Bei der Wiederaufnahme eines einfachen Disziplinarverfahrens kommt es für die Frage, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel neu ist, regelmäßig auf den Kenntnisstand des Disziplinarvorgesetzten bei der Verhängung an. Die Wiederaufnahme ist nach § 44 Abs. 3 WDO nicht ausgeschlossen, wenn der Soldat im Ausgangsverfahren die Angabe der Tatsache oder des Beweismittels schuldhaft versäumt hat. Ein Wiederaufnahmeantrag nach § 45 WDO kann nicht rechtswirksam bereits als Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren gestellt werden.

Bei der Frage, ob eine Tatsache neu ist, kommt es nicht auf das Wissen des Soldaten, sondern auf den Kenntnisstand des Disziplinarvorgesetzten an. Zwar folgt dies nicht aus dem Wortlaut des § 44 Abs. 3 Satz 1 WDO. Denn in dieser Vorschrift wird nicht ausdrücklich geregelt, wessen Perspektive maßgeblich ist. Auch § 44 Abs. 3 Satz 2 WDO, wonach abweichende tatsächliche Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Straf- oder Bußgeldverfahren als neue Tatsachen gelten, bringt insoweit keine Klarstellung. Dies folgt jedoch aus dem systematischen Zusammenhang der Wiederaufnahmevorschriften des einfachen Disziplinarverfahrens zu den Wiederaufnahmeregeln des gerichtlichen Disziplinarverfahrens. Auch in einem rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Disziplinarverfahren ist nach § 129 Abs. 1 Nr. 2 WDO die Wiederaufnahme bei Bekanntwerden neuer Tatsachen und Beweismittel zulässig. § 129 Abs. 2 Satz 2 WDO bestimmt, dass Tatsachen und Beweismittel neu sind, die dem Gericht bei seiner Entscheidung nicht bekannt gewesen sind. Danach stellt das Gesetz auf die Kenntnis des die disziplinarrechtliche Maßnahme treffenden Gerichts ab. Auf das einfache Disziplinarverfahren übertragen ist folglich die Kenntnis des entscheidenden Disziplinarvorgesetzten oder Wehrdienstgerichts maßgeblich1.
Auch ist nicht entscheidend, ob der Soldat das mangelnde Bekanntwerden der für ihn sprechenden Umstände verschuldet hat. Es spricht im vorliegenden Fall zwar vieles dafür, dass er bereits vor Verhängung der Disziplinarbuße auf seine psychische Erkrankung und eine mögliche Alkohol-Medikation-Wechselwirkung hätte hinweisen können. Auf ein Verschulden an dem verspäteten Sachvortrag kommt es jedoch nicht an. Zwar enthielt die Wehrdisziplinarordnung vom 15.03.19572 als Voraussetzung für die nochmalige Prüfung einer einfachen Disziplinarstrafe in § 31 Abs. 3 Satz 2 WDO a. F. die Regelung, dass der Bestrafte sich nur auf solche neuen Tatsachen und Beweismittel berufen konnte, die er in dem früheren Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemacht hatte. Diese Verschuldensklausel ist jedoch bei der Neufassung der Wehrdisziplinarordnung im Jahr 1972 gestrichen worden. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass dieser Grundsatz aufgegeben werde, da auch im Wiederaufnahmeverfahren gegen eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme ebenso wie in der Beamtendisziplinarordnung das Verschuldensprinzip entfallen sei3.
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Disziplinarbuße ein Verwaltungsakt ist, für den die Regelungen des Verwaltungsverfahrensrechts subsidiär Anwendung finden4. Zwar lässt § 51 Abs. 2 VwVfG ein Wiederaufgreifen eines unanfechtbaren Verwaltungsakts nur zu, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Diese allgemeine Regelung greift jedoch nicht. Nach § 1 Abs. 1 VwVfG gelten die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes nur, soweit nicht Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten. Das Wiederaufgreifen unanfechtbarer einfacher Disziplinarmaßnahmen ist jedoch in § 44 Abs. 3 und § 45 WDO speziell und entgegenstehend geregelt.
Der Antrag auf Aufhebung einer einfachen Disziplinarmaßnahme nach § 44 Abs. 3 WDO ist – wie sonstige behördliche oder gerichtliche Verfahrenshandlungen – grundsätzlich bedingungsfeindlich und somit unwirksam. Das gilt insbesondere für externe Bedingungen5. Zwar können innerhalb desselben behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens bei der dafür zuständigen Stelle unterschiedliche Anträge als zulässige innerprozessuale Bedingungen hilfsweise verfolgt werden6.
Ein Wiederaufnahmeantrag ist jedoch kein zulässiger Hilfsantrag in einem laufenden Beschwerdeverfahren. Dies folgt zum einen daraus, dass die Beschwerdestelle für ein solches Verfahren nicht sachlich zuständig ist. Der Wiederaufnahmeantrag ist als gerichtlicher Rechtsbehelf bei dem nach § 45 Abs. 1 WDO dafür zuständigen Wehrdienstgericht zu stellen; auch wenn er nach § 45 Abs. 2 WDO i. V. m. § 5 WBO fristwahrend beim Disziplinarvorgesetzten eingereicht werden kann. Als gerichtlicher Antrag, der ein Prozessverhältnis erst begründen soll, ist er bedingungsfeindlich7.
Zum anderen soll er nach der gesetzlichen Regelung des § 44 Abs. 3 WDO erst nach Abschluss des regulären Rechtsmittelverfahrens bei Eintritt der Unanfechtbarkeit der Disziplinarmaßnahme gestellt werden können. Erst nach dem bestands- oder rechtskräftigen Abschluss des mit der Beschwerde fortgeführten Ausgangsverfahrens steht fest, welches Vorbringen berücksichtigt worden ist und darum kann erst danach beurteilt werden, welche Tatsachen und Beweismittel im Aufhebungsverfahren „neu“ sind. Da eine Beschwerdestelle auch im Fall einer verspätet eingelegten Beschwerde eine Sachentscheidung erlassen kann8, steht erst nach Abschluss dieses Rechtsmittelverfahrens fest, welche Tatsachen und Beweismittel verwertet worden sind. Für die rechtliche Anerkennung eines gleichsam auf Vorrat „hilfsweise“ bei der unzuständigen Stelle eingelegten Wiederaufnahmeantrags besteht kein Rechtsschutzbedürfnis.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20. April 2023 – 2 WRB 1.23
- vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl.2022, § 44 Rn. 27[↩]
- BGBl. I S. 189[↩]
- BT-Drs. 6/1834 S. 44, 62[↩]
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.09.2022 – 2 WDB 1.22 23[↩]
- vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl.2022, § 22 Rn. 58[↩]
- vgl. Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl.2022, § 106 Rn.19[↩]
- vgl. BVerfG, Urteil vom 26.10.2022 – 2 BvE 3/15, 2 BvE 7/15 61; Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl.2022, Vor § 124 Rn. 35[↩]
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.08.2017 – 1 WRB 1.16, Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 96 Rn.20 f.[↩]
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