Nach der Sicherungsverwahrung bemängelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg nun die in den Polizeigesetzen der deutschen Bundesländer enthaltenen Regelungen zum Polizeigewahrsam. So liegt nach Ansicht des EGMR die fünftägige Ingewahrsamnahme zweier junger Männer während des G8-Gipfels in Heiligendamm ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte in dem Verfahren zweier Deutscher einstimmig fest, dass eine Verletzung von Artikel 5 § 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und eine Verletzung von Artikel 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) vorlag. In dem hier vorliegenden Fall sind im Juni 2007 zweier junger Männer für mehr als fünf Tage in Gewahrsam genommen worden. Damit wurden sie daran hinderte, an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Heiligendamm nahe Rostock teilzunehmen.
Inhaltsübersicht
Ausgangssachverhalt[↑]
Die Beschwerdeführer, Sven Schwabe und M.G., sind deutsche Staatsangehörige, 1985 geboren, und leben in Bad Bevensen bzw. Berlin. Beide reisten im Juni 2007 nach Rostock, um an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen. Am Abend des 3. Juni führte die Polizei eine Personenkontrolle auf einem Parkplatz vor einer Justizvollzugsanstalt durch, wo sich die Beschwerdeführer in Begleitung von sieben weiteren Personen neben einem Transporter aufhielten. Nach Angaben der Polizei wehrte sich einer der Beschwerdeführer körperlich gegen die Personenkontrolle. In dem Transporter stellte die Polizei Transparente mit der Aufschrift „freedom for all prisoners“ und „free all now“ sicher. Die Beschwerdeführer wurden festgenommen. Am frühen Morgen des 4. Juni 2007 ordnete das Amtsgericht Rostock die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer bis spätestens zum 9. Juni mittags an. Es berief sich auf das Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg- Vorpommern und befand, dass die Ingewahrsamnahme rechtmäßig sei, um der Begehung einer Straftat vorzubeugen. Da in dem Transporter Transparente gefunden worden seien, die zur Befreiung von Häftlingen aufriefen, sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer im Begriff gewesen seien, eine Straftat zu begehen oder Beihilfe zur Begehung einer Straftat zu leisten. Am selben Tag wies das Landgericht Rostock die Berufung der Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung zurück. Das Gericht zog aus der Aufschrift der Transparente die Schlussfolgerung, dass die Beschwerdeführer andere zur Befreiung von Häftlingen aufgefordert hätten, was eine Straftat darstelle. Die anschließend eingelegte Berufung der Beschwerdeführer – mit dem Argument, die Parolen hätten sich an die Polizei gerichtet und diese aufgefordert, die zahlreichen Fest- und Ingewahrsamnahmen von Demonstranten zu beenden, und seien nicht als Aufruf an andere zu verstehen gewesen, Häftlinge mit Gewalt zu befreien – wurde vom Oberlandesgericht Rostock am 7. Juni zurückgewiesen. Das Gericht war der Auffassung, dass die Parolen zwar unterschiedlich ausgelegt werden könnten, die Polizei angesichts der Sicherheitslage in Rostock im Vorfeld des G8-Gipfels aber befugt gewesen sei, mehrdeutige Erklärungen zu unterbinden, die zu einem Sicherheitsrisiko führten. Die Annahme der Polizei, die Beschwerdeführer beabsichtigten, nach Rostock zu fahren und die Transparente bei den dortigen teilweise gewalttätigen Demonstrationen zu zeigen, sei berechtigt gewesen.
Während ihres Gewahrsams legten die Beschwerdeführer auch Verfassungsbeschwerde ein und beantragten ihre sofortige Freilassung durch Erlass einer einstweiligen Anordnung. Am 8. Juni 2007 informierte sie das Bundesverfassungsgericht, dass nicht beabsichtigt sei, eine Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung herbeizuführen. Am 9. Juni mittags wurden die Beschwerdeführer entlassen. Am 6. August 2007 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, ihre Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung anzunehmen. Ein gegen die Beschwerdeführer eingeleitetes Strafverfahren wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte wurde später eingestellt. Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs Die Beschwerdeführer rügten ihre fünfeinhalbtägige Ingewahrsamnahme. Sie machten einen Verstoß gegen Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) und Artikel 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) geltend.
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte[↑]
In dem Verfahren vor dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ging es um eine Verletzung von Artikel 5 § 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und eine Verletzung von Artikel 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit).
Zu Recht, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun befand:
Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit gemäß Artikel 5 § 1 EMRK[↑]
Unter Berücksichtigung des Vortrags der deutschen Bundesregierung untersuchte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zunächst, ob die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer nach Artikel 5 § 1 © EMRK gerechtfertigt war als „Freiheitsentziehung, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig (war), sie an der Begehung einer Straftat zu hindern“. Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass die deutschen Gerichte unterschiedlicher Auffassung gewesen waren, welche Straftat die Beschwerdeführer im Begriff gewesen seien zu begehen. Während das Amtsgericht und das Landgericht geschlussfolgert hatten, sie hätten geplant, andere anzustiften, Häftlinge der Justizvollzugsanstalt, vor der die Beschwerdeführer festgenommen wurden, gewaltsam zu befreien, hatte das Oberlandesgericht die Auffassung vertreten, sie hätten beabsichtigt, nach Rostock zu fahren und die Demonstranten dort durch das Tragen der Transparente zu Straftaten anzustiften.
Die Beschwerdeführer blieben fünfeinhalb Tage lang, somit für einen erheblichen Zeitraum, in Gewahrsam. Zudem konnten die Parolen auf den Transparenten, wie das Oberlandesgericht anerkannt hatte, unterschiedlich aufgefasst werden. Es war unumstritten, dass die Beschwerdeführer keinerlei Werkzeuge mit sich geführt hatten, die zur gewaltsamen Befreiung von Häftlingen hätten dienen können. Der Gerichtshof war folglich nicht davon überzeugt, dass begründeter Anlass zu der Annahme bestand, dass ihr fortwährender Gewahrsam notwendig war, um sie an der Begehung einer hinreichend konkreten und spezifischen Straftat zu hindern. Weiter war der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass der Gewahrsam überhaupt notwendig war, angesichts der Tatsache, dass es genügt hätte, die Transparente zu beschlagnahmen, um die Beschwerdeführer daran zu hindern, andere zur Befreiung von Gefangenen anzustiften. Die Bundesregierung hatte weiter argumentiert, der Gewahrsam sei notwendig gewesen, da die Beschwerdeführer einer Anordnung, sich regelmäßig bei der Polizei an ihren jeweiligen Wohnorten zu melden und das Gebiet, in dem die G8-Demonstrationen stattfinden sollten, nicht zu betreten, vermutlich nicht Folge geleistet hätten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies dagegen darauf hin, dass die Polizei keine solche Anordnung getroffen hatte. Die Pflicht, keine Straftat zu begehen, kann darüber hinaus nicht als hinreichend konkret und spezifisch gelten, um nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als „gesetzliche Verpflichtung“ im Sinne von Artikel 5 § 1 (b) EMRK zu gelten und somit den Gewahrsam der Beschwerdeführer zu rechtfertigen.
Die deutschen Gerichte hatten die Beschwerdeführer keiner Straftat für schuldig befunden, sondern sie hatten ihren Gewahrsam angeordnet, um der Begehung einer möglichen künftigen Straftat vorzubeugen. Zwar verpflichtet die Konvention Staaten, angemessene Schritte zu unternehmen, um Strafaten vorzubeugen, die den Behörden bekannt sind oder bekannt sein sollten. Sie lässt es aber nicht zu, dass Staaten Einzelpersonen vor Straftaten einer Person schützen, indem sie Maßnahmen ergreifen, die selbst gegen die Konventionsrechte dieser Person verstoßen. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 5 § 1 EMRK vor.
Verletzung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gemäß Artikel 11 EMRK[↑]
Die Beschwerde nach Artikel 10 und 11 EMRK bezog sich im Wesentlichen auf das Recht der Beschwerdeführer auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Der Gerichtshof entschied daher, diesen Teil der Beschwerde nur im Hinblick auf Artikel 11 EMRK zu prüfen. Es war zwischen den Parteien unumstritten, dass der Gewahrsam der Beschwerdeführer einen Eingriff in ihre Versammlungsfreiheit dargestellt hatte, da er sie daran hinderte, an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vertrat die Auffassung, dass die Absicht der Behörden, die Beschwerdeführer von der Begehung einer Straftat abzuhalten, für sich genommen einen legitimen Zweck darstellte. Weiter erkannte er an, dass es eine erhebliche Herausforderung für die Behörden bedeutete, angesichts von 25.000 erwarteten Demonstranten, einschließlich einer erheblichen Anzahl gewaltbereiter Personen, die Sicherheit der Gipfelteilnehmer zu gewährleisten und die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Wie der Gerichtshof im Hinblick auf Artikel 5 festgestellt hatte, stand allerdings nicht fest, dass die Beschwerdeführer mit dem Tragen der Transparente tatsächlich geplant hatten, andere, gewaltbereite, Demonstranten bewusst zur Freilassung von Gefangenen anzustiften.
Darüber hinaus war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Auffassung, dass die Beschwerdeführer durch ihre Teilnahme an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel beabsichtigt hatten, an einer Diskussion über Fragen von öffentlichem Interesse, nämlich über die Auswirkungen der Globalisierung auf das Leben der Menschen, teilzunehmen. Durch das Tragen der Parolen auf ihren Transparenten hatten sie beabsichtigt, das Sicherheitsmanagement der Polizei, insbesondere die hohe Zahl der Festnahmen, zu kritisieren. Ein mehrtägiger Freiheitsentzug für den Versuch, diese Transparente zu tragen, hatte eine abschreckende Wirkung für die Äußerung einer solchen Meinung und schränkte die öffentliche Diskussion zu diesem Thema ein. Der Gerichtshof zog daraus den Schluss, dass kein angemessener Ausgleich herbeigeführt worden war zwischen dem Ziel, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und Straftaten vorzubeugen einerseits und dem Interesse der Beschwerdeführer an Versammlungsfreiheit andererseits. Schließlich war der Gerichtshof nicht überzeugt davon, dass es nicht auch andere, weniger einschneidende, Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels auf verhältnismäßige Weise gegeben hätte, wie etwa die Beschlagnahme der Transparente. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 11 EMRK vor.
Gerechte Entschädigung gemäß Artikel 41 EMRK[↑]
Gemäß Artikel 41 EMRK (gerechte Entschädigung) entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Deutschland den Beschwerdeführern jeweils 3.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden sowie Herrn Schwabe 4.233,35 Euro und Herrn G. 4.453,15 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 1. Dezember 2011 – 8080/08 und 8577/08 [Schwabe und M.G. gegen Deutschland]