Das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung der Prüfer wird durch eine Verfahrensgestaltung verletzt, die den Prüfern im Rahmen des Überdenkensverfahrens ermöglicht, eine gemeinsame Stellungnahme zu den Einwänden des Prüflings auf Grundlage eines entsprechenden, vom Erstprüfer gefertigten Entwurfs und einer nachfolgenden Beratung zwischen ihnen abzugeben, die stattfindet, ohne dass die Prüfer zuvor das Ergebnis ihres Überdenkens schriftlich niedergelegt haben.

Wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, beansprucht das Grundrecht der Berufsfreiheit Geltung auch für die Durchführung berufsbezogener Abschlussprüfungen und ist der insoweit gewährleistete Grundrechtsschutz auch durch die Gestaltung des Verfahrens zu bewirken1. Wegen der Intensität, mit der solche Prüfungen in die Freiheit der Berufswahl eingreifen, und weil der nachträglichen gerichtlichen Kontrolle – vor allem wegen der unabdingbaren Entscheidungsfreiräume der Prüfer in Bezug auf prüfungsspezifische Wertungen – Grenzen gesetzt sind, bedarf es einer objektivitäts- und neutralitätssichernden Gestaltung des Bewertungsverfahrens2. Dieses Erfordernis wird zusätzlich dadurch untermauert, dass die Bürger allgemein – als Kern grundrechtlicher Verfahrensgarantien – über die Möglichkeit verfügen müssen, ihren Standpunkt wirksam vertreten und Einwände gegen das Verwaltungshandeln wirksam vorbringen zu können, speziell bei Staatsprüfungen der Kandidat jedoch meist erst nach Erlass des Prüfungsbescheides in ausreichendem Umfang erfährt, wie seine Leistungen im Einzelnen bewertet worden und welche Erwägungen dafür maßgebend gewesen sind3. Vor diesem Hintergrund besteht ein grundrechtlich fundierter Anspruch von Prüflingen, bereits im Rahmen eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens ihre Einwände gegen die Bewertungen der Prüfer vorzubringen, um deren wirksame Nachprüfung zu erreichen2.
In Anknüpfung an diese Verfassungsrechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht4 ausgesprochen, dass das eigenständige verwaltungsinterne Kontrollverfahren zur Überprüfung der Einwände des Prüflings „einen unerlässlichen Ausgleich für die unvollkommene Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch die Verwaltungsgerichte (darstellt) und damit zugleich – in Ergänzung des gerichtlichen Rechtsschutzes – eine Komplementärfunktion für die Durchsetzung des Grundrechts der Berufsfreiheit (erfüllt)“. Damit das Verfahren des Überdenkens der Prüfungsentscheidung seinen Zweck, das Grundrecht der Berufsfreiheit des Prüflings effektiv zu schützen, konkret erfüllen kann, muss – wie der Senat in diesem Urteil präzisierend ausgeführt hat – gewährleistet sein, dass die Prüfer ihre Bewertungen hinreichend begründen, dass der Prüfling seine Prüfungsakten mit den Korrekturbemerkungen der Prüfer einsehen kann, dass die daraufhin vom Prüfling erhobenen substantiierten Einwände den beteiligten Prüfern zugeleitet werden, dass die Prüfer sich mit den Einwänden des Prüflings auseinandersetzen und, soweit diese berechtigt sind, ihre Bewertung der betroffenen Prüfungsleistung korrigieren sowie alsdann auf dieser – möglicherweise veränderten – Grundlage erneut über das Ergebnis der Prüfung entscheiden5.
Das Bundesverfassungsgericht hat betont, die zur Objektivitäts- bzw. Neutralitätssicherung des Bewertungsverfahrens gebotenen Regelungen beträfen auch „die Auswahl der Prüfer, ihre Zahl und ihr Verhältnis zueinander, insbesondere bei Bewertungsdifferenzen“6. Den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG wird vielfach nur dann genügt sein, wenn Prüfungsleistungen, durch deren Bewertung intensiv in die Freiheit der Berufswahl eingegriffen wird, einer Bewertung durch zwei oder mehr Prüfer zugeführt werden7. Zudem ist es geboten, dass sämtliche mit einer Bewertung betrauten Prüfer ihre Beurteilung der Prüfungsleistung eigenständig und unabhängig voneinander vornehmen8. Der objektivitätssteigernde Effekt der Einschaltung einer Prüfermehrheit würde andernfalls zu einem erheblichen Teil wieder zunichte gemacht werden. Das Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung gilt auch im Stadium des Überdenkensverfahrens, das gerade hierdurch die nötige Kontrolleffizienz gewinnt. Es wird selbst dann nicht obsolet, wenn sich der Zweitprüfer im Rahmen des ersten Bewertungsdurchgangs der Bewertung des Erstprüfers ohne eingehende inhaltliche Begründung angeschlossen hatte9. Ein Zweitprüfer, der sich die Bewertung des Erstprüfers vollständig zu eigen macht, erklärt hiermit nicht sein Einverständnis mit sämtlichen von diesem vorgenommenen prüfungsspezifischen Wertungen, weil diese Wertungen – was in der Natur der Sache liegt – in der schriftlichen Bewertungsbegründung des Erstprüfers zwangsläufig nicht sämtlich zur Abbildung gelangen können; zudem besteht die Möglichkeit, dass beide Prüfer die vom Prüfling im Überdenkensverfahren vorgebrachten Einwände in jeweils unterschiedlichem Umfang für begründet erachten10. Auch in dieser Konstellation kommt es somit auf die eigenständige und unabhängige Urteilsbildung des Zweitprüfers an.
Das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung der Prüfer wird durch eine Verfahrensgestaltung verletzt, die – wie im vorliegenden Fall – den Prüfern im Rahmen des Überdenkensverfahrens die Möglichkeit eröffnet, eine gemeinsame Stellungnahme zu den Einwänden des Prüflings auf Grundlage eines entsprechenden, vom Erstprüfer gefertigten Entwurfs und einer nachfolgenden Beratung zwischen ihnen abzugeben, die stattfindet, ohne dass die Prüfer zuvor das Ergebnis ihres Überdenkens schriftlich niedergelegt haben.
Das Überdenken der Prüfungsbewertung findet für jeden beteiligten Prüfer seinen Abschluss erst mit der schriftlichen Niederlegung des Ergebnisses. Es entspricht allgemeiner Lebenserfahrung, dass die schriftliche Fixierung eigener Überlegungen bzw. ihres Ergebnisses noch zu Änderungen führen kann. Tauschen sich die beteiligten Prüfer vor diesem Zeitpunkt untereinander aus, eröffnet dies zwangsläufig die Möglichkeit, dass der Austausch in ihre hier noch nicht abgeschlossene Urteilsbildung einfließt11. Die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Urteilsbildung des Zweitprüfers wird durch die mit einem solchen Austausch verbundenen Einwirkungsmöglichkeiten deutlich stärker als dadurch in Frage gestellt, dass er – entsprechend den Gepflogenheiten einer sog. offenen Zweitkorrektur12 – zu Beginn seiner eigenen Befassung die schriftliche Begründung der Überdenkensentscheidung des Erstprüfers zur Kenntnis nimmt; noch stärker wird naturgemäß die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Urteilsbildung des Erstprüfers in Frage gestellt, dessen Befassung in Unkenntnis der Bewertung des Zweitprüfers einsetzte. Dass nicht in jedem Einzelfall ein solcher Austausch die Beteiligten in ihrer persönlichen Urteilsbildung tatsächlich beeinflusst, ändert nichts daran, dass die fragliche Verfahrensgestaltung eine dahingehende Gefahr begründet. Dieser Gefahr schon im Ansatz zu begegnen, ist im Prüfungsverfahren in Anbetracht der begrenzten intersubjektiven Nachvollziehbarkeit prüfungsspezifischer Wertungen ein besonders gewichtiges Anliegen.
Die vom Prüfungsamt im vorliegenden Fall gewählte Verfahrensweise diente offenkundig dem Ziel, auf eine Annäherung der beiderseitigen Überdenkensergebnisse oder zumindest der ihnen zugrundeliegenden, schriftlich zu fixierenden Begründungen hinzuwirken. Soweit der Beklagte hiermit die Absicht verfolgt haben sollte, die Komplexität des Überdenkensverfahrens zu reduzieren und die nachfolgende Widerspruchsentscheidung im Sinne von § 27 Abs. 1 JAG NW zu erleichtern, würde dies keine Einbußen der Objektivitätsgewähr des Verfahrens rechtfertigen, wie sie mit dieser Verfahrensweise nach dem Vorgesagten verbunden sind. Dem verfassungsrechtlichen Rang des Anspruchs des Prüflings auf ein wirksames Überdenken der Prüferbewertungen entspricht es, dass Einbußen der Objektivitätsgewähr des Verfahrens nur dann tolerabel sind, wenn sie sich als strukturell alternativlos erweisen, eine andernfalls drohende unzumutbare Arbeitsbelastung der Prüfungsbehörde abwenden oder einem vergleichbar gewichtigen Ziel dienen. Dass hiervon im vorliegenden Fall nicht auszugehen ist, belegt bereits die anders geartete Prüfungspraxis anderer Prüfungsämter.
Zu keinem anderen Ergebnis führt die Erwägung, dass sich die Ergebnisrichtigkeit des Überdenkensverfahrens durch einen Austausch der beteiligten Prüfer mit Blick darauf durchaus auch erhöhen kann, dass die gesprächsweise Konfrontation mit anderen Standpunkten vielfach die gedankliche Durchdringung eigener Positionen zu vertiefen geeignet ist. Diese Erwägung führt nicht in einen zwingenden Widerspruch zum Vorgesagten, wie sich bereits anhand von § 14 Abs. 1 JAG NW illustrieren lässt. Nach dieser – auf das Stadium der Erstbewertung bezogenen – Vorschrift erfolgt bei abweichender Bewertung einer Aufsichtsarbeit eine Beratung der beiden Prüfer erst, nachdem diese die Aufsichtsarbeit „selbständig begutachtet und bewertet“ haben. Bei einer solchen Gestaltung können die funktionellen Vorzüge eines Prüferaustauschs realisiert werden, ohne die Objektivitätsgewähr aufs Spiel zu setzen, die darin liegt, dass die Prüfer sich zunächst eigenständig und unabhängig voneinander ein Urteil bilden und dieses sodann schriftlich fixieren. Dem Prüfungsamt steht es frei, im Stadium des Überdenkensverfahrens eine vergleichbare Gestaltung zu veranlassen.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Oktober 2012 – 6 B 39.12
- vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 17.04.1991 – 1 BvR 1529/84, 1 BvR 138/87, BVerfGE 84, 59, 72 und vom selben Tag – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34, 45[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.04.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 – a.a.O. S. 46[↩][↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 17.04.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 – a.a.O. S. 46 und vom selben Tag – 1 BvR 1529/84, 1 BvR 138/87 – a.a.O. S. 72 f.[↩]
- BVerwG, Urteil vom 24.02.1993 – 6 C 35.92, BVerwGE 92, 132, 137 = Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 313 S. 262[↩]
- BVerwG, a.a.O. S. 137 bzw. 262; bestätigt durch BVerwG, Urteil vom 30.06.1994 – 6 C 4.93, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 334 S. 34; seitdem stRspr[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 17.04.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, a.a.O. S. 46[↩]
- vgl. Niehues/Fischer, Prüfungsrecht, 5. Aufl.2010, S.196 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16.01.1995 – 1 BvR 1505/94; Niehues/Fischer a.a.O. S.200[↩]
- zur Zulässigkeit dieses Vorgehens: BVerwG, Urteile vom 09.12.1992 – 6 C 3.92, BVerwGE 91, 262, 269 = Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 307 S. 231; und vom 16.03.1994 – 6 C 5.93, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 329 S. 14[↩]
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.09.2012 – 6 B 35.12[↩]
- vgl. BVerwG, Urteil vom 03.12.1981 – 7 C 30. und 31.80, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 157 S. 54 f.[↩]
- zu deren Zulässigkeit: BVerwG, Beschluss vom 18.12.1997 – 6 B 69.97[↩]