Minderjährigen Kindern kann der Nachzug zu ihrer Mutter, die berechtigt im Bundesgebiet mit ihrem Sohn deutscher Staatsangehörigkeit in häuslicher Gemeinschaft lebt, wegen fehlender Sicherung des Lebensunterhalts verweigert werden. Dem steht auch europäisches Unionsrecht nicht entgegen, denn in den Kernbestand der Unionsbürgerschaft des deutschen Halbbruders wird dadurch nicht eingegriffen, da er nicht gezwungen ist, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn seine Mutter über ein gesichertes Aufenthaltsrecht verfügt. Die Situation ist insoweit nicht vergleichbar mit der eines minderjährigen Kindes, das infolge der Aufenthalts- oder Arbeitsverweigerung gegenüber seinen Eltern gezwungen ist, mit ihnen auszureisen.

Zwar steht Art.20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird, insbesondere das Rechts aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Das Unionsrecht kann daher unter bestimmten Umständen auch bei Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der von seinem Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch gemacht hat, einer Aufenthaltsverweigerung im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers entgegenstehen1.
Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestandes der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich dabei auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaates, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes. Diesem Kriterium kommt insofern ein ganz besonderer Charakter zu, als es Sachverhalte betrifft, in denen – obwohl das das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen betreffende abgeleitete Recht nicht anwendbar ist – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Staatsbürgers eines Mitgliedstaats ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft der letztgenannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde2. Anders als in der Rechtssache Zambrano, die minderjährige Unionsbürger und die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für deren drittstaatsangehörigen Eltern betraf, hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache McCarthy zur Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für den drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers entschieden, dass dem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der mit dem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte nicht verwehrt würde, weil die Aufenthaltsverweigerung für den drittstaatsangehörigen Ehegatten nicht bewirkt, dass der Unionsbürger verpflichtet wäre, das Hoheitsgebiet der Union zu verlassen. Aufgrund seiner Staatsangehörigkeit steht ihm im Herkunftsmitgliedstaat ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht zu3. Die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, rechtfertigt für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde4.
Wie im Fall des drittstaatsangehörigen Ehegatten bewirkt die Aufenthaltsverweigerung für die Klägerinnen keinen staatlichen Zwang für ihre Mutter, das Hoheitsgebiet der Union mit ihrem Sohn – deutscher Staatsangehörigkeit – zu verlassen, denn sie verfügt mit Blick auf das deutsche Kind über ein gesichertes Aufenthaltsrecht. Der Fall ist nicht mit der Situation vergleichbar, in der ein minderjähriges Kind mit der Stellung eines Unionsbürgers durch die Aufenthaltsverweigerung für seine Eltern gleichsam gezwungen wird, in den Drittstaat auszureisen. Das wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Verwaltungsgericht für die Zumutbarkeit der Aufenthaltsverweigerung darauf abgestellt hat, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft auch im Heimatstaat der Klägerinnen gelebt werden könne. Damit wird nämlich nur eine mögliche Variante zur Erreichung des angestrebten Ziels eines gemeinsamen Familienlebens aufgezeigt, die den Klägerinnen und ihrer Mutter grundsätzlich offensteht und begründet, weshalb von der – fehlenden – Sicherung des Lebensunterhalts nicht abgesehen werden konnte. Die Situation der Klägerinnen ist auch deshalb nicht mit dem Fall Zambrano vergleichbar, weil sie in ihrem wesentlichen Ausgangspunkt nicht durch Maßnahmen des Mitgliedstaates, sondern dadurch ausgelöst wurde, dass die Mutter der Klägerinnen diese im Alter von fünf und neun Jahren in Vietnam zurückgelassen hat und der Unionsbürger erst danach geboren wurde.
Aus dem gleichen Grund steht die von den Klägerinnen geltend gemachte Beeinträchtigung des Freizügigkeitsgrundrechts ihres Halbbruders aus Art. 11 GG der Versagung der begehrten Visa nicht entgegen, denn dieser wird wegen des gesicherten Aufenthalts seiner Mutter nicht grundsätzlich auf eine Ausreise und ein Familienleben im Ausland verwiesen. Insofern ist das familiäre Verhältnis von Halbgeschwistern zueinander nicht dem von Eheleuten vergleichbar5. Hinzu kommt, dass es sich bei der erforderlichen Lebensunterhaltssicherung in der Regel nicht um ein dauerhaftes Zuzugshindernis handelt. Angesichts dessen kommt es auf eine Grundrechtsmündigkeit des Halbbruders nicht an.
Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Februar 2013 – OVG 7 N 54.13
- vgl. EuGH, Urteile vom 05.05.2011 – Rs. C-434/09, McCarthy; und vom 08.03.2011 – Rs. C-34/09, Zambrano, EuGRZ 2011, 142; BVerwG, Urteil vom 22.06.2011 – 1 C 11.10, NVwZ 2012, 52[↩]
- EuGH, Urteile vom 15.11.2011 – Rs. C-256/11, Dereci u.a., InfAuslR 2012, 47 ff., Rn. 66, 67; vom 05.05.2011, a.a.O., Rn. 47-50; und vom 08.03.2011, a.a.O., Rn. 44[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 05.05.2011, a.a.O., Rn. 50[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 15.11.2011, a.a.O., Rn. 68[↩]
- vgl. zu letzterem: BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 – 10 C 12.12[↩]