Der Bundestag – und seine verhinderten rechten Ausschussvorsitzenden

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, der darauf gerichtet war, die von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig als Vorsitzende mehrerer Ausschüsse im Deutschen Bundestag einzusetzen.

Der Bundestag – und seine verhinderten rechten Ausschussvorsitzenden

Der Ausgangssachverhalt

Die AfD-Fraktion wendet sich in der Hauptsache im Wege des Organstreits gegen die Durchführung von Wahlen zur Bestimmung der Vorsitzenden der Ausschüsse für Inneres und Heimat (im Folgenden: Innenausschuss), Gesundheit sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im Folgenden: Entwicklungsausschuss) im Deutschen Bundestag, bei denen die von ihr vorgeschlagenen Kandidaten jeweils nicht die erforderliche Mehrheit erreicht haben. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt sie, die von ihr benannten Kandidaten vorläufig als Ausschussvorsitzende einzusetzen.

 Nachdem sich die Fraktionen des 20. Deutschen Bundestages zu Beginn der Wahlperiode im Ältestenrat nicht auf die Verteilung der Ausschussvorsitze verständigen konnten, wurden diese unter den Fraktionen im sogenannten Zugriffsverfahren verteilt. Die AfD-Fraktion griff im Rahmen dieses Verfahrens auf die Vorsitze des Innenausschusses, des Gesundheitsausschusses und des Entwicklungsausschusses zu. In den konstituierenden Sitzungen dieser drei Ausschüsse am 15.12.2021 benannte die AfD-Fraktion als Kandidaten für die Ausschussvorsitze den Abgeordneten Hess im Innenausschuss, den Abgeordneten Schneider im Gesundheitsausschuss sowie den Abgeordneten Friedhoff im Entwicklungsausschuss. Auf Antrag der Regierungsfraktionen wurden daraufhin in den drei Ausschüssen geheime Wahlen zur Bestimmung der Ausschussvorsitzenden durchgeführt; bei diesen Wahlen erhielt keiner der von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten die erforderliche Mehrheit.#

  • In der Sitzung des Innenausschusses am 12.01.2022 verfehlte der von der AfD-Fraktion benannte Kandidat, der Abgeordnete Hess, bei einer erneuten geheimen Wahl wiederum die erforderliche Mehrheit; im Anschluss wählte der Innenausschuss einen Abgeordneten der SPD-Fraktion zum stellvertretenden Vorsitzenden.
  • Im Gesundheitsausschuss erzielte der von der AfD-Fraktion benannte Kandidat, der Abgeordnete Schneider, bei der erneut durchgeführten geheimen Wahl am 12.01.2022 ebenfalls keine Mehrheit; daneben wählte der Ausschuss eine Abgeordnete der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur stellvertretenden Vorsitzenden.
  • Auch bei der Wahl im Entwicklungsausschuss am 12.01.2022 erreichte der von der AfD-Fraktion benannte Kandidat, der Abgeordnete Friedhoff, abermals keine Mehrheit. Zudem wählte der Ausschuss einen Abgeordneten der FDP-Fraktion zum stellvertretenden Vorsitzenden.

Die Vorsitze der drei betroffenen Ausschüsse wurden bisher noch nicht besetzt. Aktuell werden die Ausschüsse von den stellvertretenden Vorsitzenden geleitet.

Der Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

Die AfD-Fraktion wendet sich in der Hauptsache im Wege des Organstreits gegen die Durchführung von Wahlen zur Bestimmung der Vorsitzenden der betroffenen Ausschüsse. Im Wege der einstweiligen Anordnung begehrt die AfD-Fraktion, die von ihr benannten Kandidaten vorläufig als Ausschussvorsitzende einzusetzen. Durch die „Veranstaltung einer ungebundenen Mehrheitswahl“ zur Besetzung der ihr zustehenden Ausschussvorsitze sieht sie sich in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Gleichbehandlung und auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) sowie in einem aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art.20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG, folgenden Recht auf effektive Opposition verletzt.

Zulässigkeit des Antrags

Der Antrag ist zulässig.

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Parlamentarische Oppositionsrechte

Gegenstand eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren kann allein die vorläufige Sicherung des streitigen organschaftlichen Rechts eines Antragstellers sein, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch die Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt wird1.

Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist regelmäßig unzulässig, wenn das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Rechtsfolge im Verfahren der Hauptsache nicht bewirken könnte2. Demgemäß kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreit, welche die Verpflichtung des Antragsgegners zu einem bestimmten Verhalten zum Gegenstand hat, grundsätzlich nicht in Betracht3. Dies gilt auch, soweit der Antragsteller eine Anordnung mit rechtsgestaltender Wirkung begehrt4.

Gleichwohl kann eine solche rechtsgestaltende Wirkung im Wege der einstweiligen Anordnung zur Vermeidung der Schaffung vollendeter Tatsachen ausnahmsweise zulässig sein. Andernfalls könnte die einstweilige Anordnung, der immanent ist, dass sie einen Zustand vorläufig regelt (§ 32 Abs. 1 BVerfGG), ihre Funktion nicht erfüllen5.

Nach diesen Maßstäben ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig.

Die AfD-Fraktion beantragt in der Hauptsache die Feststellung einer Verletzung organschaftlicher Rechte im Sinne des § 67 Satz 1 BVerfGG und mit ihrem Eilantrag die Einsetzung der von ihr benannten Ausschussvorsitzenden durch das Bundesverfassungsgericht. Dieser Eilantrag ist zwar auf eine rechtsgestaltende Wirkung gerichtet. Das steht dem Erlass einer einstweiligen Anordnung jedoch nicht im Wege, weil eine vorläufige Regelung des hier streitgegenständlichen Zustands andernfalls nicht möglich wäre.

Mit ihrem Eilantrag begehrt die AfD-Fraktion auch keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache. Ihr Eilantrag zielt auf eine vorläufige Einsetzung der von ihr benannten Ausschussvorsitzenden ab, das heißt sinngemäß auf eine entsprechende Regelung bis zur Entscheidung in der Hauptsache. Durch den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung würde keine unumkehrbare Rechtsposition geschaffen6. Sollte dem Antrag in der Hauptsache der Erfolg zu versagen sein, entfielen die Rechtswirkungen einer einstweiligen Anordnung mit der Entscheidung über den Hauptantrag.

Keine einstweilige Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittra- genden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen7. Die Gründe müssen so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen8. Im Organstreitverfahren ist dabei zu berücksichtigen, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung der Sache nach einen Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in die Autonomie eines anderen Verfassungsorgans bedeutet9.

Bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiesen sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet10. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn einerseits eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, und andererseits die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre11.

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Korrespondenz eines Strafgefangenen mit einer Bundestagsfraktion

Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg. Der Antrag in der Hauptsache ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die Folgenabwägung fällt jedoch zulasten der AfD-Fraktion aus.

Die AfD-Fraktion benennt mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG eine rügefähige Position, deren Verletzung im Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit § 64 Abs. 1 BVerfGG festgestellt werden kann12. Die AfD-Fraktion und die Antragsgegner – Deutscher Bundestag, die Präsidentin und das Präsidium des Deutschen Bundestages sowie die drei Bundestagsausschüsse – sind gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit § 63 BVerfGG parteifähig. Es handelt sich bei der beanstandeten Durchführung von Wahlen zur Besetzung der Ausschussvorsitze um einen tauglichen Verfahrensgegenstand im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG13. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren muss nicht entschieden werden, inwieweit alle Antragsgegner passiv legitimiert sind, also die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung verursacht haben und rechtlich verantworten müssen14. Dies ist jedenfalls bei den drei Bundestagsausschüssen der Fall.

Die AfD-Fraktion hat ihren Hauptantrag nur etwas über zwei Wochen nach Durchführung der ersten Wahlen in den betroffenen Ausschüssen und damit innerhalb der sechsmonatigen Ausschlussfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Auch bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen das Rechtsschutzbedürfnis. Es ist nicht absehbar, dass die betroffenen Ausschüsse die von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten in einem erneuten Wahlgang zu ihren Vorsitzenden wählen werden oder eine Befassung des Ältestenrats zu der von ihr begehrten Besetzung der Ausschussvorsitze führen wird. Der Konflikt über die Verfassungsrechtslage, dessen Bereinigung die AfD-Fraktion mit diesem Organstreitverfahren begehrt, liegt für alle Verfahrensbeteiligten offen zutage15. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie das Plenum haben sich nach § 127 GO-BT in der letzten Legislaturperiode anlässlich der Abwahl des Vorsitzenden des Rechtsausschusses am 13.11.2019 mit der Auslegung von § 58 GO-BT befasst und die Möglichkeit einer Abwahl des Ausschussvorsitzenden durch den Ausschuss als actus contrarius zur Bestimmung desselben, jeweils gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, bestätigt16.

Eine Verletzung der von der AfD-Fraktion geltend gemachten organschaftlichen Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erscheint nicht von vornherein völlig ausgeschlossen.

Die AfD-Fraktion ist als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung – ebenso wie der Status der Abgeordneten – aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten ist. Die Fraktionen im Deutschen Bundestag haben ein aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG folgendes Recht auf gleiche Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung. Ihr Mitwirkungs- und Teilhabeanspruch erstreckt sich nicht nur auf die Tätigkeit des Parlaments als Organ der Gesetzgebung sowie der Kontrolle der Regierung und damit auf den Bereich der politisch-parlamentarischen Willensbildung im engeren Sinn. Vielmehr umfasst die gleiche Mitwirkungsbefugnis der Abgeordneten und daraus abgeleitet der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auch Entscheidungen über die innere Organisation und die Arbeitsabläufe des Deutschen Bundestages einschließlich der Festlegung und Besetzung von Untergliederungen und Leitungsämtern17.

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Das in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusammenschlüsse kommt daher dem Grundsatz nach auch beim Zugang zu einem Leitungsamt wie dem Ausschussvorsitz in Betracht. Gemäß § 12 GO-BT, nach dem die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen ist, stehen der AfD-Fraktion drei Vorsitzendenpositionen auch grundsätzlich zu18. Insofern scheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG der AfD-Fraktion – gegebenenfalls unter Rückgriff auf den von ihr ebenfalls angeführten Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung – ein verfassungsrechtliches Mitwirkungsrecht verleiht, das durch die Vorenthaltung der Ausschussvorsitze als Folge der Durchführung freier Mehrheitswahlen beeinträchtigt sein könnte.

Gemäß § 58 GO-BT bestimmen die Ausschüsse ihre Vorsitzenden. In den vergangenen Legislaturperioden ging die Handhabung im Deutschen Bundestag regelmäßig dahin, der vorschlagsberechtigten Fraktion faktisch ein Benennungsrecht für den Ausschussvorsitz einzuräumen. Nur ausnahmsweise, im Fall eines Widerspruchs gegen den Personalvorschlag, wurde eine Wahl durchgeführt. In der laufenden 20. Legislaturperiode wurden die Ausschussvorsitze demgegenüber ganz überwiegend durch Wahlen bestimmt, wobei mit Ausnahme der Kandidaten der AfD-Fraktion die Vorschläge aller Fraktionen für die jeweiligen Ausschussvorsitze die erforderliche Mehrheit erhielten.

Im Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob § 58 GO-BT eine freie Wahl der Ausschussvorsitze zulässt, ob hiermit eine Beeinträchtigung von Rechtspositionen der AfD-Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verbunden sein kann und ob eine solche im Hinblick auf den Zweck der Wahl zulässig wäre. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr darauf an, ob vorliegend darüber hinaus eine Verletzung der behaupteten Rechte der AfD-Fraktion auf effektive Opposition sowie auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung in Betracht kommt.

Die wegen des offenen Verfahrensausgangs zu treffende Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags.

Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Durchführung freier Wahlen für das Amt des Ausschussvorsitzes jedoch als verfassungswidrig, würden die drei derzeit vakanten, nach der Geschäftsordnung der AfD-Fraktion zustehenden Ausschussvorsitze bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens voraussichtlich nicht mit den von ihr benannten Kandidaten besetzt. Wenn das Bundesverfassungsgericht im Hauptsacheverfahren gemäß § 67 Satz 1 BVerfGG einen Verfassungsverstoß feststellen sollte, obläge es sodann den Antragsgegnern, den festgestellten verfassungswidrigen Zustand zu beenden19.

Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass die AfD-Fraktion durch die einstweilige Vorenthaltung der Ausschussvorsitze daran gehindert wäre, an der politisch-parlamentarischen Willensbildung im engeren Sinn in den betroffenen Ausschüssen mitzuwirken. Nach den Vorschriften der Geschäftsordnung sind mit dem Amt des Ausschussvorsitzes insbesondere Geschäftsleitungs- und Organisationsbefugnisse verbunden, die durch weitgehende Kontroll- und Korrekturrechte der Ausschussmitglieder begrenzt sind (vgl. §§ 59 bis 61 GO-BT). Auch ohne dieses Funktionsamt mit entsprechend eingeschränktem Handlungsspielraum kann die AfD-Fraktion durch ihre Mitglieder in den drei betroffenen Ausschüssen ihr Recht auf Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Deutschen Bundestages in vollem Umfang wahrnehmen. Eigenständige parlamentarische Kontrollrechte sind mit dem Ausschussvorsitz nicht verbunden.

Daher fehlen auch jegliche Anhaltspunkte dafür, dass die beanstandeten Vorgänge eine Verletzung fundamentaler Verfassungsgrundsätze zur Folge haben könnten, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen schweren Nachteil im Sinne von § 32 Abs. 1 BVerfGG bedeuten würde20.

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Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Nichtwahl der von der AfD-Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten für den Aus-schussvorsitz als verfassungsgemäß, würden die drei betroffenen Ausschüsse bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens jeweils von einer Person geleitet, die das Vertrauen der Ausschussmehrheit offensichtlich nicht besitzt. Das gefährdete die Arbeitsfähigkeit dieser Ausschüsse21. Das fehlende Vertrauen des jeweiligen Ausschusses in den Vorsitz kann eine erhebliche Einschränkung der Effizienz der Ausschussarbeit zur Folge haben, nicht zuletzt durch die sich aus der Geschäftsordnung ergebenden Möglichkeiten der Ausschussmehrheit, Leitungshandlungen des Vorsitzenden zu konterkarieren. Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich eine solche Beeinträchtigung der Arbeit der betroffenen Ausschüsse wegen ihrer unverzichtbaren Vorarbeit für das Plenum auch auf die Funktionsfähigkeit des Bundestages insgesamt auswirken könnte.

Zudem griffe der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung in Form der vorläufigen Einsetzung von Ausschussvorsitzenden durch das Bundesverfassungsgericht schwerwiegend in die von Art. 40 Abs. 1 GG garantierte Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages ein. Hierzu ist das Bundesverfassungsgericht im Eilverfahren nur unter strengen Voraussetzungen befugt.

Schließlich beeinträchtigte das Einsetzen der von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten als Ausschussvorsitzende das durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte freie Mandat der Mehrheit der Ausschussmitglieder. Das freie Mandat der Abgeordneten manifestiert sich auch durch ihr Recht auf Beteiligung an den im Parlament stattfindenden Abstimmungen22. Die begehrte einstweilige Anordnung widerspräche dem im Wahlergebnis zum Ausdruck gekommenen Mehrheitswillen des jeweiligen Ausschusses.

Nach alledem liegen aufseiten der AfD-Fraktion keine überwiegenden Umstände vor, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung als dringend geboten erscheinen lassen.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatte vor dem Bundesverfassungsgericht in der Sache keinen Erfolg:

Zwar ist der Antrag in der Hauptsache weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere erscheint eine Verletzung der von der AfD-Fraktion geltend gemachten organschaftlichen Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht von vornherein völlig ausgeschlossen.

Die AfD-Fraktion ist als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung sich – ebenso wie der Status der Abgeordneten – aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ableitet. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusammenschlüsse auch den Zugang zu einem Leitungsamt wie dem Ausschussvorsitz erfasst. Gemäß § 12 GO-BT, nach dem die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen ist, stehen der AfD-Fraktion drei Vorsitzendenpositionen auch grundsätzlich zu.

Im Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob § 58 GO-BT, wonach die Ausschüsse ihre Vorsitzenden bestimmen, eine freie Wahl der Ausschussvorsitze zulässt, ob hiermit eine Beeinträchtigung von Rechtspositionen der AfD-Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verbunden sein kann und ob eine solche im Hinblick auf den Zweck der Wahl zulässig wäre. Vor diesem Hintergrund kommt es an dieser Stelle nicht mehr darauf an, ob darüber hinaus auch eine Verletzung der behaupteten Rechte der AfD-Fraktion auf effektive Opposition sowie auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung in Betracht kommt.

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Organstreitverfahren um den Bundestagsvizepräsidenten - und keine einstweilige Anordnung

Die wegen des offenen Verfahrensausgangs zu treffende Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags.

Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Durchführung freier Wahlen für das Amt des Ausschussvorsitzes jedoch als verfassungswidrig, würden die drei derzeit vakanten, nach der Geschäftsordnung der AfD-Fraktion zustehenden Ausschussvorsitze bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens voraussichtlich nicht mit den von ihr benannten Kandidaten besetzt.

Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass die AfD-Fraktion durch die einstweilige Vorenthaltung der Ausschussvorsitze daran gehindert wäre, an der politisch-parlamentarischen Willensbildung im engeren Sinn in den betroffenen Ausschüssen mitzuwirken. Nach den Vorschriften der Geschäftsordnung sind mit dem Amt des Ausschussvorsitzes insbesondere Geschäftsleitungs- und Organisationsbefugnisse verbunden, die durch weitgehende Kontroll- und Korrekturrechte der Ausschussmitglieder begrenzt sind (vgl. §§ 59 – 61 GO-BT). Auch ohne dieses Funktionsamt mit entsprechend eingeschränktem Handlungsspielraum kann die AfD-Fraktion durch ihre Mitglieder in den drei betroffenen Ausschüssen ihr Recht auf Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Deutschen Bundestages in vollem Umfang wahrnehmen. Eigenständige parlamentarische Kontrollrechte sind mit dem Ausschussvorsitz nicht verbunden.

Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Nichtwahl der von der AfD-Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten für den Ausschussvorsitz als verfassungsgemäß, würden die drei betroffenen Ausschüsse bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens jeweils von einer Person geleitet, die das Vertrauen der Ausschussmehrheit offensichtlich nicht besitzt. Das könnte die Arbeitsfähigkeit dieser Ausschüsse gefährden, weil das fehlende Vertrauen des jeweiligen Ausschusses in den Vorsitz eine erhebliche Einschränkung der Ausschussarbeit zur Folge haben kann, nicht zuletzt durch die sich aus der Geschäftsordnung ergebenden Möglichkeiten der Ausschussmehrheit, Leitungshandlungen des Vorsitzenden zu konterkarieren. Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich eine solche Beeinträchtigung der Arbeit der betroffenen Ausschüsse wegen ihrer unverzichtbaren Vorarbeit für das Plenum auch auf die Funktionsfähigkeit des Bundestages insgesamt auswirken kann.

Zudem griffe eine vorläufige Einsetzung von Ausschussvorsitzenden durch das Bundesverfassungsgericht schwerwiegend in die von Art. 40 Abs. 1 GG garantierte Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages ein. Hierzu ist das Bundesverfassungsgericht im Eilverfahren nur unter sehr strengen Voraussetzungen befugt.

Schließlich beeinträchtigte die Einsetzung der von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten als Ausschussvorsitzende das durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte freie Mandat der Mehrheit der Ausschussmitglieder, das auch ihr Recht auf Beteiligung an den im Parlament stattfindenden Abstimmungen umfasst. Die begehrte einstweilige Anordnung widerspräche damit dem im Wahlergebnis zum Ausdruck gekommenen Mehrheitswillen des jeweiligen Ausschusses.

Nach alledem liegen aufseiten der AfD-Fraktion keine überwiegenden Umstände vor, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung als dringend geboten erscheinen lassen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. Mai 2022 – 2 BvE 10/21

  1. vgl. BVerfGE 89, 38 <44> 96, 223 <229> 98, 139 <144> 108, 34 <41> 118, 111 <122> 145, 348 <356 f. Rn. 29> 151, 58 <65 Rn. 15> 154, 1 <9 Rn. 23> 155, 357 <375 Rn. 40> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn. 24; Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 9/20, Rn. 26[]
  2. vgl. BVerfGE 7, 99 <105> 14, 192 <193> 16, 220 <226> 151, 58 <64 Rn. 13> 154, 1 <9 Rn. 22> 155, 357 <374 Rn. 38> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn. 22; Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 9/20, Rn. 24[]
  3. vgl. BVerfGE 151, 58 <64 Rn. 13> 155, 357 <374 Rn. 38> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn. 22; Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 9/20, Rn. 24[]
  4. vgl. BVerfGE 136, 277 <301 Rn. 64 m.w.N.> auch mit Verweis auf eine Sonderkonstellation BVerfGE 112, 118 <147 f.>[]
  5. vgl. BVerfGE 154, 1 <9 Rn. 22 m.w.N.> auch mit Verweis auf BVerfGE 140, 225[]
  6. vgl. BVerfGE 154, 1 <9 f. Rn. 23>[]
  7. vgl. BVerfGE 55, 1 <3> 82, 310 <312> 94, 166 <216 f.> 104, 23 <27> 106, 51 <58> 132, 195 <232 Rn. 86> 150, 163 <166 Rn. 10> 151, 58 <63 Rn. 11> 154, 1 <10 Rn. 25> 155, 357 <373 Rn. 37> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn. 18; Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 9/20, Rn. 23; Beschluss vom 26.01.2022 – 2 BvE 1/22, Rn. 30; Beschluss vom 08.03.2022 – 2 BvE 1/22, Rn. 40; stRspr[]
  8. vgl. BVerfGE 151, 152 <161 Rn. 24> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn. 18; Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 9/20, Rn. 23; Beschluss vom 26.01.2022 – 2 BvE 1/22, Rn. 30; Beschluss vom 08.03.2022 – 2 BvE 1/22, Rn. 40; stRspr[]
  9. vgl. BVerfGE 106, 253 <261> 108, 34 <41> 118, 111 <122> 145, 348 <356 f. Rn. 29> 150, 163 <166 Rn. 10> 154, 1 <10 Rn. 25> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn. 18; Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 9/20, Rn. 23; Beschluss vom 26.01.2022 – 2 BvE 1/22, Rn. 31; Beschluss vom 08.03.2022 – 2 BvE 1/22, Rn. 41[]
  10. vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.> 98, 139 <144> 103, 41 <42> 108, 34 <41> 118, 111 <122> 150, 163 <166 Rn. 9> 151, 58 <63 Rn. 11> 154, 1 <10 Rn. 25> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn.20; stRspr[]
  11. vgl. BVerfGE 105, 365 <371> 106, 351 <355> 108, 238 <246> 125, 385 <393> 126, 158 <168> 129, 284 <298> 132, 195 <232 f. Rn. 87> 140, 225 <226 f. Rn. 7> 151, 58 <63 Rn. 11> 154, 1 <10 Rn. 25> BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 – 2 BvE 2/20, Rn.20; stRspr[]
  12. vgl. BVerfGE 154, 1 <11 Rn. 28 m.w.N.>[]
  13. vgl. BVerfGE 140, 115 <141 f. Rn. 65> 154, 1 <12 Rn. 28>[]
  14. vgl. BVerfGE 140, 115 <140 Rn. 61 m.w.N.>[]
  15. vgl. BVerfGE 129, 356 <375> 147, 31 <37 f. Rn.19> 152, 35 <47 Rn. 31>[]
  16. vgl. BT-Drs.19/15076, S. 2 sowie Plenarprotokoll 19/137 zur 137. Sitzung des Deutschen Bundestages am 19.12.2019, S. 17108[]
  17. vgl. BVerfG, Urteil vom 22.03.2022 – 2 BvE 2/20, Rn. 49, 51; Beschluss vom 22.03.2022 – 2 BvE 9/20, Rn. 28[]
  18. vgl. auch BVerfGE 154, 1 <12 f. Rn. 29>[]
  19. vgl. BVerfGE 151, 58 <64 Rn. 14> 154, 1 <15 Rn. 34>[]
  20. vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.03.2022 – 2 BvE 1/22, Rn. 42 m.w.N.[]
  21. vgl. BVerfGE 154, 1 <16 f. Rn. 36>[]
  22. vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.03.2022 – 2 BvE 9/20, Rn. 32[]
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Verfassungsbeschwerde - und die Prozesskostenhilfe

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