, 1, 17[↩]
- vgl. BVerfGE 108, 282, 297; 138, 296, 328 f. Rn. 85[↩]
- vgl. BVerfGE 138, 296, 328 Rn. 84 sowie für Beamte BVerfGE 108, 282, 297 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 18.10.2016 – 1 BvR 354/11 58[↩]
- vgl. BVerfGE 24, 236, 247 f.; 108, 282, 298 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 108, 282, 298 f.; 138, 296, 330 Rn. 87 ff.; BVerfG, Beschluss vom 18.10.2016 – 1 BvR 354/11 59[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.10.2016 – 1 BvR 354/11 60[↩]
- RdErl. d. MdJ vom 21.10.2014, JMBl S. 703, 722[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 206, 216; 24, 236, 246; 33, 23, 28; 93, 1, 17[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 1, 8; 19, 206, 216; 24, 236, 246; 93, 1, 17; 108, 282, 299 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 30, 415, 422; 93, 1, 17; 108, 282, 300[↩]
- vgl. BVerfGE 41, 29, 50; 108, 282, 300 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 41, 29, 49; 93, 1, 16[↩]
- vgl. BVerfGE 93, 1, 16 f.; 108, 282, 300[↩]
- vgl. BVerfGE 33, 23, 29; 108, 282, 300; 137, 273, 305 Rn. 88; 138, 296, 339 Rn. 110; BVerfG, Beschluss vom 18.10.2016 – 1 BvR 354/11 67[↩]
- vgl. BVerfGE 4, 412, 416; 21, 139, 145 f.; 23, 321, 325; 82, 286, 298; 89, 28, 36[↩]
- vgl. BVerfGE 3, 377, 381; 4, 331, 346; 21, 139, 145; 27, 312, 322; 48, 300, 316; 87, 68, 85; 103, 111, 140[↩]
- vgl. BVerfGE 4, 331, 346; 60, 175, 214; 103, 111, 140[↩]
- BVerfGE 21, 139, 146; 103, 111, 140[↩]
- vgl. BVerfGE 89, 28, 36[↩]
- BVerfGE 21, 139, 146; 89, 28, 36[↩]
- vgl. BVerfGE 3, 377, 381; 37, 57, 65; 133, 168, 202 f. Rn. 62[↩]
- vgl. BVerfGE 108, 282, 304; 138, 296, 332 Rn. 94[↩]
- vgl. BVerfGE 138, 296, 332 Rn. 94[↩]
- vgl. BVerfGE 93, 1, 15 f.; 138, 296, 336 Rn. 104[↩]
- vgl. BVerfGE 24, 236, 246; 35, 366, 375 f.[↩]