In dem EuGH-Verfahren über zwei Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts zum Daueraufenthaltsrecht für EU-Bürger hat der Generalanwalt beim Gerichtshof der Europäischen Union nun seine Schlußanträge vorgelegt. Nach Ansicht des Generalanwalts sind im Aufnahmemitgliedstaat allein nach nationalem Recht zurückgelegte Aufenthaltszeiten bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer eines Unionsbürgers für die Zwecke des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts in diesem Staat zu berücksichtigen. Solche Aufenthaltszeiten sind auch dann, wenn sie vor dem Beitritt des Herkunftsstaats des Unionsbürgers zur Europäischen Union zurückgelegt wurden, bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts zu berücksichtigen.

Die Richtlinie über die Freizügigkeit von Personen [1] legt fest, wie und unter welchen Voraussetzungen die europäischen Bürger ihr Recht ausüben können, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Sie führt ein System mit drei Ebenen ein, wobei jede Ebene mit der Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zusammenhängt. Zunächst sieht sie vor, dass ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufenthaltsmitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, ohne dass er weitere besondere Bedingungen zu erfüllen braucht. Sodann sieht sie vor, dass der Erwerb eines Rechts auf Aufenthalt von mehr als drei Monaten von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen abhängt. Um ein solches Recht zu erhalten, muss der Unionsbürger u. a. Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat sein oder für sich und seine Familienmitglieder über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie keine Sozialhilfeleistungen dieses Staates in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen müssen über einen umfassenden Versicherungsschutz in dem betreffenden Staat verfügen. Schließlich führt die Richtlinie ein nicht den vorstehenden Voraussetzungen unterliegendes Daueraufenthaltsrecht für Unionsbürger ein, die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.
In den beiden vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Ausgangsfällen ging es um ein Daueraufenthaltsrecht für zwei polnische Staatsangehörige: Herr Ziolkowski und Frau Szeja sind polnische Staatsbürger und reisten vor dem Beitritt Polens zur Union nach Deutschland ein, und zwar 1988 bzw. 1989. Sie erhielten nach deutschem Recht eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Ihre Aufenthaltserlaubnis wurde aus den gleichen Gründen in regelmäßigen Abständen verlängert. Nach dem Beitritt Polens zur Union beantragten sie bei den zuständigen deutschen Behörden ein Daueraufenthaltsrecht. Nachdem dies mit der Begründung abgelehnt worden war, dass sie weder Arbeitnehmer seien noch einen gesicherten Lebensunterhaltung nachweisen könnten, erhoben sie Klage bei den zuständigen deutschen Gerichten.
Das mit dem Rechtsstreit letztinstanzlich befasste Bundesverwaltungsgericht legte daraufhin dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens die Frage vor, ob im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats allein nach nationalem Recht zurückgelegte Aufenthaltszeiten – einschließlich Zeiten vor dem Beitritt Polens zur Union – als Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne des Unionsrechts betrachtet und daher bei der Berechnung der Dauer des Aufenthalts des Unionsbürgers für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts angerechnet werden können.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet dabei nur über diese Rechtsfrage, nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
In seinen jetzt vorgelegten Schlussanträgen weist der Generalanwalt Yves Bot zunächst darauf hin, dass die Vorschriften der Richtlinie über die Freizügigkeit von Personen günstigere nationale Bestimmungen unberührt lassen. Dies gilt insbesondere für ein aus humanitären Gründen bewilligtes Aufenthaltsrecht, bei dem die Mittel der betreffenden Person nicht berücksichtigt werden. Indem die Richtlinie nicht erklärt, dass diese günstigeren nationalen Bestimmungen von der Regelung für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts ausgeschlossen sind, hat sie sie – stillschweigend vielleicht, aber doch zwangsläufig – somit als Teil dieser Regelung anerkannt.
Sodann stellt der Generalanwalt fest, dass die Bestimmungen der Richtlinie nicht eng ausgelegt und keinesfalls ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt werden dürfen. Nach dem Willen des Unionsgesetzgebers soll für die Unionsbürger, die die Voraussetzungen für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts erfüllen, die vollständige Gleichheit mit den nationalen Staatsangehörigen erreicht werden. Er geht von dem Grundsatz aus, dass der Unionsbürger nach einem hinreichend langen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat enge Bindungen entwickelt und sich in die Gesellschaft dieses Staates integriert hat. Es kann nicht bestritten werden, dass dies die Lage ist, die entsteht, wenn sich die Bindungen zwischen dem Einzelnen und dem Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen von Beziehungen der humanitären Solidarität ergeben, was hier der Fall ist.
Der Generalanwalt stellt außerdem klar, dass der Grad der Integration des Unionsbürgers nicht davon abhängt, ob sein Aufenthaltsrecht vom Unionsrecht oder vom nationalen Recht herrührt. Ferner kommt es für den Grad seiner Integration auch nicht auf seine materielle Situation an, da der Aufnahmemitgliedstaat diese Situation während einer längeren Zeit als in der Richtlinie festgelegt (5 Jahre) berücksichtigt und sich ihrer angenommen hat, worin gerade seine Integration zum Ausdruck gekommen ist.
Schließlich führt Herr Bot aus, dass die Richtlinie über die Freizügigkeit von Personen Bestimmungen aufstellt, die für die Mitgliedstaaten zwingend sind und die dazu führen, dass diese sich der Anerkennung des Daueraufenthaltsrechts nicht widersetzen können, wenn die Bestimmungen erfüllt sind. Gleichzeitig und unter Berücksichtigung ihres Zieles hindert die Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht daran, eigene, günstigere Bestimmungen vorzusehen, die geeignet sind, den Prozess der Integration und des sozialen Zusammenhangs zu beschleunigen.
Folglich schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, die Richtlinie dahin auszulegen, dass im Aufnahmemitgliedstaat allein nach nationalem Recht zurückgelegte Aufenthaltszeiten bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer eines Unionsbürgers für die Zwecke des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts in diesem Staat zu berücksichtigen sind.
Schließlich wird der Gerichtshof der Europäischen Union ersucht, zu antworten, dass solche Aufenthaltszeiten auch dann, wenn der europäische Bürger sie vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur Union zurückgelegt hat, bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts zu berücksichtigen sind.
Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof der Europäischen Union nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge des Generalanwalts vom 14. September 2011 – C‑424/10 [Ziolkowski] und C‑425/10 [Szeja u. a.]
- Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, und – Berichtigungen – ABl. L 229, S. 35, und ABl. 2005, L 197, S. 34).[↩]