Eine trotz naheliegender Gehörsverletzung ohne vorherige Anhörungsrüge erhobene Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie mangels erhobener Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht wird.

Der in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt, dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen1. Das kann auch bedeuten, dass Beschwerdeführer zur Wahrung des Subsidiaritätsgebots gehalten sind, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, anzugreifen. Dies gilt selbst dann, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen2, durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Anhörungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen, durch die sie sich beschwert fühlen, beseitigt werden3.
Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht allerdings unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe4. Zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, in der sich der Beschwerdeführer nicht auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruft, muss er eine Anhörungsrüge oder den sonst gegen eine Gehörsverletzung gegebenen Rechtsbehelf nur dann ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden5.
So liegt der Fall hier. Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Landgericht habe unzulässig im Rahmen der – vorgelagerten – Prüfung der ordnungsgemäßen Zustellung die Anforderungen an die Erschütterung der Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nach § 418 Abs. 2 ZPO mit dem – die nachgelagerte Frage der Wiedereinsetzung betreffenden – Glaubhaftmachungsmaßstab des § 45 Abs. 2 StPO vermengt und in der Folge seine Beweisangebote unzulässigerweise abgelehnt, hätte es für einen vernünftigen Verfahrensbeteiligten nahegelegen, eine Anhörungsrüge zum Landgericht zu erheben.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Nichtberücksichtigung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisangebots dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet6. Auch in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, darf die Nichtberücksichtigung eines Beweisantrags nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen, sondern muss eine Stütze im Prozessrecht finden7. Bei einem Einspruch gegen den Strafbefehl ist vom Gericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Einspruchsfrist des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO gewahrt ist. Dabei ist es von Verfassungs wegen geboten, dass das Gericht sich mit besonderer Sorgfalt die erforderliche Überzeugung vom Beginn der Einspruchsfrist verschafft8.
Hiernach liegt eine Gehörsverletzung durch das Landgericht jedenfalls nahe.
Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass seine Beweisangebote betreffend den Beginn der Einspruchsfrist unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung durch das Landgericht als unstatthaft erachtet worden seien, während tatsächlich gemäß § 418 Abs. 2 ZPO Beweis über den Zustellungszeitpunkt hätte erhoben werden müssen; daher sei das Landgericht unter Verkennung des fachprozessualen Maßstabs davon ausgegangen, dass die Einspruchsfrist am 17.04.2018 in Gang gesetzt worden und der Einspruch vom 09.05.2018 somit verfristet gewesen sei. In der Sache macht der Beschwerdeführer also die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots unter eklatantem Verstoß gegen das Prozessrecht geltend. Diese Rüge dürfte zutreffen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Januar 2023 – 2 BvR 2697/18
- vgl. BVerfGE 107, 395 <414> 112, 50 <60>[↩]
- vgl. BVerfGE 126, 1 <17 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27> BVerfG, Beschluss vom 25.04.2005 – 1 BvR 644/05, Rn. 10[↩]
- vgl. BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>[↩]
- vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28>[↩]
- BVerfGE 69, 141 <144> 105, 279 <311>[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 22.09.2009 – 1 BvR 3501/08 13[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 05.10.2020 – 2 BvR 554/20 31, 34 m.w.N.[↩]
Bildnachweis:
- Bücherregal: Jörg Möller