Das Bundesverfassungsgericht hat die Abschiebung von drei Familien mit Kindern nach Italien vorläufig untersagt.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre1.
Nach vorläufiger Prüfung kann das Bundesverfassungsgericht nicht festgestellt werden, dass die von den Familien erhobenen Verfassungsbeschwerden unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind. Die Familien rügen, den Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde genügend, die Versagung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes verstoße gegen den in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör2. Zudem liege darin auch eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Jedenfalls die erstgenannten Rügen sind nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet; ihnen wird im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nachzugehen sein.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts3 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte4 muss bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern nach Italien vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden eingeholt werden, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde.
Die vorliegend angegriffenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Gera5 verhalten sich zu diesen Anforderungen trotz ausdrücklichen Hinweises der Familien nicht, sondern beschränken sich auf die Feststellung, dass das System zur Aufnahme von Flüchtlingen in Italien keine systemischen Mängel aufweise. Die von den Familien erhobenen Anhörungsrügen, die erneut ausdrücklich auf die genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinwiesen, wies das Verwaltungsgericht Gera mit inhaltlich gleichlautenden Beschlüssen jeweils als unbegründet zurück. Zur Begründung wird dort lediglich ausgeführt, die Familien könnten „mit absoluter Sicherheit davon ausgehen“, dass der Einzelrichter ihren Vortrag zur Kenntnis genommen habe. Sie könnten allerdings nicht davon ausgehen, dass dieser ihrem Vortrag folge beziehungsweise ihm rechtliche Bedeutung beimesse. Dies bleibe allein der richterlichen Überzeugung überlassen.
Die Familien tragen demgegenüber vor, in den angegriffenen Beschlüssen finde sich kein Hinweis darauf, dass das Gericht ihren Vortrag zum Fehlen einer Zusicherung aus Italien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überhaupt zur Kenntnis genommen habe. Das Gericht gehe damit auf den wesentlichen Kern ihres Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung sei, nicht ein. Auch mit der Begründung ihrer Anhörungsrügen setze sich der zuständige Richter nicht auseinander. Das verletze ihren Anspruch auf rechtliches Gehör.
Dies bedarf näherer Überprüfung; der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens erweist sich damit jedenfalls als offen.
Die danach gebotene Abwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Den Familien droht durch den Vollzug der Abschiebung ein schwerer und nicht ohne weiteres wiedergutzumachender Nachteil. Demgegenüber wiegen etwaige Nachteile, die durch den auf überschaubare Zeit verlängerten Aufenthalt der Familien in Deutschland entstehen, auch in Ansehung des Umstands, dass eine Rückführung nach Italien möglicherweise an dem Ablauf von Überstellungsfristen scheitern könnte, weniger schwer.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27. Mai 2015 – 2 BvR 3024/14 – 2 BvR 177/15 und 2 BvR 601/15
- vgl. BVerfGE 88, 25, 35; 89, 109, 110 f.; stRspr[↩]
- vgl. zu diesem BVerfGE 47, 182, 187 f.; 70, 288, 293; 80, 269, 286[↩]
- BVerfG, Beschlüsse vom 17.09.2014 – 2 BvR 939/14, NVwZ 2014, 1511: 2 BvR 732/14 und 2 BvR 1795/14; sowie 2 BvR 991/14[↩]
- EGMR, GK, Urteil vom 04.11.2014, Nr. 29217/12, Tarakhel v. Schweiz, NVwZ 2015, S. 127[↩]
- VG Gera, Beschlüsse vom 26.11.2014 – 4 E 20603/14 Ge; vom 17.12.2014 – 4 E 20667/14 Ge; und vom 20.02.2015 – 4 E 20074/15 Ge[↩]