Elternnachzug – und die Vermeidung einer Familientrennung

§ 36 Abs. 1 AufenthG regelt in Umsetzung des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a Richtlinie 2003/86/EG den Elternnachzug zu einem „unbegleiteten Minderjährigen“.

Elternnachzug – und die Vermeidung einer Familientrennung

Liegen die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nach §§ 27 ff. AufenthG nicht vor, lässt sich eine mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nicht zu vereinbarende Familientrennung über die Erteilung eines Visums aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 AufenthG vermeiden.

Dass die Behörden und Gerichte sich bei der Anwendung des Aufenthaltsgesetzes auch über zwingende gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen – hier das Wohnraumerfordernis nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei der Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs zu einem Ausländer – hinwegsetzen dürfen und – auch jenseits der Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung – mit Blick auf Art. 6 GG ggf. müssen, ist den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts1 weder ausdrücklich noch konkludent zu entnehmen. Vielmehr wird sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch des Bundesverwaltungsgerichts immer wieder betont, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 GG keinen unmittelbaren Aufenthaltsanspruch gewähren2. Damit besteht erst Recht kein Anspruch auf einen bestimmten Aufenthaltstitel bei Nichtvorliegen der gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen. Das Verwerfungsmonopol für verfassungswidrige Vorschriften liegt allein beim Bundesverfassungsgericht.

Nach § 36 Abs. 1 AufenthG kann den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der einen der in den Vorschriften aufgezählten (humanitären) Aufenthaltstitel besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, „wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält“. Diese Vorschrift wurde durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 20073 eingeführt und setzt Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22.09.2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung4 – sog. Familiennachzugsrichtlinie – um, der den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, zugunsten eines „minderjährigen unbegleiteten Flüchtlings“ den Nachzug seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zu gestatten5. Sie dient dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern6. Nach der unionsrechtlichen Legaldefinition in Art. 2 Buchst. f Richtlinie 2003/86/EG bezeichnet der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger“ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind. Dies ist in Bezug auf die in Deutschland lebenden Kinder des Flüchtlings ersichtlich nicht der Fall, da sie zusammen mit ihrer leiblichen Mutter in das Bundesgebiet eingereist bzw. erst hier zur Welt gekommen sind. Damit kommt ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen nach den §§ 27 ff. AufenthG hier allenfalls auf der Grundlage der Auffangregelung des § 36 Abs. 2 AufenthG in Betracht.

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Im Übrigen handelt es sich bei dem vom Berufungsgericht bei der Prüfung eines Anspruchs nach § 36 Abs. 2 AufenthG herangezogenen Wohnraumerfordernis nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG um eine in die Sphäre des Ausländers fallende Erteilungsvoraussetzung, deren Erfüllung ihm – nicht zuletzt aufgrund der Berücksichtigung der Unterkunftskosten nach § 22 SGB II, § 35 SGB XII – in aller Regel möglich und zumutbar ist. Gegenteiliges hat der Flüchtling im Berufungsverfahren weder vorgetragen noch unter Beweis gestellt. Auch die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht in einer Unterkunft für Wohnungslose eingewiesene Lebensgefährtin des Flüchtlings und Mutter seiner Kinder hat bei ihrer Vernehmung als Zeugin lediglich angegeben, dass sie in Kürze (wieder) Aussicht auf eine eigene Wohnung habe. Damit verfügt die Familie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zwar im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht über ausreichenden Wohnraum. Es liegen aber keine Anhaltspunkte dafür vor, dass trotz Ausnutzung aller zumutbaren Bemühungen die Anmietung einer ausreichend großen Wohnung auf Dauer nicht möglich ist und damit die von der Beschwerde unterstellte Gefahr einer dauerhaften Familientrennung besteht.

Dessen ungeachtet ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt, dass der, a href=“https://www.kinderrechtskonvention.info/“ title=“UN-Kinderrechtskonvention“ target=“_blank“UN-Kinderrechtskonvention</a kein unmittelbarer Anspruch auf einen voraussetzungslosen Familiennachzug und einen unbedingten Vorrang des Kindeswohls vor entgegenstehenden öffentlichen Belangen zu entnehmen ist7 und dass den Behörden und Gerichten eine völkerrechtskonforme Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts nur im Rahmen vertretbarer Auslegungsspielräume möglich ist, etwa bei der Auslegung von Rechtsbegriffen oder bei der Konkretisierung von Generalklauseln auf der Ebene der Gesetzesinterpretation oder auf der Ebene der Ermessensausübung, nicht hingegen wenn ein entgegenstehender gesetzgeberischer Wille eindeutig zum Ausdruck gekommen ist8.

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Nach Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Familiennachzug-Richtlinie 2003/86/EG verlangen die Mitgliedstaaten abweichend von Art. 7 Richtlinie 2003/86/EG in Bezug auf Anträge betreffend die in Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 2003/86/EG genannten Familienangehörigen von einem Flüchtling und/oder einem (den) Familienangehörigen keinen Nachweis, dass der Flüchtling die in Art. 7 Richtlinie 2003/86/EG genannten Bedingungen erfüllt. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass danach bei der Familienzusammenführung von Flüchtlingen nur in Bezug auf Anträge, die den Nachzug der in Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 2003/86/EG genannten Familienangehörigen – Ehegatte und minderjährige Kinder des Zusammenführenden – betreffen; vom Wohnraumnachweis nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2003/86/EG abzusehen ist. Soweit insbesondere der Formulierung „Familienangehörigen von einem Flüchtling und/oder einem (den) Familienangehörigen“ etwas anderes entnommen wird, wird übersehen, dass die Regelung in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 Richtlinie 2003/86/EG nach ihrem klaren Wortlaut nur die in Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 2003/86/EG genannten Familienangehörigen eines Flüchtlings privilegiert und mit der Formulierung „Anträge […] von einem Flüchtling und/oder einem (den) Familienangehörigen“ lediglich dem Umstand Rechnung trägt, dass nach Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2003/86/EG ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt – abhängig von der Ausgestaltung im nationalen Recht – entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen gestellt werden muss.

Nach § 22 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dass dies – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – grundsätzlich auch möglich ist in Fällen, in denen die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nicht vorliegen, belegt bereits die Regelung zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (inzwischen § 36a AufenthG), wonach das Nichtbestehen eines Anspruchs auf Familiennachzug nicht die Anwendung der §§ 22, 23 AufenthG berührt. In diesem Sinne geht auch das Bundesverfassungsgericht beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten mit Blick auf die Regelung in § 104 Abs. 13 AufenthG a.F. davon aus, dass bei der Erteilung eines Visums zum Familiennachzug bei der Frage der Vereinbarkeit einschränkender Nachzugsregelungen mit Art. 6 GG zu berücksichtigen ist, inwieweit Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung zu tragen ist, insbesondere auch dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird9. Damit lassen sich mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und 24 GRC nicht zu vereinbarende Familientrennungen in besonderen Einzelfällen10 über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 AufenthG vermeiden, ohne dass es hierfür einer Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf.

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Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 4. Juli 2019 – 1 B 26.19

  1. vgl. insb. BVerfG, Urteil vom 31.08.1999 – 2 BvR 1523/99[]
  2. vgl. BVerwG, Urteil vom 30.07.2013 – 1 C 15.12, BVerwGE 147, 278 Rn. 15 m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerfG[]
  3. BGBl. I S.1970[]
  4. ABl. L 251 S. 12[]
  5. vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 176[]
  6. BVerwG, Urteil vom 18.04.2013 – 10 C 9.12, BVerwGE 146, 189 Rn. 12[]
  7. BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 – 10 C 16.12, Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 14 Rn. 24[]
  8. vgl. Cremer, InfAuslR 2018, 81, 85 unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 26.03.1987 – 2 BvR 589/79, BVerfGE 74, 358, 370[]
  9. BVerfG, Beschluss vom 20.03.2018 – 2 BvR 1266/17 – Asylmagazin 2018, 179[]
  10. BT-Drs.19/2438 S. 22[]

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