Will ein Ausländer zu seinem bereits in Deutschland lebenden ausländischen Ehepartner nachziehen, muss grundsätzlich der Unterhaltsbedarf beider Eheleute sowie der mit ihnen zusammen lebenden minderjährigen Kinder gedeckt sein. Es reicht nicht aus, wenn der nachziehende Ehegatte mit seinen Einkünften bei isolierter Betrachtung zwar seinen eigenen Bedarf sicherstellen könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber auf öffentliche Sozialleistungen angewiesen ist, entschied jetzt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

Der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts lag der Fall eines 37-jährigen türkischen Staatsangehörigen zugrunde, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte nach § 30 Abs. 1 AufenthG erstrebt. Er heiratete 2002 eine in Deutschland lebende Türkin, mit der er drei Kinder hat. 2005 konnte er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland einreisen. Die ihm erteilte Aufenthaltserlaubnis enthielt den Zusatz, dass sie bei Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II oder XII erlischt. Die Ehefrau des Klägers bezog ab September 2006 Leistungen nach dem SGB II. Deshalb lehnte das beklagte Land Berlin 2008 den Antrag des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab. Das Verwaltungsgericht Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen1, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat das beklagte Land auf die Berufung des Klägers hingegen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet2. Es ist der Auffassung, dass es für die Sicherung des Lebensunterhalts genügt, wenn diese Erteilungsvoraussetzung beim beantragenden Ausländer selbst vorliegt, wenn also der Unterhaltsbedarf des nachziehenden Ausländers selbst gedeckt ist. Das ist hier der Fall, denn das Einkommen des Klägers deckt seinen eigenen Unterhaltsbedarf. Das beklagte Land Berlin ist hingegen der Überzeugung, dass auch der Unterhalt der weiteren zur Bedarfsgemeinschaft zählenden Familienangehörigen gedeckt sein muss, was hier nicht der Fall ist, weil die Frau und der Sohn des Klägers Sozialhilfeleistungen beziehen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat nun jedoch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg aufgehoben. Ein Anspruch auf Familiennachzug setzt, so das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilsgründen, in der Regel voraus, dass jedenfalls der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft – hier also des Klägers, seiner Ehefrau und des minderjährigen Sohnes – ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Das ist hier nicht der Fall, vielmehr bezieht die Familie weiterhin Sozialleistungen nach dem SGB II. Dass es auf den Unterhaltsbedarf der Bedarfsgemeinschaft ankommt, ergibt sich daraus, dass das Aufenthaltsgesetz insoweit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweist, die bei erwerbstätigen Personen nach den Regeln des SGB II zu ermitteln sind (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dieser Verweis umfasst grundsätzlich auch die dortigen Regeln über die Hilfebedürftigkeit und die Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB II. Dass der Gesetzgeber beim Familiennachzug von einer Gesamtbetrachtung der Familie ausgeht, bestätigt auch die Regelung, nach der beim Familiennachzug Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen zu berücksichtigen sind (§ 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die Einkünfte des Nachziehenden dienen daher nicht der vorrangigen Deckung seines eigenen Bedarfs.
Da es sich bei der Sicherung des Lebensunterhalts um eine Regelerteilungsvoraussetzung handelt (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), bleibt allerdings zu prüfen, ob hiervon eine Ausnahme zu machen ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie3 es gebieten. Hierbei ist neben dem Grad der Integration der Familie in Deutschland auch zu berücksichtigen, wie hoch der verbleibende Anspruch der Familie auf Sozialleistungen ist und in welchem Umfang der Nachziehende zum Familienunterhalt beiträgt. In diesem Zusammenhang entschied das Bundesverwaltungsgericht jedoch, dass bei der Berechnung des Unterhaltsbedarfs im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II) nicht zu Lasten des Ausländers anzurechnen ist. Insoweit entsprach das Bundesverwaltungsgericht der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Bei der Werbungskostenpauschale (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II) wird dem Gebot der individuellen Prüfung des tatsächlichen Bedarfs dadurch Rechnung getragen, dass der Ausländer einen geringeren Bedarf als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachweisen kann. Da das Berufungsurteil zum Vorliegen eines Ausnahmefalles keine Feststellungen enthält, war das Verfahren zur weiteren Aufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. November 2010 – 1 C 20.09