Im Einzelfall kann ein nicht großflächiger Einzelhandelsbetrieb mit 800 qm Verkaufsfläche nach § 15 Abs. 1 SAtz 1 BauNVO in einem Dorfgebiet unzulässig sein, wenn dadurch die Dorfgebietsfestsetzung im Bebauungsplan funktionslos wird.

So die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Freiburg in dem hier vorliegenden Fall einer Klägerin, die die Erteilung eines Bauvorbescheides für die Errichtung einer Lebensmittelverkaufsstätte sowie eines Parkplatzes begehrt. Das derzeit mit Gebäuden eines landwirtschaftlichen Betriebs bebaute ca. 5000 qm große Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans der Gemeinde L… „Im kalten Brunnen-Getzler“ vom 21.03.1991. Der Bebauungsplan weist das Grundstück sowie das in südwestlicher Richtung angrenzende Grundstück Flst.Nr. 328/2 und das daran anschließende Grundstück Flst.Nr. 328 als Dorfgebiet aus. Das zuständige Landratsamt lehnte den Antrag auf Erteilung eines Bauvorbescheids ab. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat die Klägerin Klage erhoben.
Das Verwaltungsgericht Freiburg führt in seiner Begründung aus, dass die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des geplanten Vorhabens sich nach § 30 Abs. 1, Abs. 3 BauGB beurteilt. Der Bebauungsplan „Im kalten Brunnen-Getzler“, der das vom geplanten Vorhaben der Klägerin betroffene Baugrundstück sowie die Grundstücke Flst.Nrn. 328/2 und 328 als Dorfgebiet ausweist und damit die Art der zulässigen Nutzung bestimmt, jedoch keine Festsetzung hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung enthält, stellt einen einfachen Bebauungsplan i.S. des § 30 Abs. 3 BauGB dar. Hinsichtlich der Wirksamkeit des Bebauungsplanes sind Bedenken weder ersichtlich noch von den Beteiligten vorgetragen worden. Da die geplante Lebensmittelverkaufsstätte mit einer Verkaufsfläche von 800 qm nicht großflächig i.S. von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO ist1, ist sie auch nicht nur in Kerngebieten oder in für sie festgesetzten Sondergebieten, sondern als Einzelhandelsbetrieb im Dorfgebiet grundsätzlich zulässig (§ 5 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO). Das geplante Vorhaben ist jedoch gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO im Einzelfall unzulässig. Nach dieser Vorschrift sind die in den §§ 2 bis 14 BauNVO aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Dies ist beim Vorhaben der Klägerin der Fall.
Dorfgebiete i.S. des § 5 BauNVO dienen der Unterbringung der Wirtschaftsstellen land- und forstwirtschaftlicher Betriebe, dem Wohnen und der Unterbringung von nicht wesentlich störenden Gewerbebetrieben sowie der Versorgung der Bewohner des Gebiets dienenden Handwerksbetrieben; auf die Belange der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe einschließlich ihrer Entwicklungsmöglichkeiten ist vorrangig Rücksicht zu nehmen (§ 5 Abs. 1 BauNVO). Der Gebietscharakter eines Dorfgebiets als ländliches Mischgebiet hängt zwar grundsätzlich nicht von einem bestimmten prozentualen Mischverhältnis dieser Hauptfunktionen ab. Indes wandelt sich der Gebietscharakter eines Dorfgebiets, wenn die landwirtschaftliche Nutzung völlig verschwindet und auch eine Wiederaufnahme ausgeschlossen erscheint. Ein Baugebiet ganz ohne Gebäude land- und forstwirtschaftlicher Betriebsstellen ist kein Dorfgebiet. Die allgemeine Zweckbestimmung des Dorfgebiets als Standort für Wirtschaftsstellen land- oder forstwirtschaftlicher Betriebe darf nicht verloren gehen. Die Festsetzung eines Dorfgebiets wird wegen Funktionslosigkeit unwirksam, wenn in dem festgesetzten Bereich Wirtschaftsstellen land- oder forstwirtschaftlicher Betriebe nicht (mehr) vorhanden sind und mit ihrer Errichtung auch nicht mehr gerechnet werden kann2.
Notwendige Voraussetzung für den (rechtlichen) Fortbestand der Dorfgebietsfestsetzung im Bebauungsplan „Im kalten Brunnen-Getzler“ ist mithin, dass – im Falle des völligen Verschwindens der landwirtschaftlichen Nutzung aus einem Dorfgebiet – eine Wiederaufnahme der Nutzung möglich erscheint. Dies wäre indessen im Falle der Realisierung des von der Klägerin geplanten Vorhabens nicht (mehr) der Fall. Denn für eine land- oder forstwirtschaftliche Nutzung kommen die bereits bebauten Grundstücke Flst.Nrn. 328/2 und 328 aufgrund ihrer geringen Größe nicht in Betracht. Würde das Grundstück Flst.Nr. 330 – wie von der Klägerin geplant – mit einer Lebensmittelverkaufsstätte sowie Parkplätzen bebaut, wäre eine land- oder forstwirtschaftliche Nutzung auch dieses Grundstückes bei realistischer Betrachtungsweise auf nicht absehbare Zeit ausgeschlossen. Die Festsetzung des Dorfgebietes wäre damit obsolet geworden.
Mit seiner die festgesetzten Baugebiete sichernden bzw. deren typische Prägung aufrechterhaltenden Funktion3 ist § 15 Abs. 1 BauNVO auch Rechtsgrundlage für die Verhinderung oder Vermeidung des Obsoletwerdens von Festsetzungen eines Bebauungsplans4 und steht damit dem Vorhaben der Klägerin entgegen. Auch die weitere Voraussetzung des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, wonach sich der Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets aus der konkreten Anlage unter Zugrundelegung der abschließend bestimmten Merkmale ergeben muss, nämlich aus Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der baulichen oder sonstigen Anlage, ist erfüllt. Denn die geplante Lebensmittelverkaufsstätte steht jedenfalls ihrem Umfang nach im Widerspruch zur Eigenart des festgesetzten Dorfgebietes. Da das ca. 5000 qm große Grundstück Flst.Nr. 330 mit dem Lebensmittelmarkt und den dazu geplanten Parkplätzen vollständig ausgenutzt werden würde, bliebe für eine landwirtschaftliche Nutzung dieses Grundstückes kein Raum mehr mit der Folge, dass die Festsetzung des Dorfgebiets obsolet werden würde. Anders wäre dies im Falle einer Teilbebauung des Grundstücks etwa mit einem kleinen Einzelhandelsbetrieb.
Es spricht auch einiges dafür, dass die bauliche Anlage nach der Anzahl der Eigenart des Baugebiets widerspricht. Zwar ist typischer Fall für diesen Gesichtspunkt, dass Anlagen dieser Art bereits in einer solchen Fülle verwirklicht worden sind oder noch verwirklicht werden sollen, dass hierdurch der Gebietscharakter beeinträchtigt wird. So hat das Bundesverwaltungsgericht für das Mischgebiet (§ 6 BauNVO) angenommen, dass seine Festsetzung wegen Funktionslosigkeit außer Kraft treten kann, wenn eine der beiden Hauptnutzungsarten des Mischgebiets – die Wohnnutzung oder die gewerbliche Nutzung – verdrängt wird und das Gebiet deshalb in einen anderen Gebietstyp „umkippt“. Der Verhinderung eines solchen „Umkippens“ des Gebiets dient § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO5. Dass aber auch die Festsetzung eines Dorfgebiets wegen Funktionslosigkeit außer Kraft treten kann, wenn die Hauptnutzungsart – land- und forstwirtschaftlicher Betrieb – verdrängt wird und das Gebiet deshalb in einen anderen Gebietstyp „umkippt“, hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich festgestellt6. Dies spricht dafür, dass auch bei einem „Umkippen“ des Dorfgebietes § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO der Zulässigkeit des geplanten Vorhabens entgegengehalten werden kann, ohne dass eine unzulässige „Häufung“ einer Nutzungsart vorliegen muss. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung dürfte auch der Umstand, dass letztlich der Wegfall des einzigen noch vorhandenen landwirtschaftlichen Betriebs und nicht das Hinzukommen eines (weiteren) Einzelhandelsbetriebs die Ursache für ein solches „Umkippen“ ist, der Anwendung des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO nicht entgegenstehen. Es macht zudem keinen Unterschied aus, ob die Dorfgebietsfestsetzung dadurch obsolet wird, dass erstmalig ein Einzelhandelsbetrieb zugelassen wird, oder – was im vorliegenden Fall ebenfalls denkbar gewesen wäre – das Grundstück Flst.Nr. 330 vollständig mit Wohngebäuden bebaut wird. Dass in diesem Fall – wegen der bereits auf den beiden anderen im Dorfgebiet gelegenen Grundstücken vorhandenen Wohnbebauung – eine solche Bebauung ihrer Anzahl nach der Eigenart des Baugebiets widersprochen hätte, wird auch die Klägerin nicht in Frage stellen.
Der Annahme, dass die Zulassung des von der Klägerin geplanten Vorhabens der Eigenart der Dorfgebietsfestsetzung widerspricht, steht auch nicht entgegen, dass die Ausweisung des Dorfgebietes nach der Begründung des Bebauungsplanes gerade dem Schutz des landwirtschaftlichen Betriebs im Hinblick auf Abwehransprüche der Nutzer heranrückender Wohnbebauung diente, der Landwirt aber – wie die Klägerin vorträgt – sein Grundstück nicht mehr landwirtschaftlich nutzen wolle, mithin auf den Schutz des Bebauungsplanes nicht mehr angewiesen sei. Die Entscheidung, ob damit der Grund für die Ausweisung des Dorfgebiets weggefallen und das Plangebiet anderweitig überplant werden soll, obliegt allein der Gemeinde. Solange die Gemeinde an dem Bebauungsplan „Im kalten Brunnen-Getzler“ in unveränderter Form festhält und keine andere Art der baulichen Nutzung für das Grundstück Flst.Nr. 330 vorschreibt, hat die Baurechtsbehörde diese planerische Entscheidung zu akzeptieren. Es widerspräche Sinn und Zweck der die Festsetzung des Bebauungsplans sichernden Funktion des § 15 BauNVO, wenn die Baurechtsbehörde durch Genehmigung eines baulichen Vorhabens – wie dies hier der Fall wäre – die Funktionslosigkeit des Bebauungsplanes bewirken könnte. Die Baurechtsbehörde hat bei der Anwendung von § 15 BauNVO gerade keine eigene planerische Entscheidung zu treffen. Erst recht kann sie sich nicht über die planerischen Festsetzungen der Gemeinde hinwegsetzen oder diese abändern7. Sollte die Gemeinde das noch bestehende Dorfgebiet neu überplanen und die Errichtung einer Lebensmittelverkaufsstätte auf dem Grundstück Flst.Nr. 330 ermöglichen wollen, wären auch die Ziele der Raumordnung (§ 1 Abs. 4 BauGB) und das interkommunale Abstimmungsgebot zu beachten (§ 2 Abs. 2 BauGB). Dass eine Prüfung dieser Belange nur im Rahmen der Aufstellung eines neuen Bebauungsplanes möglich wäre, nicht aber im hier anhängigen Verfahren, spricht ebenfalls dafür, dass § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO dem Vorhaben der Klägerin entgegengehalten werden kann.
Es trifft auch nicht zu, dass der Eigentümer des Grundstücks Flst.Nr. 330 auf eine land- oder forstwirtschaftliche Nutzung seines Grundstückes beschränkt ist. Denn jedenfalls eine Teilbebauung des Grundstücks etwa mit einem kleinen Einzelhandelsbetrieb oder Wohngebäuden, die noch genügend Raum für eine landwirtschaftliche Hofstelle ließe, wäre möglich. Im Übrigen hat der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Beschränkung auf nur eine Nutzungsart, als Folge der planerischen Entscheidung der Gemeinde – wie auch im Falle der Gefahr eines „Umkippens“ eines Mischgebiets und der daraus folgenden Unzulässigkeit eines Vorhabens nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO8 – hingenommen werden muss.
Verwaltungsgericht Freiburg, Urteil vom 8. Mai 2012 – 3 K 463/11
- vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.2005 – 4 C 19.04, BVerwGE 124, 364[↩]
- vgl. BVerwG, Urt. v. 23.04.2009 – 4 CN 5.07, BVerwGE 133, 377; Beschl. v. 29.05.2001 – 4 B 33.01, NVwZ 2001, 1055 = BauR 2001, 1550[↩]
- vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 26.08.2009 – 3 S 1057/09, NVwZ-RR 2010, 45 = BauR 2010, 439[↩]
- vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Band V, § 15 BauNVO, Rn. 7[↩]
- vgl. BVerwG, Urt. v. 04.05.1988 – 4 C 34.86, BVerwGE 79, 309[↩]
- vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.05.2001, a.a.O.[↩]
- vgl. König/Roeser/Stock, BauNVO, 2. Aufl. 2003, § 15, Rn. 5[↩]
- vgl. BVerwG, Urt. v. 04.05.1988, a.a.O.[↩]