Vor dem Bundesverfassungsgericht blieb die Verfassungsbeschwerde einer Disco-Club-Betreiberin gegen eine Regelung des Infektionsschutzgesetzes zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ohne Erfolg.
Das Bundesverfassungsgericht nahm Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an; ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG läge nicht vor, denn die Verfassungsbeschwerde sei bereits unzulässig, weil ihr der Grundsatz der Subsidiarität entgegenstehe und weil die Disco-Club-Betreiberin auch nicht beschwerdebefugt sei:
Auch vor der Erhebung von Rechtssatzverfassungsbeschwerden sind nach dem Grundsatz der Subsidiarität grundsätzlich alle Mittel zu ergreifen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können. Unmittelbar gegen Gesetze steht der fachgerichtliche Rechtsweg in der Regel nicht offen. Die Anforderungen der Subsidiarität beschränken sich jedoch nicht darauf, nur die zur Erreichung des unmittelbaren Prozessziels förmlich eröffneten Rechtsmittel zu ergreifen, sondern verlangen, alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Damit soll erreicht werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen treffen muss, sondern zunächst die für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts primär zuständigen Fachgerichte die Sach- und Rechtslage vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts aufgearbeitet haben. Das ist selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn die Vorschriften abschließend gefasst sind und die fachgerichtliche Prüfung für den Beschwerdeführer günstigstenfalls dazu führen kann, dass das angegriffene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird1. Das dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes – jedenfalls im Hauptsacheverfahren – erst nach deren Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht ziehen darf. Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes würde den Eintritt von Nachteilen während der Durchführung des Hauptsacheverfahrens verhindern. Selbst wenn den Beschwerdeführern vorläufiger Rechtsschutz versagt werden sollte, wäre dieses Verfahren jedenfalls bereits zur Vorklärung der offenen tatsächlichen und einfachrechtlichen Fragen geeignet2. Die Disco-Club-Betreiberin hat keinerlei fachgerichtlichen Rechtschutz gesucht.
Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG zudem die Behauptung des Beschwerdeführers voraus, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein (Beschwerdebefugnis). Um beschwerdebefugt zu sein, muss ein Beschwerdeführer behaupten können, selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem seiner Grundrechte oder einem der diesen gleichgestellten Rechte (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) verletzt zu sein3. Beschwerdeführende sind nur dann von einer gesetzlichen Regelung unmittelbar betroffen, wenn diese, ohne dass es eines weiteren Vollzugsaktes bedürfte, in ihren Rechtskreis eingreift. Erfordert das Gesetz zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen staatlichen Praxis einen besonderen; vom Willen der vollziehenden Stelle beeinflussten Vollzugsakt, müssen Beschwerdeführende grundsätzlich zunächst diesen Akt angreifen und den gegen ihn eröffneten Rechtsweg erschöpfen, bevor sie die Verfassungsbeschwerde erheben4. Die von der Disco-Club-Betreiberin angegriffene Regelung in § 28a Abs. 1 Satz 1 Nrn. 4, 5, 9 und 13 IfSG ist in diesem Sinne vollzugsbedürftig.
Der Grundsatz der Subsidiarität ist ausnahmsweise ohne Ergreifen fachgerichtlicher Rechtsbehelfe gewahrt und die unmittelbare Betroffenheit durch eine angegriffene Regelung ist ausnahmsweise trotz deren Vollzugsbedürftigkeit anzunehmen, soweit es Beschwerdeführern unzumutbar wäre, fachgerichtlichen Rechtsschutz suchen zu müssen5. Einen Rechtsbehelf ergreifen zu müssen, kann unzumutbar sein, soweit er im Hinblick auf eine entgegenstehende Rechtsprechung von vornherein aussichtslos erscheinen muss6. Insbesondere wenn die entgegenstehende Rechtsprechung des maßgeblichen Fachgerichts gerade erst erging, kann es ausnahmsweise unzumutbar sein, dort nun in eigener Sache aber zu identischen Rechtsfragen (Eil-)Rechtsschutz suchen zu müssen7. Das kommt in Betracht, wenn im Einzelfall ausgeschlossen werden kann, dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung noch verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären8. Entscheidend ist, ob die fachgerichtliche Klärung erforderlich ist, um zu vermeiden, dass das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungen auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft9.
Im Fall der Disco-Club-Betreiberin ist nicht ersichtlich, dass eine Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen durch eine fachgerichtliche Prüfung ausgeschlossen ist.
Für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind zunächst die tatsächlichen Rahmenbedingungen der Coronavirus-Pandemie sowie fachwissenschaftliche – virologische, epidemiologische, medizinische und psychologische – Bewertungen und Risikoeinschätzungen von wesentlicher Bedeutung10. Sie können sich in der aktuellen Phase der Pandemie jederzeit, so schnell und wirksam ändern, dass sie in hoher Frequenz immer wieder erneuter Verifizierung bedürfen. Dies betrifft den allgemeinen Erkenntnisstand, gilt aber auch mit Blick auf konkrete, von Beteiligten dargelegte und gerichtlich festzustellende Umstände des jeweiligen – schon entschiedenen oder noch offenen – Einzelfalls. Aus dem Vorbringen der Disco-Club-Betreiberin ergibt sich nicht, dass und inwieweit die Sachlage im Hinblick auf ihren Fall dennoch auch ohne fachgerichtliche Feststellungen als geklärt anzusehen ist.
Auch die von der Disco-Club-Betreiberin aufgeworfenen Entschädigungsfragen sind nicht geklärt. Erst recht hat die Disco-Club-Betreiberin nicht hinreichend dargelegt, dass und inwieweit die Geltendmachung ihres diesbezüglichen Standpunkts vor den Fachgerichten wegen entgegenstehender Rechtsprechung von vornherein aussichtslos wäre. Dies gilt sowohl für etwaig schon bestehende Entschädigungsansprüche als auch für die von der Disco-Club-Betreiberin aufgeworfene Frage, ob und inwieweit die Verhältnismäßigkeit eine § 28a IfSG korrespondierende, angemessene gesetzliche Entschädigungsregelung gebietet.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 28. Dezember 2020 – 1 BvR 2692/20
- vgl. BVerfGE 150, 309 <326 f. Rn. 41 f., 44>[↩]
- BVerfGE 86, 382 <389>[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 42 <54 Rn. 47, 57 Rn. 55>[↩]
- BVerfGE 146, 71 <108 Rn. 110>[↩]
- vgl. BVerfGE 142, 234 <250 Rn. 23> 150, 309 <326 f. Rn. 44 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 180 <186>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.10.2020 – 1 BvQ 116/20, Rn. 6[↩]
- vgl. BVerfGE 138, 261 <271 Rn. 23> BVerfG, Beschluss vom 15.07.2020 – 1 BvR 1630/20, Rn. 11[↩]
- vgl. BVerfGE 150, 309 <327 Rn. 44>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15.07.2020 – 1 BvR 1630/20, Rn. 11, vom 31.03.2020 – 1 BvR 712/20, Rn. 17 und vom 03.06.2020 – 1 BvR 990/20, Rn. 12[↩]