Die vermeintlich unricht beantworte parlamentarische Anfrage

Das Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren setzt das Bestehen eines für den Antragsgegner erkennbaren Konflikts voraus. Daher trifft bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen den Antragsteller vor Einleitung des Organstreitverfahrens eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen.

Die vermeintlich unricht beantworte parlamentarische Anfrage

Mit anderen Worten: Hält ein Abgeordneter seine an die Bundesregierung gerichtete parlamentarische Frage für unrichtig beantwortet, muss er diese vor Einleitung des Organstreitverfahrens mit der (mutmaßlichen) Unrichtigkeit der Antwort konfrontieren und ihr so die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen. Anderenfalls fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis.

Mit dieser Begründung hat jetzt das Bundesverfassungsgericht den im Organstreitverfahren gestellten Antrag einer Abgeordneten des Deutschen Bundestags als unzulässig verworfen. Diese hatte die Feststellung begehrt, dass die Bundesregierung ihre Anfrage im Zusammenhang mit den Vorfällen in der Silvesternacht 2015/2016 falsch oder nur unzureichend beantwortet und sie dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art.20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat.

Im Rahmen der Aufklärung der Vorfälle in der Silvesternacht 2015/2016 im Bereich des Kölner Doms und des Hauptbahnhofs richtete die Antragstellerin im März 2016 die schriftliche Frage an die Bundesregierung, ob beim Bundesministerium des Innern in den ersten Tagen des Jahres 2016 aus Nordrhein-Westfalen eine Meldung über elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen eingegangen sei. Die Bundesregierung verneinte dies, wies in der Antwort allerdings darauf hin, dass die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort die Recherchen erschwert hätten. Im Oktober 2016 hat der Untersuchungsausschuss „Silvesternacht 2015“ des Landtages Nordrhein-Westfalen den Bundesminister des Innern unter anderem zur Rolle der Bundespolizei in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 und zu den Meldungen aus dem Land Nordrhein-Westfalen befragt. Dabei ging der Bundesminister des Innern auf die vom Land Nordrhein-Westfalen am 1.01.2016 auch an das Bundesministerium des Innern versandten Meldungen über die Ereignisse ein. Vor diesem Hintergrund ist die Antragstellerin der Auffassung, dass ihre schriftliche Frage im März 2016 falsch oder unzureichend beantwortet worden sei und begehrt im Organstreitverfahren die Feststellung, dass die Bundesregierung sie dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art.20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt habe.

Weiterlesen:
Der willkürliche Verweisungsbeschluss - oder: lass mal die Familiengerichte machen...

Das Bundesverfassungsgericht beurteilte den Antrag als unzulässig. Der Antragstellerin fehle jedenfalls das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

Auch im Organstreitverfahren ist das Rechtsschutzbedürfnis des Organs grundsätzlich Voraussetzung für die Sachentscheidung1. Das Organstreitverfahren ist eine kontradiktorische Parteistreitigkeit mit Antragsteller und Antragsgegner. Es dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns2.

Mit der kontradiktorischen Ausgestaltung des Organstreitverfahrens ist eine diskursive Auseinandersetzung der Verfassungsorgane um ihre Kompetenzen intendiert3. Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn und solange über die Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht4.

Allerdings muss der Konflikt, dessen Bereinigung der Antragsteller im kontradiktorischen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht begehrt, zuvor für den Antragsgegner erkennbar geworden sein. Bei5 unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen trifft den Antragsteller daher eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen. Die damit verbundene Verpflichtung, sich bereits im politischen Prozess mit der Verfassungsrechtslage zu befassen und beanspruchte Rechte einzufordern, stellt keine unzumutbare Belastung dar. Denn sie ist lediglich Konsequenz dessen, dass der Organstreit als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet ist, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden ist, und geht nicht über das hinaus, was für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten ist6.

Weiterlesen:
Kinderpornos auf dem Uni-PC

Die Antragstellerin behauptet lediglich, es bestehe zwischen ihr und der Antragsgegnerin Streit über die Richtigkeit der Beantwortung der Schriftlichen Frage. Sie legt jedoch nicht näher dar, worin sich die Kontroverse manifestiert.

Von der sich aufdrängenden Möglichkeit, die Aussage des Bundesministers des Innern am 31.10.2016 vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen zum Anlass zu nehmen, die Antragsgegnerin durch eine Nachfrage zur Klarstellung aufzufordern, ob sie an der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder vom 16.03.2016 festhält oder sich die Darstellung des Bundesministers des Innern zu eigen macht, hat die Antragstellerin keinen Gebrauch gemacht. Mit diesem zeitnahen Verfahren wäre die Chance verbunden gewesen, dass dem Anliegen der Antragstellerin durch Auskunftserteilung und Klarstellung Rechnung getragen wird, ohne dass es einer – hier erst später erfolgten – Anrufung des Bundesverfassungsgerichts bedurft hätte.

Eine Nachfrage der Antragstellerin lag auch vor dem Hintergrund der aus Sicht der Antragsgegnerin unklaren Schriftlichen Frage nahe. Die Antragsgegnerin hat ihre Antwort inhaltlich mit einem Vorbehalt versehen7. In ihrer Antwort machte sie deutlich, in welchem Sinne sie die Frage verstanden hatte, und fügte hinzu, dass die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort die Recherchen erschwert hätten. Wollte die Antragstellerin ihre Frage in einem anderen oder eingeschränkten Sinne verstanden wissen, hätte es ihr oblegen, sie von vornherein so zu formulieren. Vom Fragesteller kann eine sorgfältige Formulierung seiner Fragen erwartet werden8. Jedenfalls wäre es der Antragstellerin aber ohne Weiteres möglich gewesen, das hinter ihrer Frage stehende Informationsinteresse erneut zum Gegenstand einer klarstellenden Nachfrage zu machen und damit zu klären, ob eine Kontroverse zwischen ihr und der Antragsgegnerin im Hinblick auf die Beantwortung der Schriftlichen Anfrage angesichts der späteren Äußerungen des Bundesministers des Innern im Untersuchungsausschuss überhaupt besteht. Kritik an den Antworten der Antragsgegnerin auf Einzelfragen kann in weiteren Nachfragen in der Fragestunde oder in der Befragung der Bundesregierung sowie in Großen und Kleinen Anfragen aufgegriffen werden. Dies ist für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten6 und entspricht den Gepflogenheiten zwischen Parlament und Regierung.

Weiterlesen:
Gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit eines Schiedsverfahrens - und der zwischenzeitliche Schiedsspruch

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 2 BvE 6/16

  1. vgl. BVerfGE 62, 1, 33; 67, 100, 127; 68, 1, 77; 119, 302, 307 f.; 124, 78, 113; 140, 115, 146 Rn. 80; 142, 25, 52 Rn. 76[]
  2. vgl. BVerfGE 68, 1, 69 ff.; 73, 1, 29 f.; 80, 188, 212; 104, 151, 193 f.; 118, 244, 257; 126, 55, 67 f.; 134, 141, 194 Rn. 160; 136, 190, 192 Rn. 5; 140, 115, 146 Rn. 80[]
  3. vgl. BVerfGE 136, 190, 192 Rn. 5[]
  4. vgl. Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17.08.2012 – 1/12 50; vgl. auch Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 17.06.1993 – Vf.85-IV-91 32[]
  5. vermeintlich oder tatsächlich[]
  6. vgl. BVerfGE 129, 356, 375[][]
  7. vgl. hierzu Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17.08.2012 – 1/12 52[]
  8. vgl. BVerfGE 137, 185, 228 f. Rn. 123 f.[]