Erkennungsdienstliche Behandlung zur präventiv-polizeilichen Bekämpfung von Straftaten

Im Fall der Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens oder eines Freispruchs ist es erforderlich, dass noch Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen, die die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung zur präventiv-polizeilichen Bekämpfung von Straftaten rechtfertigen. Für die Annahme eines Restverdachts ist ein nach Würdigung der gesamten belastenden und entlastenden Umstände fortbestehender Tatverdacht zu fordern.

Erkennungsdienstliche Behandlung zur präventiv-polizeilichen Bekämpfung von Straftaten

Rechtsgrundlage für die erkennungsdienstliche Behandlung in einem solchen Fall ist § 81b Alt. 2 StPO. Danach dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist.

Materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Durchführung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen nach § 81b Alt. 2 StPO ist zunächst, dass der Betroffene „Beschuldigter“ ist. Dazu muss gegen ihn im Zeitpunkt der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung ein Straf- oder Ermittlungsverfahren geschwebt haben. Der spätere Wegfall der Beschuldigteneigenschaft durch Einstellung, Verurteilung oder Freispruch lässt die Rechtmäßigkeit der angeordneten Maßnahmen grundsätzlich unberührt1. Danach ist der Kläger Beschuldigter i. S. d. § 81b Alt. 2 StPO, da gegen ihn im Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Bescheides wegen gefährlicher Körperverletzung strafrechtlich ermittelt worden ist.

Die „Notwendigkeit“ der erkennungsdienstlichen Behandlung bemisst sich danach, ob der anlässlich des gegen den Betroffenen gerichteten Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach der Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz gemäß kriminalistischer Erfahrung in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls – insbesondere angesichts der Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen im strafrechtlichen Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, währenddessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist – Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig oder gegenwärtig in anderer Sache mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potenzieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte (Wiederholungsgefahr) und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen – den Betroffenen schließlich überführend oder entlastend – fördern könnten2.

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Die Wiederholungsgefahr ist aufgrund einer Gesamtschau unter Berücksichtigung aller Umstände der Anlasstat sowie ggf. weiterer in der Vergangenheit geführter strafrechtlicher Ermittlungsverfahren zu prüfen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholungsgefahr vorliegt, kann ein Tatvorwurf – auch hinsichtlich der Anlasstat – selbst dann berücksichtigt werden, wenn das Strafverfahren nach §§ 153 ff. StPO, § 170 Abs. 2 StPO oder § 45 JGG eingestellt worden ist3. Die Einstellung des Verfahrens bringt nämlich nicht zum Ausdruck, dass der Tatverdacht gegen den Betroffenen ausgeräumt wäre. Vielmehr wird darauf abgestellt, ob die Schuld des Täters als gering anzusehen ist (§ 153 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 45 JGG i.V.m. § 153 StPO), ob von der Anklage unter Auflagen und Weisungen abgesehen werden kann, weil die Schwere der Schuld nicht entgegen steht (§ 153a Abs. 1 Satz 1 StPO), oder ob die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage bieten (§ 170 Abs. 1 StPO), weil der Tatvorwurf wahrscheinlich bewiesen werden kann und die Überführung des Beschuldigten zu erwarten ist. Derartige Einschätzungen der Strafverfolgungsbehörde stehen einer Bewertung des zugrunde liegenden „Anfangsverdachts“ sowie des Ermittlungsergebnisses nach den Maßstäben kriminalistischer Erfahrung nicht entgegen. Vielmehr ist unter Würdigung der gesamten Umstände des Falles die Frage zu beantworten, ob mit der Einstellung eines Strafverfahrens der Tatverdacht gegen den Beteiligten vollständig entfallen ist oder ob ein sogenannter Restverdacht gegeben ist, weshalb begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beteiligte auch zukünftig Anlass zu polizeilichen Ermittlungen geben kann. Ein derartiger Restverdacht kann im Einzelfall nicht nur nach Einstellung des Strafverfahrens, sondern auch dann noch bestehen, wenn der Beteiligte wegen der Anlasstat freigesprochen worden ist4.

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Im Fall der Verfahrenseinstellung und eines Freispruchs ist es somit erforderlich, dass noch Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen, die die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung zur präventiv-polizeilichen Bekämpfung von Straftaten rechtfertigen. In Bezug auf das Erfordernis der Wiederholungsgefahr bedarf es in diesen Fällen einer eingehenden Würdigung aller hierfür relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Gründe für die Verfahrenseinstellung bzw. den Freispruch und der Prüfung, ob die Verdachtsmomente vollständig ausgeräumt sind5.

Soweit der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 27.12 20106 die Feststellung eines fortbestehenden hinreichenden Tatverdachts fordert, ist dies in Abgrenzung zu einer nicht erforderlichen strafgerichtlichen Schuldfeststellung erfolgt und dürfte nicht so zu verstehen sein, dass die Voraussetzungen nach § 203 StPO vorliegen müssen. Nach der Rechtsprechung und herrschenden Meinung ist der Angeschuldigte der ihm in der Anklageschrift zur Last gelegten Straftat hinreichend verdächtig, wenn nach vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit seiner Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweisen besteht7. Die Wahrscheinlichkeit der Beweisbarkeit des angeklagten Verhaltens ist aber nicht Maßstab dafür, ob der Tatverdacht entfallen ist und kann daher für die Prognose einer Wiederholungsgefahr keine Rolle spielen. In dem genannten Beschluss ist dann auch davon die Rede, dass ein begründeter Verdacht für die Begehung strafrechtlicher Handlungen ausreichend ist ( 10)).

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in mehreren Entscheidungen8 zum Wegfall des Restverdachts Folgendes ausgeführt: Für einen Ausschluss des Restverdachts bezüglich der Tatbegehung ist die unter Berücksichtigung aller Umstände gewonnene Überzeugung ausreichend, dass kein vernünftiger Mensch mehr an der Unschuld des Betroffenen zweifelt.

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Die nur theoretische Möglichkeit der Tatbegehung ohne das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte kann auch nach Auffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerihts einen Restverdacht nicht begründen. Mit der Formulierung „die unter Berücksichtigung aller Umstände gewonnene Überzeugung“ wird vorausgesetzt, dass die erforderliche Würdigung der gesamten belastenden und entlastenden Umstände stattgefunden hat. Zur Vermeidung von Auslegungsschwierigkeiten wird das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht sich zukünftig darauf beschränken, für die Annahme eines Restverdachts einen fortbestehenden Tatverdacht zu fordern.

Vorliegend ist allerdings hinsichtlich der Anlasstat trotz der Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens von einem fortbestehenden Tatverdacht (Restverdacht) gegen den Kläger auszugehen. Dafür spricht vorliegend schon, dass die Staatsanwaltschaft das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung auf der Grundlage von § 153 Abs. 1 StPO eingestellt hat, nachdem ein Täter-Opfer-Ausgleich gescheitert war. Nach der Einstellungsverfügung wurde das Verfahren im Hinblick auf nicht vorliegende Vorstrafen, die hinreichende Warnung, die von diesem Verfahren ausgehen dürfte, sowie nicht eingetretene schwerwiegende Verletzungen eingestellt, weil die Schuld des Beschuldigten als gering angesehen wurde und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht bestand. Damit ist die Staatsanwaltschaft von einem Tatverdacht ausgegangen. Diese Einschätzung ist aufgrund der Ergebnisse des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nicht zu beanstanden.

Im Rahmen der hinsichtlich der Wiederholungsgefahr anzustellenden Prognose ist auch zu berücksichtigen, dass der Betroffene bereits in der Vergangenheit strafrechtlich auffällig geworden ist.

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Die Gesamtschau dieser Verfahren zeigt, dass der Bettroffene dazu neigt, seine vermeintlich berechtigten Anliegen mit Drohungen und körperlicher Gewalt durchzusetzen, und vor der Begehung von Straftaten wie Körperverletzungen nicht zurückschreckt. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger sein Verhalten zukünftig ändern wird. Der Umstand, dass es bisher zu keinen weiteren strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Kläger gekommen ist, dürfte dem vorliegenden Verfahren geschuldet sein und spricht nicht gegen eine Wiederholungsgefahr.

Die erkennungsdienstliche Behandlung erweist sich auch als verhältnismäßig. Wegen der Begrenzung auf das notwendige Maß darf die Schwere des mit der erkennungsdienstlichen Maßnahme verbundenen Grundrechtseingriffs im Einzelfall nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht des mit der Maßnahme verfolgten öffentlichen Interesses insbesondere an der Aufklärung künftiger Straftaten stehen9.

Bedenken gegen die Erforderlichkeit der angeordneten Maßnahmen bestehen vorliegend für das OVG Lüneburg ebenfalls nicht. Die zu erhebenden Daten entsprechen dem aus kriminalpolizeilicher Erfahrung erwachsenen erkennungsdienstlichen Standard. Eine besondere deliktstypische oder schutzgutspezifische Gefährdungslage, die die Erhebung einzelner Merkmale überflüssig erscheinen ließe, ist nach Lage der Dinge nicht festzustellen. Die Polizei hat die Maßnahmen im Einzelnen benannt und – mit der Begrenzung auf erkennungsdienstliche Standardmaßnahmen – auf das notwendige Maß beschränkt. Dass für die bisherigen Ermittlungsverfahren erkennungsdienstliche Unterlagen über den Betroffenen nicht erforderlich waren, ist nicht entscheidend. Denn es ist durchaus denkbar, dass für weitere Ermittlungsverfahren Personen, die diesen nicht persönlich kennen, zum Tathergang befragt werden müssen, wofür erkennungsdienstliche Unterlagen wie Fotos nützlich sein können.

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Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 20. November 2014 – 11 LB 15/14

  1. BVerwG, Urteil vom 23.11.2005 – BVerwG 6 C 2.0520, m. w. N.[]
  2. st. Rspr., vgl. nur BVerwG, Urteil vom 19.10.1982 – BVerwG 1 C 29.79, a. a. O., und v. 23.11.2005 – BVerwG 6 C 2.05, a. a. O.[]
  3. vgl. BVerwG, Urteil vom 23.11.2005 – BVerwG 6 C 2.05, a. a. O.; Oberverwaltungsgerichtsurt. v. 26.02.2009 – 11 LB 431/08, NdsVBl.2009, 202; OVG, Beschl. v. 12.08.2008 – 11 LA 257/08 – m. w. N.[]
  4. vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.10.2002 – 24 C 02.2268[]
  5. BVerfG, Beschluss vom 16.05.2002 – 1 BvR 2257/01, NJW 2002, 3231 11; OVG Saarland, Urteil vom 5.10.2012 – 3 A 72/12 61; OVG NRW, Beschluss vom 14.04.2010 – 5 A 479/09 37; Sächs. OVG, Beschluss vom 16.11.2009 – 3 B 355/08 4[]
  6. BayVGH, Beschluss vom 27.12.2010 – 10 ZB 10.2847 8, 9[]
  7. Karlsruher Kommentar zur StPO, § 203, Rn. 3[]
  8. erstmals Nds. OVG, Beschluss vom 12.09.2011 – 11 LA 209/11, juris; Urteil vom 19.02.2013 – 11 LB 151/12, Beschluss vom 7.10.2013 – 11 LA 65/13; Beschluss vom 28.10.2013 – 11 LA 94/13[]
  9. vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 08.05.2012 – 11 LB 41/12, m. w. N.[]