Das Aktenanforderungsersuchen eines Landesuntersuchungsausschusses an den Generalbundesanwalt

Hält eine um Amtshilfe ersuchte Stelle in Ausübung ihres Prüfungsrechts, ob sich die durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss angeordnete Beweiserhebung innerhalb des Untersuchungsauftrags hält, Beweismittel zurück, hat sie das substantiiert zu begründen. Bei der Prüfung, ob die angeordnete Beweiserhebung sachlich von dem Untersuchungsauftrag abgedeckt wird, können nur Einwendungen der ersuchten Stelle durchgreifen, aus denen sich klar ergibt, dass das konkrete Beweisthema als ein aliud nicht mehr von dem Untersuchungsgegenstand umfasst wird. Die Bestimmung der Ermittlungstiefe innerhalb des Untersuchungsauftrags ist Sache des Untersuchungsausschusses im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative zum Umfang notwendiger Beweiserhebungen.

Das Aktenanforderungsersuchen eines Landesuntersuchungsausschusses an den Generalbundesanwalt

So erwies sich im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht der Antrag des Hessischen Landtags, der vom Generalbundesanwalt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Herausgabe von Unterlagen im Zusammenhang mit dem am 19.02.2020 verübten Terroranschlag in Hanau begehrt, als zulässig und im Wesentlichen als begründet:

Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist eröffnet und das Bundesverwaltungsgericht ist sachlich zuständig.

Es handelt sich um eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit i. S. v. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, da der geltend gemachte Anspruch nicht im verfassungsrechtlichen Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern im einfachen öffentlichen Recht wurzelt. Begehrt ein Untersuchungsausschuss eines Landesparlaments gegenüber einer Bundesbehörde zum Zwecke der Beweiserhebung, dass ihm bestimmte Materialien zugänglich gemacht werden, kann er sich auf den allgemeinen Anspruch auf Gewährung von Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG stützen. Zwar ergibt sich dieser Anspruch aus der Verfassung, aber Art. 35 Abs. 1 GG sagt nichts über den Umfang der Verpflichtung zur Amtshilfe aus, insbesondere nichts darüber, inwieweit aus einfachem Recht oder dem Grundgesetz Schranken der Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand herzuleiten sind1. Art. 35 Abs. 1 GG erweist sich deshalb als eine auf das Grundsätzliche beschränkte Bestimmung, die im besonderen Maß der Ausfüllung durch das einfache Recht bedarf. Eine Konkretisierung erfährt sie insbesondere durch die Regelungen der Amtshilfe in §§ 4 bis 8 VwVfG. Der Streit wurzelt daher entscheidend im Verwaltungs- und nicht im Verfassungsrecht2.

Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet gemäß § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern. Die Vorschrift ist eng auszulegen und soll von den allgemein geltenden Zuständigkeitsregeln nur solche Streitigkeiten ausnehmen, die in ihrer Eigenart gerade durch die Beziehung zwischen Bund und Land geprägt sind und sich ihrem Gegenstand nach einem Vergleich mit landläufigen Verwaltungsstreitigkeiten entziehen. Dies trifft jedenfalls in den Fällen zu, in denen über die Abgrenzung der beiderseitigen Hoheitsbefugnisse und der Rechtsstellung zueinander zu entscheiden ist3. Das ist hier der Fall. Die Beteiligten streiten über die Reichweite der Amtshilfepflicht und damit über die Abgrenzung ihrer beiderseitigen Hoheitsbefugnisse im Rahmen einer grundsätzlich zu leistenden Amtshilfe4.

Der zulässige Antrag ist überwiegend begründet. Die Begehren stehen in tatsächlichem Zusammenhang und können deshalb gemäß § 44 VwGO in einem Verfahren verfolgt werden. Der Antragsteller hat hinsichtlich der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage der meisten Beweismittel sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

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Der geltend gemachte Anordnungsgrund der Rechtsvereitelung ist glaubhaft. Zwar nimmt der Antrag nach § 123 VwGO die Hauptsache vorweg. Aber die Eilbedürftigkeit des verfolgten Begehrens ergibt sich aus der Bedeutung des Untersuchungsrechts von Untersuchungsausschüssen in der parlamentarischen Demokratie vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Diskontinuität des Parlaments5.

Der Antragsteller hat hinsichtlich der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage der Beweismittel mit Ausnahme der personenbezogenen Daten des Vaters des Täters, die dessen erst im Anschluss an die Tat erfolgte ärztliche Behandlung betreffen, den sich aus Art. 35 GG i. V. m. §§ 4 ff. VwVfG ergebenden Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Danach ist die Antragsgegnerin – worüber das Bundesverwaltungsgericht ohne Einschränkung seiner gerichtlichen Kognitionsbefugnis zu entscheiden hat – zur Vorlage der ungeschwärzten Dokumente und Bilder der Opfer des Anschlags sowie des Täters im Wege der Amtshilfe verpflichtet; ihre dagegen gerichteten Einwendungen erweisen sich als unbegründet.

Verwaltungsgerichte sind nicht daran gehindert, Tatsachen- und Rechtsvortrag eines Beteiligten auch dann bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen, wenn dieser erstmals im gerichtlichen Verfahren erfolgt; vielmehr sind sie dazu grundsätzlich verpflichtet. Einschränkungen dieser Pflicht, die sich für den Vortrag von Tatsachen aus § 86 Abs. 1 VwGO und im Hinblick auf rechtliche Ausführungen aus dem Grundsatz iura novit curia ableitet, sieht das allgemeine Prozessrecht in § 87b Abs. 3, § 114 Satz 2, §§ 128a, 133 Abs. 3 Satz 3 und § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO vor. Der Annahme des Antragstellers, ein Nachschieben von Gründen sei auch in dem hier vorliegenden Verfahren in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG6 ausgeschlossen, folgt das Bundesverwaltungsgericht nicht. Denn der Rechtsschutz durch Verwaltungsgerichte geht – anders als der auf einen Feststellungsausspruch begrenzte Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht (§ 67 Satz 1 BVerfGG) – über die Feststellung rechtswidrigen Behördenverhaltens hinaus. Feststellungsbegehren sind zudem im Verwaltungsprozessrecht gegenüber Leistungsklagen subsidiär (§ 43 Abs. 2 VwGO). Ein Verpflichtungs- oder Leistungsausspruch ist aber wegen der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (Art.20 Abs. 3 GG) – abgesehen von prozessrechtlichen Sonderregelungen – nur möglich, wenn die ausgeurteilte Verpflichtung dem im gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt geltenden Recht entspricht. Daher bedarf jede Präklusion des Vorbringens eines Beteiligten einer verwaltungsprozessrechtlichen Regelung, die der Gesetzgeber in Fällen der vorliegenden Art nicht vorgesehen hat.

Die prinzipielle Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage der vom Antragsteller bezeichneten Akten des Generalbundesanwalts in ungeschwärzter Form ergibt sich aus Art. 35 GG i. V. m. §§ 4 ff. VwVfG. Denn eine Behörde, zu der auch ein Untersuchungsausschuss zählt7, kann gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG um Amtshilfe ersuchen, wenn sie zur Durchführung ihrer Aufgaben Urkunden oder sonstige Beweismittel benötigt, die sich im Besitz der ersuchten Behörde befinden. Zur Aufklärung von Missständen, Versäumnissen oder Rechtsverstößen im Bereich der Landesverwaltung kann es auch sachdienlich sein, auf Unterlagen von Bundesbehörden als Beweismittel zurückzugreifen8. Ersucht eine Stelle eines Landes eine Bundesbehörde um Amtshilfe, richten sich Zulässigkeit und Grenzen der Amtshilfeleistung gemäß den insoweit übereinstimmenden Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder (§ 7 Abs. 1 und 2 VwVfG) nach den für die ersuchte Behörde maßgeblichen Regelungen9.

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Die formellen Voraussetzungen für die Entstehung der Amtshilfepflicht der Antragsgegnerin liegen vor; das wird von ihr auch nicht infrage gestellt. Das an den Generalbundesanwalt gerichtete Schreiben des Ausschussvorsitzenden vom 27.07.2021 wird den an ein Amtshilfeersuchen zu stellenden Anforderungen gerecht. Auch der in § 5 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG genannte Grund für ein Amtshilfeersuchen ist gegeben. Der Antragsteller vermag sich gegenüber der Antragsgegnerin zudem auf sein Beweiserhebungsrecht aus § 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Hessischen Landtags (Hessisches Untersuchungsausschussgesetz – HUAG) vom 25.03.202010 zu berufen. Nach dieser Vorschrift erhebt der Untersuchungsausschuss die durch den Untersuchungsauftrag gebotenen Beweise aufgrund von Beweisbeschlüssen. Hier hat der Untersuchungsausschuss am 19.07.2020 und 24.01.2022 entsprechende Beweisbeschlüsse gefasst.

Der dem Untersuchungsausschuss vom Landtag vorgegebene Untersuchungsauftrag genügt den rechtlichen Anforderungen11. Der im Einsetzungsbeschluss des Hessischen Landtags vom 07.07.2021 definierte Untersuchungsauftrag, das Handeln und mögliche Unterlassen der Hessischen Landesregierung sowie ihrer nachgeordneten Behörden im Zusammenhang mit dem Anschlag von Hanau aufzuklären, ist von öffentlichem Interesse. Jedenfalls in der Zusammenschau mit den zehn Fragestellungen, die den Untersuchungsauftrag zu Versäumnissen der Verwaltung im Vorfeld, während der Begehung oder im Nachgang der Tat und zu Problemen in verwaltungsinternen Abläufen sowie zu Defiziten bestehender Strukturen näher konkretisieren, erweist sich der Untersuchungsauftrag als hinreichend bestimmt. Angesichts der Fokussierung auf die bestehenden Strukturen der hessischen Sicherheitsbehörden wahrt der Untersuchungsauftrag die bundesstaatlichen Kompetenzgrenzen12.

Die begehrte Beweiserhebung des Untersuchungsausschusses 20/2 durch Einsichtnahme in die vom Generalbundesanwalt in ungeschwärzter Form vorzulegenden Akten wahrt den Rahmen des Untersuchungsauftrags in föderaler und sachlicher Hinsicht. Die gegen den letztgenannten Aspekt gerichteten Einwendungen der Antragsgegnerin verkennen die Reichweite des ihr als ersuchte Stelle insoweit eingeräumten Prüfungsrechts13.

Das Begehren des Antragstellers wahrt die aus dem Bundesstaatsprinzip abzuleitenden Grenzen des Beweiserhebungsrechts. Fordert ein Landesuntersuchungsausschuss von einer Bundesbehörde Beweismittel an, müssen diese nötig oder zumindest sachdienlich sein können, um den im Rahmen des zulässigen Untersuchungsgegenstandes zu prüfenden Sachverhalt erschöpfend aufzuklären. Die Beweiserhebung darf nicht darauf abzielen, zu einer Aufdeckung und Bewertung der Arbeitsweise und von Vorgängen bei Bundesbehörden zu führen. Als sachdienlich anzuerkennen sind im vorliegenden Fall demzufolge Beweismittel, welche Erkenntnisse beinhalten, die zur Feststellung geeignet sind, ob Hessische Behörden Fehler oder Versäumnisse im Zusammenhang mit dem Anschlag in Hanau anzulasten sind. Das sind nicht nur Dokumente, die von Hessischen Stellen stammen oder an diese als Adressaten gerichtet sind. Über dieses formale Kriterium hinaus reicht ein inhaltlicher Bezug zum Ermittlungsvorgehen von Hessischen Behörden aus. Mit Blick auf die gebotene Effizienz parlamentarischer Kontrolle und das Vertrauen, das sich die Glieder des Bundesstaates gegenseitig schulden, ist in Zweifelsfällen großzügig zu verfahren. Denn selbst wenn Beweismittel in überschießendem Umfang vorgelegt würden, die (auch) eine Beurteilung des Verhaltens von Bundes- oder Landesbehörden anderer Bundesländer zuließen, wäre einem Landesuntersuchungsausschuss eine solche Bewertung aus Kompetenzgründen untersagt14.

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Die angeordnete Beweiserhebung durch Aktenvorlage in ungeschwärzter Form hält sich auch sachlich innerhalb des Untersuchungsauftrags. Gemäß Art. 92 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Hessen15 vom 01.12.194616, zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.201817 erheben die Untersuchungsausschüsse in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Deutlicher als in § 14 Abs. 1 HUAG kommt in dieser Bestimmung der Hessischen Verfassung zum Ausdruck, dass Untersuchungsausschüsse über einen Einschätzungsspielraum verfügen, frei vom Einfluss anderer Staatsorgane selbst darüber zu befinden, welche Beweiserhebungen sie zur Aufklärung des Sachverhalts als notwendig erachten18. Das Untersuchungsverfahren dient – anders als ein auf eine konkrete Tat und individuelle Schuld fokussierender Strafprozess – der Aufklärung eines Sachverhalts zu politischen Zwecken. Die einzelne Beweiserhebung muss daher nicht auf bestimmte Tatsachen bezogen sein, sondern kann darauf abzielen, zunächst „Licht ins Dunkel“ eines Untersuchungskomplexes zu bringen, um auf diese Weise die Aufklärung von politischen Verantwortlichkeiten zu ermöglichen. Bei einem Ersuchen auf Aktenvorlage muss deshalb nicht bereits feststehen, dass die Unterlagen auch tatsächlich entscheidungserhebliches Material oder entsprechende Beweismittel enthalten. Es reicht aus, wenn sie Hinweise hierauf geben könnten19. Das ist hier der Fall.

Wenn die Antragsgegnerin dem entgegenhält, die Übermittlung der ungeschwärzten Aktenbestandteile überschreite den Untersuchungsauftrag des Ausschusses, da der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht habe, dass die Kenntnis der bislang geschwärzten Passagen zur Erfüllung seines Untersuchungsauftrags überhaupt nötig oder zumindest sachdienlich wäre, geht das fehl. Die dafür von ihr angeführten Belege betreffen die – im Übrigen genau umgekehrt verteilten – Darlegungslasten, die der beschließende Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf die Grenzen des Beweiserhebungsrechts eines Landesuntersuchungsausschusses entwickelt hat, die sich aus dem Bundesstaatsprinzip ergeben20.

Hinsichtlich der Frage, ob die angeordnete Beweiserhebung sachlich von dem Untersuchungsauftrag abgedeckt wird, können im Rahmen ihrer Obliegenheit zu substantiiertem Vortrag nur Einwendungen der ersuchten Stelle durchgreifen, aus denen sich klar ergibt, dass das konkrete Beweisthema als ein aliud nicht mehr von dem Untersuchungsgegenstand umfasst wird. Das lässt sich dem Vorbringen der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall nicht entnehmen. Denn die Bestimmung der Ermittlungstiefe innerhalb des – von dem Begehren des Antragstellers gewahrten – Untersuchungsauftrags ist Sache des Untersuchungsausschusses im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative zum Umfang notwendiger Beweiserhebungen. Das entspricht der Funktion eines mit einer autonomen Beweiserhebungskompetenz ausgestatteten Untersuchungsausschusses als eines effektiven Instruments zur Sicherung der parlamentarischen Verantwortung der Regierung. Die Grenzen des Beweiserhebungsrechts sind mit Blick auf den Untersuchungsauftrag und die diesen konkretisierenden Fragestellungen nicht überschritten.

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Der von der Antragsgegnerin zudem betonte streng persönliche Charakter der betreffenden Daten und Abbildungen sowie der postmortale Persönlichkeitsschutz der Opfer stehen der begehrten Einsichtnahme des Untersuchungsausschusses in die vom Generalbundesanwalt in ungeschwärzter Form vorzulegenden Akten nicht entgegen. Etwas anderes ergibt sich hinsichtlich der in dem Gutachten von Prof. S. enthaltenen personenbezogenen Daten des Vaters von T. R., soweit sie dessen erst im Anschluss an die Tat erfolgte ärztliche Behandlung betreffen.

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse üben öffentliche Gewalt aus und haben gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte zu beachten. Deshalb können insbesondere die Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu einer Einschränkung des Beweiserhebungsrechts führen21.

Mit Blick auf die Daten und Bilder der getöteten Opfer endet die aller staatlichen Gewalt in Art. 1 Abs. 1 GG auferlegte Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde nicht mit dem Tod einer Person22. Der postmortale Persönlichkeitsschutz aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG erfasst aber – im Unterschied zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des lebenden Menschen – zum einen nur den allgemeinen Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht und den Verstorbenen insbesondere davor bewahrt, herabgewürdigt oder erniedrigt zu werden. Zum anderen erstreckt er sich auf den sittlichen, personalen und sozialen Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat, und schützt vor einer „Verfälschung“ des Lebensbildes23. Beide Ausprägungen des postmortalen Persönlichkeitsschutzes werden durch die Offenlegung der geschwärzten Daten und Bilder der Verstorbenen gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht berührt.

1 Abs. 1 GG bezieht auch den konkreten Leichnam als Hülle der verstorbenen Person in seine Schutzpflicht mit ein, der nicht wie beliebige Materie behandelt werden darf24. Wenn aber die Leichenöffnung zur Feststellung der Todesursache den Toten in seinem allgemeinen Achtungsanspruch weder herabwürdigt noch erniedrigt25, vermag Art. 1 Abs. 1 GG unter diesem Aspekt keinen weitergehenden Schutz vor der Beweiserhebung eines Untersuchungsausschusses durch Einsichtnahme in Daten und Bilder aus der Leichenschau bzw. die Krankenakten Verstorbener zu vermitteln.

Auch wenn der höchstpersönliche Charakter der Bilder und Daten der getöteten Opfer und des Täters einer Kenntnisnahme durch die Mitglieder des Untersuchungsausschusses nicht entgegensteht, hat der Untersuchungsausschuss beim Umgang mit Informationen und Daten aus dem Intimbereich auch verstorbener Personen den Geheimschutz zu wahren. Dazu vermittelt das Regelungsregime in § 12 und § 13 HUAG ein ausreichendes Instrumentarium. Dass auch die Beobachtung von Vorschriften zur Wahrung von Dienstgeheimnissen deren Bekanntwerden nicht immer auszuschließen vermag, steht dem nicht entgegen, denn diese Tatsache betrifft alle drei Gewalten26.

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Hinsichtlich der in dem Gutachten von Prof. S. enthaltenen personenbezogenen Daten des Vaters von T. R., Herrn H. R., die dessen erst nach der Tat erfolgte medizinische Behandlung betreffen, ist der Anordnungsanspruch hingegen nicht glaubhaft gemacht. Insoweit fällt die von dem Gericht im Verfahren nach § 123 VwGO anzustellende Abwägung unter Berücksichtigung der derzeitigen Einschätzung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zulasten des Antragstellers aus.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen27. Dabei genießen personenbezogene Gesundheitsdaten, z. B. über ärztliche Behandlungen in Krankenunterlagen, die die Privat- und Intimsphäre des Individuums betreffen, aufgrund ihrer Sensibilität einen besonderen Schutz28. Zwischen dem verfassungsrechtlich verbürgten Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses und dem damit kollidierenden grundrechtlich gewährleisteten Datenschutz des betroffenen Individuums ist im konkreten Einzelfall ein Ausgleich im Wege praktischer Konkordanz herzustellen29.

Hinsichtlich der geschwärzten Aussagen im Gutachten von Prof. S. zu Herrn H. R., die dessen ärztliche Behandlung im Anschluss an die Tat betreffen, ist bei der Herstellung praktischer Konkordanz mit dem Untersuchungsauftrag des Antragstellers die hohe Sensibilität jener Gesundheitsdaten zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass diese Daten erst bei der ärztlichen Behandlung im Anschluss an die Tat entstanden sind. Insoweit ist weder vorgetragen noch drängt es sich auf, dass Informationen zu einer erst nach der Tat erfolgten medizinischen Behandlung des Vaters des Täters dem Antragsteller weiteren Aufschluss im Rahmen seines Untersuchungsauftrags geben könnten. Deshalb fällt die von dem Gericht im Verfahren nach § 123 VwGO anzustellende Abwägung unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die Aussagekraft dieser personenbezogenen Daten für den Untersuchungsauftrag des Antragstellers nur in einem Hauptsacheverfahren aufklären lässt, zulasten des Antragstellers aus.

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 27. Januar 2023 – 6 VR 2.22

  1. vgl. BVerwG, Urteile vom 12.10.1971 – 6 C 99.67, BVerwGE 38, 336 <340> und vom 08.04.1976 – 2 C 15.74, BVerwGE 50, 301 <310>[]
  2. BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art 28 GG Nr. 176 Rn. 15[]
  3. BVerwG, Beschluss vom 13.08.1999 – 2 VR 1.99, BVerwGE 109, 258 <261> m. w. N.[]
  4. BVerwG, Beschlüsse vom 10.08.2011 – 6 A 1.11, Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 305 Rn. 12; und vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 16[]
  5. dazu ausführlich: BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 26 f.[]
  6. BVerfG, Urteil vom 07.11.2017 – 2 BvE 2/11, BVerfGE 147, 50 Rn. 259 m. w. N.[]
  7. BVerwG, Beschluss vom 10.08.2011 – 6 A 1.11, Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 305 Rn. 7[]
  8. BVerwG, Beschluss vom 13.08.1999 – 2 VR 1.99, BVerwGE 109, 258 <266 f.> m. w. N.[]
  9. BVerwG, Urteil vom 27.06.2018 – 6 C 10.17, BVerwGE 162, 296 Rn.20[]
  10. GVBl. HE S. 222[]
  11. vgl. zur gerichtlichen Prüfungsdichte: BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 33 ff.[]
  12. vgl. BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 37 m. w. N.[]
  13. vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.06.2009 – 2 BvE 3/07, BVerfGE 124, 78 <118 f.>[]
  14. BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 40[]
  15. Hessische Verfassung – HV[]
  16. GVBl. HE S. 229[]
  17. GVBl. HE S. 752[]
  18. BVerfG, Urteil vom 17.07.1984 – 2 BvE 11, 15/83, BVerfGE 67, 100 <128> BVerwG, Beschlüsse vom 13.08.1999 – 2 VR 1.99, BVerwGE 109, 258 <266> und vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 31[]
  19. BVerfG, Beschluss vom 17.06.2009 – 2 BvE 3/07, BVerfGE 124, 78 <116 f.>[]
  20. BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 40 f.[]
  21. BVerfG, Urteil vom 17.07.1984 – 2 BvE 11, 15/83, BVerfGE 67, 100 <142 ff.> BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 51[]
  22. BVerfG, Beschluss vom 24.02.1971 – 1 BvR 435/68, BVerfGE 30, 173 <194>[]
  23. BVerwG, Urteil vom 29.06.2017 – 7 C 24.15, BVerwGE 159, 194 Rn. 53 m. w. N.; Beschluss vom 03.12.2020 – 6 A 3.20 – DVBl.2021, 588 Rn. 14[]
  24. BayVGH, Beschluss vom 21.02.2003 – 4 CS 03.462 – NJW 2003, 1618 <1620>[]
  25. BVerfG, Beschluss vom 27.07.1993 – 2 BvR 1553/93 – NJW 1994, 783 <784>[]
  26. BVerwG, Beschluss vom 02.09.2019 – 6 VR 2.19, Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 176 Rn. 47 m. w. N.[]
  27. grundlegend: BVerfG, Urteil vom 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u. a., BVerfGE 65, 1 <42 ff.>[]
  28. vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.01.2006 – 2 BvR 443/02 – NJW 2006, 1116 Rn. 26 m. w. N.[]
  29. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2020 – 2 BvE 4/18, BVerfGE 156, 270 Rn. 94[]
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AStA-Artikel über Hochschulmitarbeiter

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