Art.20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Dublin III-VO, wonach die Situation von Kindern eines Asylantragstellers, die nach dessen Ankunft im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, untrennbar mit der Situation dieses Elternteils verbunden ist und in die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats fällt, der für die Prüfung des Antrags des Elternteils auf internationalen Schutz zuständig ist, kann auf den Asylantrag eines im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes, dessen Eltern zuvor bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz erhalten haben, jedenfalls nicht in der Weise analog angewendet werden, dass es in dieser Fallkonstellation auch nicht der Einleitung eines eigenen Zuständigkeitsverfahrens für das Kind gemäß Art.20 Abs. 3 Satz 2 letzter Halbsatz Dublin III-VO bedarf. Der Mitgliedstaat, in dem ein nachgeborenes Kind seinen Asylantrag gestellt hat, ist deshalb jedenfalls dann für dessen Prüfung zuständig, wenn er den Mitgliedstaat, der den Eltern internationalen Schutz gewährt hat, nicht binnen der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen um die Aufnahme des Kindes ersucht hat (vgl. Art. 21 Abs. 3 Dublin III-VO).

Eine Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung des Asylantrags eines nachgeborenen Kindes besteht daher jedenfalls dann, wenn es an einem fristgerecht gestellten Aufnahmegesuch fehlt.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1. Buchst. a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist hier nicht der Fall, vielmehr ist die Bundesrepublik Deutschland für das Asylverfahren der Klägerin zuständig.
Es bedarf für das Bundesverwaltungsgericht keiner Entscheidung, ob sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland vorliegend schon daraus ergibt, dass es sich im Sinne der Auffangnorm des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO um den ersten Mitgliedstaat handelt, in dem der Antrag des Kindes auf internationalen Schutz gestellt wurde. Dies würde voraussetzen, dass – wie vom Berufungsgericht angenommen – die in Art.20 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 Dublin III-VO normierte verfahrensmäßige Anlehnung an die Zuständigkeit für das Verfahren der Eltern auf die vorliegende Fallkonstellation schon im Ansatz weder unmittelbar noch analog anzuwenden ist und dass sich auch anhand der dann in den Blick zu nehmenden primären Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III der Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt. Das Berufungsgericht hat insoweit zutreffend herausgearbeitet, dass zumindest eine unmittelbare Anwendung der in Art.20 Abs. 3 Dublin III-VO geregelten Verfahrensakzessorietät auf die Klägerin ausscheidet. Danach ist für die Zwecke dieser Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient (Satz 1). Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss (Satz 2). Die Klägerin ist zwar nach der Ankunft ihrer Eltern im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren; ihre Eltern sind aber keine Antragsteller (mehr), deren aktuell in Deutschland gestellte Asylanträge ein Dublin-Verfahren in Gang gesetzt haben, in das die Klägerin einbezogen werden könnte. Denn wie sich aus Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO ergibt, kann ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen der in dieser Verordnung festgelegten Verfahren nicht wirksam um Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen ersuchen, der im erstgenannten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm durch den letztgenannten Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde1. Ob das unionsrechtliche Anliegen einer Vermeidung von Sekundärmigration und gegebenenfalls der in der Dublin III-VO zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Familieneinheit (insbesondere Erwägungsgrund 16) eine analoge Anwendung des Art.20 Abs. 3 Dublin III-VO auf nachgeborene Kinder von international Schutzberechtigten in Bezug auf die Zuständigkeitsbestimmung rechtfertigen können2, was schwerlich ohne eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bejaht werden könnte, kann das Bundesverwaltungsgericht offenlassen.
Eine etwaige Zuständigkeit (hier:) Italiens wäre jedenfalls gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO dadurch auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, dass die Bundesrepublik Italien nicht innerhalb der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen ein Gesuch um Aufnahme der Klägerin unterbreitet hat. Diese selbstständig tragende Begründung des Berufungsurteils steht im Einklang mit Bundesrecht. Die Sonderregelung in Art.20 Abs. 3 Satz 2 letzter Halbsatz Dublin III-VO, wonach es der Einleitung eines „neuen Zuständigkeitsverfahrens“ für das Kind nicht bedarf, macht ein solches Aufnahmegesuch hier auch dann nicht entbehrlich, wenn es im Grundsatz möglich wäre, die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind weitergewanderter schutzberechtigter Eltern aus einer analogen Anwendung dieser Verfahrensvorschrift herzuleiten. Denn zumindest diese Sonderregelung ist auf die hier vorliegende Konstellation eines Kindes bereits schutzberechtigter Eltern nicht analog anwendbar3.
Die analoge Anwendung einer Rechtsvorschrift setzt neben einer planwidrigen Lücke auch eine vergleichbare Interessenlage zwischen untersuchtem und geregeltem Fall voraus4. Für eine analoge Anwendung des in Art.20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 Dublin III-VO geregelten Absehens von einem neuen Zuständigkeitsverfahren für minderjährige Familienangehörige auch auf Asylanträge von Kindern, deren Eltern in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, fehlt es indes an der Wertungsgleichheit bzw. Vergleichbarkeit von geregeltem und ungeregeltem Sachverhalt.
Bereits aus der systematischen Stellung der Verfahrensakzessorietät nach Art.20 Abs. 3 Dublin III-VO als einleitende Vorschrift des Kapitels VI der Verordnung – Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren – ergibt sich, dass diese zunächst nur für noch nicht abgeschlossene Verfahren gilt. Art.20 Dublin III-VO regelt in Abs. 1 die Einleitung des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens und sieht in Abs. 3 für Minderjährige die Zuständigkeit des Mitgliedstaates vor, der (auch) für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz des Familienangehörigen zuständig ist. Solange ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für den Schutzantrag der Eltern noch nicht abgeschlossen ist, unterfällt dieser dem Anwendungsbereich der Verordnung, der (erst) mit dem Abschluss des Verfahrens endet. In ein so laufendes Verfahren ist der Schutzantrag des Kindes einzubeziehen. Wird den Eltern dagegen internationaler Schutz durch einen Mitgliedstaat gewährt, können sie nach (illegaler) Sekundärmigration und einem erneuten Antrag in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr im Rahmen des Dublin-Regimes, sondern nur auf anderer Rechtsgrundlage (z.B. bilaterale Rückführungsabkommen) in den Schutz gewährenden Mitgliedstaat zurückgeführt werden.
Bedürfte es in dieser Situation nicht der Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens, wäre eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems vorgesehen, ohne dass der Aufnahmemitgliedstaat Kenntnis von einer möglichen Aufnahmesituation – und sei es im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens in Bezug auf die Eltern – erlangt hätte. Es entfiele der Schutz durch das Fristenregime des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens des Dublin-Systems. Das Kind könnte anders als jeder andere dem Dublin-Verfahren unterworfene Asylbewerber ohne die dort vorgesehenen zeitlichen Grenzen an den anderen Mitgliedstaat überstellt werden. Zudem entfiele die Stufung zwischen dem Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahren (Kapitel VI Dublin III-VO) und der Überstellung (Kapitel VI Dublin III-VO), bei der auch zwischen den Mitgliedstaaten die internationale Zuständigkeit als bereits geklärt vorausgesetzt wird. Ohne ein Aufnahmeverfahren bestünde erst im Überstellungsverfahren Gelegenheit, für das nachgeborene Kind zu klären, ob der Mitgliedstaat, der den Eltern internationalen Schutz gewährt hat, seine Zuständigkeit für das Asylverfahren des Kindes analog Art.20 Abs. 3 Dublin III-VO anerkennt und zu dessen Aufnahme bereit ist. Lehnt der ersuchte Mitgliedstaat die Aufnahme eines nachgeborenen Kindes ab, kann der ersuchende Mitgliedstaat das in Art. 37 Dublin III-VO geregelte Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen.
Der Verzicht auf die Durchführung des Aufnahmeverfahrens würde demgegenüber die Gefahr einer „refugee in orbit“-Situation begründen, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht. Dies liefe dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwider, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährleistung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (Erwägungsgrund 5 der Dublin III-VO)5. Nach alledem sieht das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls keinen Raum für eine analoge Anwendung des Art.20 Abs. 3 Dublin III-VO, die sich auch auf den Verzicht auf ein gesondertes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach Satz 2 letzter Halbsatz dieser Vorschrift erstreckte. Auch eine Staatspraxis, dass dies in einem oder gar mehreren anderen Mitgliedstaaten so praktiziert werde, ist weder vorgetragen noch dem Bundesverwaltungsgericht ersichtlich. Das Bundesverwaltungsgericht sieht in Bezug auf die unionsrechtliche Notwendigkeit eines Aufnahmeverfahrens in der vorliegenden Fallkonstellation keinen Anlass zu Zweifeln und daher nach der „acte-clair“-Doktrin keine Veranlassung zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union.
Im hier entschiedenen Fall hat die Bundesrepublik an Italien weder ein Aufnahmegesuch gerichtet noch Italien über die Geburt der Klägerin unterrichtet. Die in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 bzw. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Fristen für das Aufnahmegesuch sind seit langem verstrichen. Das Berufungsgericht hat daher ohne Verletzung von Bundesrecht angenommen, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst im Falle einer ursprünglichen Zuständigkeit Italiens jedenfalls nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin zuständig geworden wäre. Auf den Ablauf dieser Frist kann sich die Klägerin nach der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen ihrer hier zur Entscheidung stehenden Klage gegen die Überstellungsentscheidung auch berufen6.
Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides kann auch nicht als Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aufrechterhalten oder in eine solche Entscheidung umgedeutet werden. Dies scheitert jedenfalls daran, dass die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift, die Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU umsetzt, ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist bei der in Deutschland geborenen Klägerin, die im Bundesgebiet erstmals einen Asylantrag gestellt hat, nicht der Fall. Nach der zutreffenden Rechtsauffassung des Berufungsgerichts kann die Regelung auch nicht deshalb auf die Klägerin analog angewandt werden, weil ihre Eltern Begünstigte internationalen Schutzes sind. Auf die dortigen Ausführungen wird Bezug genommen. Der EuGH hat im Übrigen mehrfach betont, dass Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU die Situationen, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, abschließend aufzählt7.
Da sich die Unzulässigkeitsentscheidung nach dem oben Aufgeführten als rechtswidrig erweist, hat das Berufungsgericht zu Recht auch die Aufhebung der – damit ebenfalls rechtswidrigen – Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten in Bezug auf Italien, die Abschiebungsandrohung und ein auf 30 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestätigt.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23. Juni 2020 – 1 C 37.19
- vgl. EuGH, Beschluss vom 05.04.2017 – C-36/17 [ECLI:?EU:?C:?2017:?273], Ahmed, Rn. 41; siehe auch Art. 2 Buchst. c) und f) sowie Art.20 Abs. 1 Dublin III-VO[↩]
- so etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2018 – A 4 S 544/18; OVG Lüneburg, Beschluss vom 26.02.2019 – 10 LA 218/18; OVG Saarland, Beschluss vom 29.11.2019 – 2 A 283/19; VG Cottbus, Beschluss vom 11.07.2014 – 5 L 190/14.A; VG Greifswald, Urteil vom 22.05.2017 – 4 A 1526/16 As HGW; VG Lüneburg, Urteil vom 14.02.2018 – 4 A 491/17; VG Berlin, Beschluss vom 23.08.2018 – 23 K 367.18 A; VG Schwerin, Urteil vom 30.04.2019 – 3 A 1851/18 SN; VG Würzburg, Beschluss vom 18.09.2019 – W 10 S 19.50614; im Ergebnis s.a. Sächs. OVG, Beschluss vom 05.08.2019 – 5 A 593/19. A; VG Saarlouis, Urteil vom 29.07.2019 – 3 K 678/18; a.A. etwa VG Lüneburg, Urteil vom 24.05.2016 – 5 A 194/14; VG Düsseldorf, Beschluss vom 02.06.2017 – 22 L 1290/17.A; VG Hamburg, Urteil vom 20.03.2018 – 9 A 7382/16; VG Düsseldorf, Urteil vom 11.06.2018 – 28 K 1506/17.A; VG Düsseldorf, Urteil vom 24.08.2018 – 12 K 16165/17.A; VG Köln, Urteil vom 31.07.2018 – 14 K 4762/18.A; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 11.09.2018 – RN 14 K 17.33302; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 03.03.2020 – 2 K 538/15.A; wohl auch VG Karlsruhe, Urteil vom 22.01.2019 – A 13 K 1357/16; s.a. Broscheit. Die Unzulässigkeit von Asylanträgen der in Deutschland geborenen Kindern im EU-Ausland anerkannter Schutzberechtigter, InfAuslR 2018, 41[↩]
- ebenso etwa Broscheit, InfAuslR 2018, 41,44[↩]
- vgl. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 29.04.2014 im Verfahren – C-399/12, Rn. 103 m.w.N.[↩]
- BVerwG, Urteile vom 09.08.2016 – 1 C 6.16, BVerwGE 156, 9 Rn. 23; und vom 27.04.2016 – 1 C 24.15, Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 82 Rn.20[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 26.07.2017 – C-670/16 [ECLI:?EU:?C:?2017:?587], Mengesteab, Rn. 41 ff., 62[↩]
- vgl. EuGH, Urteile vom 19.03.2019 – C-297/17 [ECLI:?EU:?C:?2019:?219], Ibrahim u.a., Rn. 76; und vom 19.03.2020 – C-564/18 [ECLI:?EU:?C:?2020:?218], Hivatal, Rn. 29 f.[↩]
Bildnachweis:
- Bundesverwaltungsgericht Leipzig: Robert Windisch