Die Verhältnismäßigkeit eines auf § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO gestützten Durchfahrverbots kann nicht allein anhand des abstrakten Verhältnisses des Mautausweichverkehrs zu dem sonstigen von der Sperrung betroffenen Durchgangsverkehr beurteilt werden. Eine sachgerechte Bewertung setzt auch voraus, dass die wirtschaftlichen Nachteile der vom Durchfahrverbot betroffenen Unternehmen der sich durch den Mautfluchtverkehr ergebenden Zusatzbelastung für die Anwohner gegenübergestellt werden. Dabei ist eine bestehende Lärmvorbelastung ebenso zu berücksichtigen wie das Ausmaß der durch das Durchfahrverbot zu erwartenden Verbesserung der Immissionssituation.

Gemäß § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, der nach dem Beginn der Erhebung von Autobahnmaut zum 1. Januar 2005 mit der Fünfzehnten Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 22. Dezember 20051 in die Norm eingefügt wurde, dürfen abweichend von Satz 2 zum Zwecke des Absatzes 1 Satz 1 – aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs – oder des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 3 – zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen – Beschränkungen oder Verbote des fließenden Verkehrs auch angeordnet werden, soweit dadurch erhebliche Auswirkungen veränderter Verkehrsverhältnisse, die durch die Erhebung der Maut nach dem Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge hervorgerufen worden sind, beseitigt oder abgemildert werden können.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass, soweit es um den Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm im Sinne von § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO geht, Orientierungspunkte für eine nähere Bestimmung, wann eine Lärmzunahme „erheblich“ ist, der Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV2 – entnommen werden können. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 16. BImSchV ist eine Lärmzunahme „wesentlich“, wenn der Beurteilungspegel des Verkehrslärms um mindestens 3 dB(A) oder auf mindestens 70 dB(A) am Tage oder mindestens 60 dB(A) in der Nacht erhöht wird. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 16. BImSchV gilt dasselbe, wenn der Beurteilungspegel von mindestens 70 dB(A) am Tage oder 60 dB(A) in der Nacht weiter erhöht wird; dies gilt nicht in Gewerbegebieten. Dem liegt eine Wertung des Verordnungsgebers zugrunde, die sich – entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts – für beide Teilregelungen gleichermaßen auf § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO übertragen lässt. Die § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 und Abs. 2 Satz 2 16. BImSchV zugrunde liegende Annahme, dass auch eine 3 dB(A) unterschreitende Lärmzunahme dann erheblich ist, wenn ein Beurteilungspegel von 70 dB(A) am Tage oder 60 dB(A) in der Nacht erreicht oder überschritten wird, beruht darauf, dass ansonsten eine ohnehin bereits unzumutbare Lärmsituation noch verschlechtert oder jedenfalls verfestigt würde. Ließe man auch hier erst einen Zuwachs von 3 dB(A) genügen, liefe § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO gerade bei einer derart hohen Vorbelastung vielfach leer. Eine solche Erhöhung des Mittelungspegels um 3 dB(A) setzt nämlich etwa eine Verdoppelung des vorhandenen Verkehrsaufkommens voraus. Ein solches Ausmaß wird der Mautausweichverkehr gerade bei einer ohnehin hohen Ausgangsbelastung der Ausweichstrecke schon im Hinblick auf deren beschränkte Aufnahmefähigkeit nur selten erreichen3. Auch die Annahme, selbst bei einer so hohen Vorbelastung müsse die Zunahme mindestens 1 dB(A) betragen, um „erheblich“ im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO zu sein, entbehrt einer rechtlichen Grundlage.
Daraus, dass diese Regelung die Straßenverkehrsbehörde zu Beschränkungen oder Verboten des fließenden Verkehrs nur ermächtigt, „soweit dadurch erhebliche Auswirkungen durch Mautausweichverkehr veränderter Verkehrsverhältnisse beseitigt oder abgemildert werden können“, ergibt sich auf der Ebene der tatbestandlichen Voraussetzungen keine Beschränkung dahingehend, dass ein Eingreifen der Straßenverkehrsbehörde auf der Grundlage von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO immer schon dann ausscheidet, wenn von einem Durchfahrverbot noch anderer als nur Mautausweichverkehr betroffen ist. Wie das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 13.März 2008 ausgeführt hat, ist die Behörde nicht darauf beschränkt, lediglich den mautfluchtbedingten Verkehr herauszufiltern, da sie derart selektive Maßnahmen praktisch nicht treffen könnte. Sie darf derartige Maßnahmen daher auch dann treffen, wenn diese im Ergebnis über eine bloße Mautfluchtbekämpfung hinausgehen, sie hat sie aber nach Möglichkeit auf die Mautfluchtbekämpfung zu beschränken4. Der mit dem Wort „soweit“ eingeleitete Halbsatz des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO eröffnet also schon dann eine Ermessensentscheidung, wenn durch ein Durchfahrverbot die Auswirkungen des Mautausweichverkehrs auf die in § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO genannten Schutzgüter beseitigt oder abgemildert werden können. Bei anderer Auslegung wären Maßnahmen auf der Grundlage von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO faktisch unmöglich; die vom Verordnungsgeber mit der Einfügung dieser Regelung beabsichtigte Absenkung der Eingriffsschwelle würde verfehlt.
Allein der Umstand, dass mit einem auf § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO gestützten Durchfahrverbot Mautfluchtverkehr verringert oder vollständig ausgeschlossen werden kann, führt wegen der spezifischen Zielrichtung der Regelung und ihrer zweigliedrigen Normstruktur freilich noch nicht zur Rechtmäßigkeit der Maßnahme. Die Regelung soll ausweislich der Begründung der Änderungsverordnung ermöglichen, den überörtlichen Durchgangsverkehr mit schweren Nutzfahrzeugen aus Gründen der Ordnung des Verkehrs – insbesondere auch zum Schutz der Wohnbevölkerung an Ortsdurchfahrten – und zur Verbesserung des Verkehrsablaufs und des Verkehrsverhaltens im nachgeordneten Straßennetz – zumindest an herausragenden Stellen – zur Vermeidung von Autobahnmaut nicht ausweichen zu lassen und wenn nötig wieder auf die Autobahn zu leiten5. Es handelt sich – zusammenfassend ausgedrückt – um eine Ermächtigungsgrundlage speziell zur Unterbindung von Mautflucht. Daraus ergibt sich, wie im Urteil vom 13.03.2008 ausgeführt, im Gegenschluss, dass der sonstige Verkehr nach Möglichkeit unberührt bleiben soll. Je nach den Umständen des Einzelfalls ist das allein damit, dass die Verordnung selbst schon bei einem Durchfahrverbot die Zusatzzeichen „Durchgangsverkehr“ und „12 t“ vorsieht und damit eine Beschränkung des Adressatenkreises erreicht, noch nicht in ausreichendem Umfang gewährleistet. Vielmehr hat die Straßenverkehrsbehörde, die von dieser Ermächtigung Gebrauch machen will, zu prüfen, ob weitere Beschränkungen möglich sind und ob, falls das aus tatsächlichen Gründen ausscheidet, gleichwohl ein Durchfahrverbot erlassen werden darf. Das setzt wie auch sonst bei Fragen des Lärmschutzes6 voraus, dass in einer Gesamtschau den konkreten Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls umfassend Rechnung getragen wird. Ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die Mitbetroffenheit sonstigen Verkehrs in der gebotenen Weise berücksichtigt hat, ist Teil der Prüfung, ob sie ihr Ermessen fehlerfrei, insbesondere unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, ausgeübt hat.
Die gerichtliche Kontrolle einer behördlichen Ermessensentscheidung ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO auf die Überprüfung beschränkt, ob der Verwaltungsakt deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Zu prüfen ist dabei auch die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit7.
Die Berücksichtigung des Verhältnisses von tatsächlichem Mautausweichverkehr und sonstigem mitbetroffenen Durchgangsverkehr erübrigt sich hier nicht deshalb, weil die dazu im Verkehrsgutachten aufgeführten Erkenntnisse „überobligationsgemäß“ ermittelt worden seien. Zwar wird in der Begründung der Änderungsverordnung der Vorteil der Eingriffsbefugnis, die der Straßenverkehrsbehörde mit § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO eröffnet wird, insbesondere in dem geringeren Verwaltungsaufwand gesehen, der mit einer solchen Anordnung im Vergleich zu den sonst in Betracht zu ziehenden Befugnisnormen der StraßenverkehrsOrdnung verbunden ist; so würden keine Lärmberechnung und keine Abgasmessung vorausgesetzt. Gleichwohl sieht es auch der Verordnungsgeber als selbstverständlich an, dass vorher auf der Ausweichstrecke insbesondere die Verkehrsbelastung und die Verkehrsstrukturen erhoben werden und auf dieser Grundlage die Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Anlieger abgeschätzt, der Verkehrsablauf und das Verkehrsverhalten betrachtet sowie die wirtschaftlichen Belange abgeklärt werden8. Es liegt angesichts der § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO zugrunde liegenden Zielrichtung auf der Hand, dass zu den danach abzuklärenden Verkehrsstrukturen und wirtschaftlichen Belangen auch die Auswirkungen eines Durchfahrverbotes auf den Verkehr mit schweren Nutzfahrzeugen zählen, der auf dieser Strecke bereits vor der Einführung der Autobahnmaut stattgefunden hat, und der deshalb nicht dem Mautausweichverkehr zuzurechnen ist. Selbst wenn diese Zahlen nicht immer im Wege eines Verkehrsgutachtens auf der Grundlage einer Verkehrszählung und befragung erhoben werden müssen, so darf die Straßenverkehrsbehörde bei der Ermessensausübung die so gewonnenen Erkenntnisse nicht einfach ausklammern. Gibt sie ein solches Gutachten in Auftrag, um ihre Entscheidung abzusichern, müssen – im Gegenzug – die dadurch gewonnenen Erkenntnisse auch umfassend berücksichtigt werden. Ebenso wenig trifft der Einwand des Beklagten zu, der Berücksichtigung des genannten Verhältnisses stehe entgegen, dass der Tatbestand des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO keine feste Mindestrelation des tatsächlichen Mautausweichverkehrs nenne; denn die tatbestandlichen Voraussetzungen, welche die Ausübung des Ermessens eröffnen, beschreiben die bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Umstände keineswegs abschließend.
Allerdings darf dem abstrakten Verhältnis von Mautausweichverkehr und sonstigem mitbetroffenen Durchgangsverkehr kein zu hohes Gewicht beigemessen werden. Dieses Verhältnis erlangt Aussagekraft stets nur unter Berücksichtigung der sonstigen Umstände, die nach dem Zweck der Ermächtigung im konkreten Fall von Bedeutung sind. In die Bewertung der Angemessenheit eines Durchfahrverbotes einzustellen sind daher auch das Ausmaß der wirtschaftlichen Belastung der vom Durchfahrverbot betroffenen Unternehmen einerseits und die sich durch die Mautflucht gegenüber der Vorbelastung ergebende Zusatzbelastung für die Anwohner sowie die durch ein Durchfahrverbot erzielbare Verbesserung der Immissionssituation andererseits.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich deshalb in seinem Urteil vom 13. März 2008 auf die Aussage beschränkt, dass eine auf § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO gestützte Maßnahme nach Möglichkeit auf die Mautflüchtigen zu beschränken sei, und dort nicht etwa eine feste Grenze gezogen, ab welchem Anteil von einem Durchfahrverbot mitbetroffener Nichtmautflüchtiger sich eine solche Maßnahme als nicht mehr angemessen im Sinne des Übermaßverbotes erweist. Eine ausschließlich oder schwerpunktmäßig auf diese Relation beschränkte Betrachtung verbietet sich deshalb, weil sich die jeweilige Belastung der Anwohner, die Grund für die Anordnung eines Durchfahrverbotes gibt, vornehmlich danach unterscheidet, welchen absoluten Umfang der zusätzliche Mautausweichverkehr – bei gleichem prozentualem Verhältnis zum auf der Strecke ohnehin verkehrenden Schwerlastverkehr – annimmt. Ebenso wenig bildet das vom Berufungsgericht hervorgehobene Zahlenverhältnis auf der Seite der Adressaten eines Durchfahrverbots die Erschwernisse und Belastungen hinreichend ab, die sich durch eine solche Sperrung sowohl für den tatsächlichen Mautausweichverkehr als auch für die bisherigen Nutzer der Strecke ergeben. Die Nachteile werden – neben den Mautkosten als solchen – vor allem dadurch bestimmt, in welchem Umfang es zu Umwegen und Zeitverlusten kommt. Führt die Benutzung der Autobahn dagegen zu einer Verkürzung der Wegstrecke oder durch die dort möglichen höheren Geschwindigkeiten zu einer Zeitersparnis, ist die Situation trotz gleicher Relation von tatsächlichem Mautfluchtverkehr und sonstigem ebenfalls „ausgesperrtem“ Verkehr anders zu beurteilen. Diesen im Einzelfall zu berücksichtigenden Umständen wird auch die Auffassung der Klägerinnen, ein Durchfahrverbot sei jedenfalls immer dann unverhältnismäßig, wenn der tatsächliche Mautfluchtverkehr zahlenmäßig hinter dem mitbetroffenen Schwerverkehr zurückbleibe, nicht gerecht. Eine solche Betrachtung verkürzt die bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit maßgebliche Gesamtschau in unzulässiger Weise. Sie kann insbesondere nicht auf das Gegensatzpaar von Haupt- und Nebenfolge reduziert werden, zumal diese Begriffe schon selbst, je nachdem, welchen Bezugspunkt man wählt, eine erhebliche Unschärfe aufweisen.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 3 C 40.10
- BGBl I S. 3714[↩]
- vom 12.06.1990, BGBl I S. 1036[↩]
- BVerwG, Urteil vom 13.03.2008 – 3 C 18.07, BVerwGE 130, 383, 392 f. Rn. 33 ff.[↩]
- BVerwG, a.a.O. Rn. 38[↩]
- vgl. BR-Drucks 824/05 S. 4 f.[↩]
- vgl. etwa Beschluss vom 19.02.1992 – 4 NB 11.91, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 63 Rn. 13 ff. m.w.N.[↩]
- vgl. zu Geschwindigkeitsbeschränkungen Urteil vom 05.04.2001 – 3 C 23.00, Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 41 S. 21[↩]
- BR-Drucks 824/05 S. 8[↩]