Elternnachzug bei einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling

Der Nach­zugs­an­spruch zu einem un­be­glei­te­ten min­der­jäh­ri­gen Flücht­ling nach § 36 Abs. 1 Auf­en­thG steht je­den­falls bei gleich­zei­ti­ger oder in zeit­li­chem Zu­sam­men­hang ste­hen­der An­trag­stel­lung bei­den El­tern­tei­len zu. Wird einem El­tern­teil das Visum rechts­wid­rig ver­sagt, darf sei­nem Nach­zugs­be­geh­ren die vor­ge­zo­ge­ne Ein­rei­se des an­de­ren El­tern­teils nicht ent­ge­gen­ge­hal­ten wer­den.

Elternnachzug bei einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling

Der An­spruch auf Nach­zug der El­tern nach § 36 Abs. 1 Auf­en­thG be­steht nur bis zu dem Zeit­punkt, zu dem das Kind voll­jäh­rig wird. An­ders als beim Kin­der­nach­zug nach § 32 Auf­en­thG reicht eine An­trag­stel­lung vor Er­rei­chen der je­wei­li­gen Höchst­al­ters­gren­ze nicht aus, um den An­spruch zu er­hal­ten.

El­tern haben die Mög­lich­keit, ihren Vi­su­m­an­spruch aus § 36 Abs. 1 Auf­en­thG mit Hilfe einer einst­wei­li­gen An­ord­nung nach § 123 VwGO recht­zei­tig vor Er­rei­chen der Voll­jäh­rig­keit des Kin­des durch­zu­set­zen, ohne dass ihnen der Ein­wand der Vor­weg­nah­me der Haupt­sa­che ent­ge­gen­ge­hal­ten wer­den kann.
Nach § 36 Abs. 1 AufenthG ist den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis – und vor der Einreise gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein Visum – zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Die Vorschrift wurde durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 neu eingeführt und setzt Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG um1. Sie dient dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern.

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Der Nachzugsanspruch nach § 36 Abs. 1 AufenthG steht beiden Elternteilen zu. Das ergibt sich schon aus dem insoweit klaren Wortlaut („den Eltern“), und nur dieses Verständnis der Vorschrift entspricht auch einer korrekten Umsetzung der Richtlinie 2003/86/EG. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG erlegt den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf, zugunsten eines minderjährigen unbegleiteten Flüchtlings den Nachzug „seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades“ zu gestatten. Damit gewährt die Richtlinie grundsätzlich beiden Eltern einen Nachzugsanspruch und nicht nur einem Elternteil2. Denn die Vorschrift dient dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern3. Nach Art. 24 Abs. 3 GR-Charta hat jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen. Die Wiederherstellung dieser persönlichen Beziehung zu den Eltern fällt zudem in den Schutzbereich des Familienlebens nach Art. 7 GR-Charta, Art. 8 EMRK.

§ 36 Abs. 1 AufenthG ist auch nicht etwa teleologisch zu reduzieren, wenn neben dem unbegleiteten Sohn in Deutschland weitere minderjährige Kinder im Heimatland zu betreuen sind. Denn die Entscheidung über die Sorge für ihre Kinder obliegt gemäß Art. 6 Abs. 2 GG vorrangig den Eltern4. Es sind keine Gründe ersichtlich, warum im vorliegenden Fall das Kindeswohl eine Korrektur der elterlichen Entscheidung gebieten sollte.

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Der Nachzugsanspruch der Mutter ist auch nicht dadurch erloschen, dass der minderjährige Sohn seit Anfang März 2010 nicht mehr ohne elterlichen Beistand war, nachdem sein Vater mit dem ihm erteilten Visum nach Deutschland eingereist war. Die gegenteilige Auffassung kann sich zwar auf den Wortlaut des § 36 Abs. 1 AufenthG stützen, der einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nur dann vorsieht, „wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält“. Diese Einschränkung des grundsätzlich beiden Eltern zustehenden Nachzugsanspruchs findet eine Entsprechung in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG, wonach eine Person nur solange als „unbegleiteter“ Minderjähriger anzusehen ist, als sie sich „nicht tatsächlich in der Obhut“ eines für ihn verantwortlichen Erwachsenen befindet. Zwar greift der Nachzugsanspruch u.a. dann nicht, wenn von vornherein ein Elternteil mit dem Minderjährigen nach Deutschland eingereist ist oder ihn dort in Empfang genommen hat, denn dann war er nicht unbegleitet. Demgegenüber ist die Voraussetzung, dass sich kein sorgerechtsberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält, jedenfalls auch dann erfüllt, wenn ein Elternteil zeitgleich oder in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem anderen Elternteil den Lebensmittelpunkt ins Bundesgebiet verlagert1. In den zuletzt genannten Fällen erfordert die effektive Durchsetzung des Minderjährigenschutzes nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG, dass die für den Familiennachzug und die Visumerteilung zuständigen Behörden den grundsätzlich beiden Eltern zustehenden Nachzugsanspruch nicht durch eine rechtswidrige Verwaltungspraxis vereiteln können. Das wäre aber der Fall, wenn die Behörden ein Visum zum Familiennachzug nur einem Elternteil – trotz gleichzeitiger Antragstellung beider Eltern – erteilten und dem anderen dann entgegenhalten könnten, das Kind sei jetzt nicht mehr ohne elterlichen Beistand.

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Der Nachzugsanspruch der Eltern ist allerdings mit Eintritt der Volljährigkeit ihres Sohnes erloschen. Denn der Anspruch auf Nachzug der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG besteht nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind volljährig wird. Anders als beim Kindernachzug nach § 32 AufenthG reicht eine Antragstellung vor Erreichen der Volljährigkeit nicht aus, um den Anspruch zu erhalten.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9.12

  1. vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 176[][]
  2. so auch Hailbronner/Carlitz, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 253 Rn. 9[]
  3. vgl. die Kommissionsbegründung zur Richtlinie vom 01.12.1999 – KOM, 1999 638 endgültig, S. 17 f.[]
  4. so auch Marx, in: GK-AufenthG, § 36 Stand: Februar 2013, Rn. 25[]