Die Berufungsentscheidung des Oberverwaltungsgerichts – durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung

Im Berufungsverfahren ist eine mündliche Verhandlung grundsätzlich geboten, wenn für die Entscheidung des Berufungsgerichts neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht angesprochene Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden.

Die Berufungsentscheidung des Oberverwaltungsgerichts – durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung

Hat das Oberverwaltungsgericht hiernach verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entschieden, hat es dadurch zugleich den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) durch das Bundesverwaltungsgericht.

Gemäß § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Die verfahrensmäßigen Anforderungen nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO – Anhörung der Beteiligten, Hinweis auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung, Gelegenheit zur Äußerung1 – hat das Oberverwaltungsgericht im vorliegenden Fall beachtet. Das Oberverwaltungsgericht hat aber ermessensfehlerhaft von einer mündlichen Verhandlung abgesehen:

Die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, steht im Ermessen des Berufungsgerichts. Die Grenzen des Ermessens sind weit gezogen. Das Revisionsgericht kann die Entscheidung lediglich darauf überprüfen, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist nur zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung des Berufungsgerichts beruht2.

Weiterlesen:
Vereinsverbot - und die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts

Obwohl § 130a VwGO keine ausdrücklichen Einschränkungen enthält, hat das Berufungsgericht bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nach der Ausgestaltung des Prozessrechts als gesetzlicher Regelfall und Kernstück auch des Berufungsverfahrens erweist (§ 101 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Bei der Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO dürfen – auch in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 EMRK – die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre daraus erwachsende Bedeutung für den Rechtsschutz nicht aus dem Blick geraten. Grundsätzlich soll die gerichtliche Entscheidung das Ergebnis eines diskursiven Prozesses zwischen Gericht und Beteiligten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung sein. Das Rechtsgespräch erfüllt unter anderem den Zweck, die Ergebnisrichtigkeit der gerichtlichen Entscheidung zu fördern. Das Gebot, die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit mit den Beteiligten zu erörtern, wird umso stärker, je schwieriger die vom Gericht zu treffende Entscheidung ist. Die Grenzen des Ermessens sind daher erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nach den Gesamtumständen des Einzelfalls außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist3. Zudem ist eine mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren grundsätzlich dann geboten, wenn für die Entscheidung des Berufungsgerichts neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht angesprochene Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden. In diesem Fall müssen die Beteiligten die Gelegenheit erhalten, sich zu den neuen entscheidungserheblichen Fragen in einer mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu äußern. Das gilt für neue Rechtsfragen ebenso wie für neue Tatsachenfragen, weil zu beidem rechtliches Gehör in prozessordnungsgemäßer Form zu gewähren ist. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit muss von der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ausgegangen werden4.

Weiterlesen:
Befangen - wegen Mitwirkung in einem anderen Verfahren?

Daran gemessen beruhte die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, auf einer groben Fehleinschätzung. Das Oberverwaltungsgericht hat entscheidungstragend auf den Vergleich aus dem Jahr 2007 abgestellt. Dessen Existenz sowie die hieraus folgenden, zwischen den Beteiligten umstrittenen Rechts- und Tatsachenfragen – insbesondere die sachliche und zeitliche Reichweite der Bestimmung in Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 zum Vergleich, ihre Wirksamkeit und die Frage der Verwirkung – sind im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht nicht thematisiert, geschweige denn in der mündlichen Verhandlung am 21.02.2019 erörtert worden.

Der Vergleich wurde erst Gegenstand des Verfahrens, nachdem der Berichterstatter im Berufungsverfahren nach Außerkrafttreten der erstinstanzlich entscheidungserheblichen Veränderungssperre angefragt hatte, ob die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind. Zur Begründung führte er aus, dass der Bebauungsplan Nr. 921 wegen fehlerhafter Emissionskontingentierung insgesamt unwirksam sein und die Klägerin daher nach § 34 BauGB einen Anspruch auf den begehrten Bauvorbescheid haben dürfte. Daraufhin legte die Beklagte den Vergleich vor und machte geltend, dass die Klage wegen der in Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 eingegangenen Bindung der Klägerin an die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr.206 N keinen Erfolg haben könne. Hierzu wechselten die Beteiligten weitere Schriftsätze, in denen sie ihre unterschiedlichen Auffassungen zur Auslegung der Vergleichsbestimmung darlegten.

Bei diesem Verfahrensstand hörte das Oberverwaltungsgericht die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO an: Das Bundesverwaltungsgericht halte die Berufung einstimmig für unbegründet. Der Klägerin dürfte wegen der Vergleichsbestimmung das Sachbescheidungsinteresse für die Bauvoranfrage fehlen. Ihre Vergleichsauslegung überzeuge nicht; insoweit wurde unter anderem auf die schriftsätzlichen Ausführungen der Beklagten verwiesen. Die Klägerin nahm dazu Stellung und vertiefte ihr Vorbringen zur Auslegung des Vergleichs, zur Verwirkung und zur Unwirksamkeit der Vergleichsbestimmung wegen eines Verstoßes gegen – im Einzelnen näher benannte – gesetzliche Verbote; zudem bat sie um Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Beklagte trat dem entgegen.

Weiterlesen:
Beschränkung der Berufung auf den Strafausspruch - und die Frage der gewerbsmäßigen Begehung

Demnach waren zu der vom Oberverwaltungsgericht entscheidungstragend zu Grunde gelegten Vergleichsbestimmung zahlreiche Rechts- und Tatsachenfragen aufgeworfen, die erörterungsbedürftig und zuvor nicht Gegenstand einer mündlichen Verhandlung waren. Die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts, hierüber könne nach Aktenlage entschieden werden, war grob fehlerhaft. Hauptstreitpunkt zwischen den Beteiligten war zunächst die Auslegung des Vergleichs. Eine Auslegung, die den Anforderungen der §§ 133, 157 BGB gerecht wird, darf nicht bei den Buchstaben des Vertragstextes stehen bleiben, sondern muss erforschen, wie der maßgebliche Wille der Beteiligten bei objektiver Würdigung zu verstehen ist. Dafür können auch Motive, Hintergrund und Begleitumstände des Vertragsschlusses zu berücksichtigen sein5. Feststellungen dazu lassen sich regelmäßig nicht ohne mündliche Erörterung mit den Vertragsparteien treffen. Gleiches gilt für die Umstände, die zur Beurteilung einer möglichen Verwirkung von Bedeutung sein können. Auf der Grundlage entsprechender Sachverhaltsermittlungen hätten zudem die von der Klägerin aufgeworfenen – angesichts der einmonatigen Stellungnahmefrist teils nur angerissenen – Rechtsfragen einer vertieften Erörterung in einer mündlichen Verhandlung bedurft.

Das Fehlen einer Berufungsverhandlung spiegelt sich auch in den Gründen des Beschlusses wider. Sie befassen sich bei der Auslegung des Vergleichs nur mit dem sachlichen Anwendungsbereich. Dagegen werden weder der Zweck des Vergleichs noch die zeitliche Geltung der Vergleichsbestimmung unter Nummer 4 Buchstabe a der Anlage 5 näher betrachtet. Auch zur Unwirksamkeit der Vergleichsbestimmung und zur Verwirkung verhält sich der Beschluss nur kursorisch. Seiner Aufgabe als Tatsacheninstanz ist das Oberverwaltungsgericht damit nicht gerecht geworden. Besonders augenfällig geworden ist dies in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennendas Bundesverwaltungsgericht, in der sich die Kontroverse der Beteiligten über den Inhalt des Vergleichs fortgesetzt hat.

Weiterlesen:
Steganlage am Goldkanal

Da die Voraussetzungen für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung auf der Grundlage des § 130a Satz 1 VwGO nicht vorlagen, verstößt der angefochtene Beschluss gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Eine unter Verstoß gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergangene Entscheidung verletzt zugleich den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und stellt damit einen absoluten Revisionsgrund im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO dar. Die Gehörsverletzung erfasst die Berufungsentscheidung in ihrer Gesamtheit und lässt sich nicht auf einzelne Tatsachenfeststellungen eingrenzen; in solchen Fällen findet § 144 Abs. 4 VwGO keine Anwendung6. Ob das Oberverwaltungsgericht zugleich das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt hat und damit auch der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 VwGO vorliegt, weil es bei einer mündlichen Verhandlung in anderer Besetzung hätte entscheiden müssen (vgl. § 109 Abs. 1 JustG NRW), kann dahinstehen7.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 6. Dezember 2022 – 4 C 7.21

  1. vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.08.2015 – 4 B 15.15 5 m. w. N.[]
  2. stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 30.06.2004 – 6 C 28.03, BVerwGE 121, 211 <213> m. w. N.[]
  3. vgl. BVerwG, Urteile vom 30.06.2004 – 6 C 28.03, BVerwGE 121, 211 <217> und vom 09.12.2010 – 10 C 13.09, BVerwGE 138, 289 Rn. 23 f. sowie Beschluss vom 08.07.2022 – 9 B 33.21 6[]
  4. vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18.12.2014 – 8 B 47.14, Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 7; und vom 13.08.2015 – 4 B 15.15 7[]
  5. vgl. BVerwG, Urteile vom 19.01.1990 – 4 C 21.89, BVerwGE 84, 257 <264> und vom 18.05.2021 – 4 C 6.19, NVwZ 2021, 1713 Rn. 21 m. w. N.[]
  6. vgl. BVerwG, Urteile vom 30.06.2004 – 6 C 28.03, BVerwGE 121, 211 <221> m. w. N.; und vom 09.12.2010 – 10 C 13.09, BVerwGE 138, 289 Rn. 26 f.[]
  7. offen gelassen in BVerwG, Urteil vom 21.03.2000 – 9 C 39.99, BVerwGE 111, 69 <73> vgl. auch Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 138 Rn. 38[]
Weiterlesen:
Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung

Bildnachweis: