Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts muss das „Kopftuch-Verfahren“ ohne seinen Vorsitzenden Kirchhof entscheiden. Kirchhof war seinerzeit der „Architekt“ der baden-württembergischen Lösung zum Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen. Diese Lösung wurde später von Nordrhein-Westfalen kopiert – und genau dieses nordrhein-westfälische Gesetz zum Kopftuch-Verbot in Schulen steht nun in mehreren Verfassungsbeschwerden auf dem Karlsruher Prüfstand.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat daher beschlossen, dass über zwei Verfassungsbeschwerden zum sog. Kopftuch-Verbot in nordrhein-westfälischen Schulen wegen Besorgnis der Befangenheit ohne Mitwirkung von Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof zu entscheiden ist. Maßstab hierfür ist nicht, ob ein Richter tatsächlich „parteilich“ oder „befangen“ ist, sondern ob ein Verfahrensbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Eine solche Konstellation liegt hier vor, denn in einer Gesamtbetrachtung kommt Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof gleichsam eine Art Urheberschaft für das zu beurteilende Rechtskonzept zu. Nach den gesetzlichen Bestimmungen wird ein Richter bzw. eine Richterin durch Los als Vertretung bestimmt.
Die frühere Tätigkeit des BVerfG-Vizepräsidenten Kirchhof[↑]
Kirchhof – seinerzeit noch nicht Verfassungsrichter – hat das Land Baden-Württemberg in zwei Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, welche das Tragen von Kopftüchern im Schuldienst betrafen, und in der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht1 vertreten. Das nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot des Kopftuchtragens erforderliche Gesetz hat er sodann für die baden-württembergische Landesregierung entworfen und im Gesetzgebungsverfahren beratend begleitet. Zu den auf der Grundlage des baden-württembergischen Textes in Hessen und Nordrhein-Westfalen vorgelegten Gesetzentwürfen hat er vor beiden Landtagen Stellung genommen.
In einem der Ausgangsverfahren zu den vorliegenden Verfassungsbeschwerde2 haben die Prozessvertreter des beklagten Landes NRW in einem Schriftsatz an das Arbeitsgericht Passagen aus einer von Prof. Kirchhof formulierten Nichtzulassungsbeschwerde an den baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof wörtlich zur eigenen Argumentation wiedergegeben. Prof. Kirchhof hatte insoweit dem zuständigen baden-württembergischen Ministerium auf dessen Anfrage eine Verwendung seiner früheren Stellungnahmen allgemein – nicht in Bezug auf bestimmte Verfahren – gestattet.
Die anhängigen Verfassungsbeschwerden[↑]
Die Verfassungsbeschwerden betreffen arbeitsgerichtliche Entscheidungen des Arbeitsgerichts Herne3, des Landesarbeitsgerichts Hamm4 und des Bundesarbeitsgerichts5über Abmahnungen bzw. eine Kündigung, die das Land Nordrhein-Westfalen als Arbeitgeber ausgesprochen hat, nachdem sich die Beschwerdeführerinnen als Angestellte an öffentlichen Schulen geweigert hatten, im Dienst ein aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch bzw. eine als Ersatz hierfür getragene Wollmütze abzulegen. Die Verfassungsbeschwerden stellen zugleich mittelbar die landesgesetzlichen Regelungen über Zulässigkeit und Grenzen religiöser Bekundungen durch im Schulwesen beschäftigte Personen zur verfassungsrechtlichen Prüfung.
Die Beschwerdeführerinnen halten Vizepräsident Kirchhof wegen Vorbefassung von der Mitwirkung für ausgeschlossen und haben ihn wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Auch der Richter selbst hat um eine Entscheidung hierzu gebeten.
Kein Ausschluss kraft Amtes[↑]
Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, ist in den vorliegenden Verfahren nicht kraft Gesetzes von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen (§ 18 BVerfGG).
Nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ist ein Richter des Bundesverfassungsgerichts von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist.
Die Ausschlussregelung ist als Ausnahmetatbestand konstruiert und deshalb eng auszulegen. Das Tatbestandsmerkmal „derselben Sache“ in § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ist – in Übereinstimmung mit den Ausschlussregelungen anderer fachgerichtlicher Verfahrensordnungen – stets in einem konkreten, strikt verfahrensbezogenen Sinne zu verstehen. Zu einem Ausschluss kann deshalb regelmäßig nur eine Tätigkeit in dem verfassungsgerichtlichen Verfahren selbst oder in dem diesem unmittelbar vorausgegangenen und ihm sachlich zugeordneten Verfahren führen6.
Die Regelung des § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG bestimmt, dass die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren nicht als Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 gilt. Darüber hinaus ist auch die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage nach der Bestimmung des § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG nicht als ein Tätigwerden „in derselben Sache“ anzusehen7.
Vizepräsident Kirchhof war hiernach vor dem Antritt seines Amtes als Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht von Berufs wegen „in derselben Sache“ im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG tätig. An den beiden den Verfassungsbeschwerden vorangegangenen arbeitsgerichtlichen Ausgangsverfahren war er weder als Bevollmächtigter noch sonst beteiligt. Dies würde zumindest voraussetzen, dass er in irgendeiner Weise mit Wissen und Wollen konkret verfahrensbezogene Tätigkeiten entfaltet hätte. Das ist nicht der Fall. Zwar ist aus einem Schriftsatz, den er in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren als Bevollmächtigter des Landes Baden-Württemberg verfasst hatte, in dem von der Beschwerdeführerin zu I.)) geführten arbeitsgerichtlichen Ausgangsverfahren von den Prozessbevollmächtigten des Landes Nordrhein-Westfalen in weiten Teilen wörtlich zitiert worden. Darin liegt jedoch kein „Tätigwerden in derselben Sache“ im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG. Denn das Zitat war nicht im Blick auf das konkrete Verfahren von einer ausdrücklichen Billigung von Vizepräsident Kirchhof getragen, wie sich aus dessen Erklärung hierzu ergibt, wenngleich er die anderweitige Verwendung seiner Stellungnahme allgemein gestattet hatte. Ein passives Zitiertwerden ohne konkrete Beteiligung an der Abfassung des Schriftsatzes im Ausgangsverfahren ist kein Tätigwerden in dieser Sache.
Die Mitwirkung von Vizepräsident Kirchhof als Hochschullehrer in Gesetzgebungsverfahren mehrerer Länder zum selben Regelungsgegenstand, so in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, ist von der Ausschlusswirkung eines Tätiggewesenseins in derselben Sache nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich ausgenommen (§ 18 Abs. 3 BVerfGG). Das gilt zunächst für die Anhörungen durch Ausschüsse der Landtage einschließlich der schriftlichen Stellungnahme zu der damals im Gesetzgebungsverfahren befindlichen, hier mittelbar mit angegriffenen schulgesetzlichen nordrhein-westfälischen Regelung (§ 57 Abs. 4, § 58 SchulG NW). Zwar hat Vizepräsident Kirchhof in seiner Stellungnahme dem Entwurf ausdrücklich seine Verfassungskonformität attestiert8. Das ändert jedoch nichts daran, dass es sich bei solchen Anhörungen von Sachverständigen und angeforderten Stellungnahmen um eine formalisierte Mitwirkung in einem Gesetzgebungsverfahren handelt9.
Auch die Erstellung des Entwurfs einer mit der angegriffenen inhaltsgleichen gesetzlichen Regelung zum Verbot religiöser Bekundungen für die baden-württembergische Landesregierung zur Vorbereitung einer Gesetzesinitiative sowie die beratende Begleitung des Gesetzesvorhabens lassen sich als Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren verstehen. Der Anwendungsbereich des § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG ist nicht auf die Mitwirkung von Mitgliedern gesetzgebender Organe begrenzt. Für eine Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren spricht daher, dass Vizepräsident Kirchhof als damaliger Hochschullehrer von einem an der Gesetzgebung beteiligten Organ für Zwecke des Gesetzgebungsverfahrens mit der Erstellung des Entwurfs beauftragt wurde. Auch wenn man die Beteiligung von Hochschullehrern im Auftrag von Organen, die unmittelbar von Verfassungs wegen an der Gesetzgebung beteiligt sind, nicht als Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren im Sinne des § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG begreifen wollte, würde es sich jedenfalls um die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu Rechtsfragen handeln, die auch für die gegenständlichen Verfahren bedeutsam sind und die deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt von der Ausschlusswirkung eines Tätiggewesenseins in derselben Sache ausgenommen sind (§ 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG; so auch BVerfGE 82, 30, 37).
Aber: Besorgnis der Befangenheit[↑]
Die vom Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Kirchhof, angezeigten und von den Beschwerdeführerinnen mitgeteilten Umstände geben den Beschwerdeführerinnen allerdings nachvollziehbar Anlass, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (§ 19 BVerfGG).
Das Ablehnungsgesuch der Beschwerdeführerin zu II.)), der bei sinngerechtem Verständnis ebenfalls als Richterablehnung zu verstehende Vortrag der Beschwerdeführerin zu I.)) sowie die Bitte von Vizepräsident Kirchhof selbst, eine Entscheidung nach § 19 BVerfGG herbeizuführen10, gebieten es, auch über die Frage der Besorgnis einer etwaigen Befangenheit zu befinden.
Die Ablehnung eines Richters des Bundesverfassungsgerichts nach § 19 BVerfGG setzt voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Es kommt mithin nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich „parteilich“ oder „befangen“ ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist ausschließlich, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln11.
Allerdings kann eine Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 19 BVerfGG nicht aus den allgemeinen Gründen hergeleitet werden, die nach der ausdrücklichen Regelung des § 18 Abs. 2 und 3 BVerfGG einen Ausschluss von der Ausübung des Richteramtes nicht rechtfertigen; es wäre ein Wertungswiderspruch, könnte gerade wegen dieser Gründe dennoch über eine Befangenheitsablehnung ein Richter von der Mitwirkung ausgeschlossen werden. Daher muss stets etwas Zusätzliches gegeben sein, das über die bloße Tatsache der Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren und des Äußerns einer wissenschaftlichen Meinung zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage hinausgeht, damit eine Besorgnis der Befangenheit als begründet erscheinen kann12.
Die vorliegende besondere Fallgestaltung ist durch solche zusätzlichen Umstände gekennzeichnet, die zu den nicht zum Ausschluss führenden Tätigkeiten von Vizepräsident Kirchhof hinzukommen. Diese ergeben sich aus einer summativen Wirkung, die weit über eine bloße Mitwirkung in einem Gesetzgebungsverfahren hinausreicht und letztlich in besonderer Weise zur Übernahme einer Gewährfunktion für die Verfassungsmäßigkeit der Regelung gerade in den hier angegriffenen Punkten geführt hat.
Es ist nicht zu übersehen, dass die hier zu beurteilenden Umstände über die bloße Tatsache einer Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren und des Äußerns wissenschaftlicher Meinungen hinausgehen. Die zusammenfassende Betrachtung kann aus der Sicht der Beschwerdeführerinnen, auf die es insoweit ankommt, berechtigten Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. So hat der Richter nach der Vertretung des Landes Baden-Württemberg im sogenannten Kopftuch-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht für die Landesregierung als Gesetzesinitiatorin eine gesetzliche Vorschrift entworfen, deren Konzept ersichtlich auch darauf gerichtet war, eine besondere Regelung für die Darstellung christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte vorzusehen. Es liegt auf der Hand, dass dem Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung zum Entwurf einer gesetzlichen Regelung, die durch das Urteil vom 24.09.20031 veranlasst war, die Erwartung eines verfassungskonformen Entwurfs innewohnte13. Auf dieser Grundlage hat Vizepräsident Kirchhof als Hochschullehrer damals den Gesetzentwurf im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens beratend und unterstützend begleitet. Die so entstandene Regelung des Landes Baden-Württemberg diente dem nordrhein-westfälischen Landesgesetzgeber erkennbar als Vorbild14. Die schulgesetzlichen Bestimmungen des Landes Nordrhein-Westfalen, die hier zur Entscheidung stehen, entsprechen weitgehend den von dem Richter für das Land Baden-Württemberg entworfenen. Vizepräsident Kirchhof hat sie in seiner Stellungnahme für den Landtag Nordrhein-Westfalens ausdrücklich ebenfalls für verfassungsgemäß befunden8. Diese grundsätzliche Position hat er in verschiedenen parlamentarischen Anhörungen vertreten und ist dabei für eine differenzierte Betrachtung der Symbole und Werte verschiedener Glaubensrichtungen eingetreten, aus der die Beschwerdeführerinnen gerade die Gleichheitswidrigkeit der Regelung herleiten15. Hinzu kommt, dass der Richter auch in gerichtlichen Verfahren das Regelungskonzept nachdrücklich verteidigt hat. Das wird durch die Klageerwiderung im Ausgangsverfahren der Beschwerdeführerin zu I.)) und die darin zitierten Ausführungen von Vizepräsident Kirchhof in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren unterstrichen. Ihm kommt damit – über die übliche Mitwirkung in Gesetzgebungsverfahren und das Äußern wissenschaftlicher Meinungen zu einschlägigen Rechtsfragen deutlich hinausgehend – gleichsam eine Art Urheberschaft für das auch hier zu beurteilende Regelungskonzept zu. In den Augen der Beschwerdeführerinnen ist er damit in ganz besonderer Weise der Vertreter der von den Verfassungsbeschwerden bekämpften Regelung und ihrer praktischen Anwendung.
Unter diesen Umständen ist die Besorgnis der Beschwerdeführerinnen nachvollziehbar, der Richter werde die hier zu entscheidenden Rechtsfragen möglicherweise nicht mehr in jeder Hinsicht offen und unbefangen beurteilen16.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. Februar 2014 – 1 BvR 471/10 1 BvR 1181/10
- BVerfGE 108, 282[↩][↩]
- BVerfG – 1 BvR 471/10[↩]
- ArbG Herne, Urteile vom 07.03.3007 – 4 Ca 3415/06; und vom 21.02.2008 – 6 Ca 649/07[↩]
- LAG Hamm, Urteile vom 16.10.2008 – 11 Sa 280/08 und 11 Sa 572/08[↩]
- BAG, Urteil vom 10.12.2009 – 2 AZR 55/09[↩]
- vgl. BVerfGE 47, 105, 108; 72, 278, 288; 78, 331, 336; 82, 30, 35 f.; 109, 130, 131; BVerfG, Beschluss vom 19.03.2013 – 1 BvR 2635/12, NJW 2013, S. 1587, 1588[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 30, 35 ff. m.w.N.[↩]
- LT-Stellungnahme 14/150[↩][↩]
- vgl. dazu § 57 Geschäftsordnung LT NW i.V.m. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Verf NW[↩]
- vgl. BVerfGE 95, 189, 191[↩]
- vgl. BVerfGE 73, 330, 335; 82, 30, 37 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 30, 38 f. m.w.N.[↩]
- vgl. zu diesem Aspekt BVerfGE 82, 30, 39[↩]
- vgl. LTDrucks 14/569 S. 7[↩]
- vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Protokoll der Sachverständigenanhörung vom 12.03.2004, S. 2, 12 f., S. 80, 81 f., 83; siehe auch für Hessen: LT-Ausschussvorlage KPA 16/14, S. 358 ff.[↩]
- vgl. dazu auch BVerfGE 95, 189, 192[↩]