Mit Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgericht wird das Oberverwaltungsgericht Gericht der Hauptsache gemäß § 123 Abs. 2 VwGO, ohne dass es einer Verweisung des Rechtsstreits bedarf.

Denn bereits mit Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgericht ist das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof Gericht der Hauptsache i.S.d. § 123 Abs. 2 VwGO geworden, ohne dass es einer Verweisung des Rechtsstreits bedarf.
Gemäß § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist für den Erlass einstweiliger Anordnungen das Gericht der Hauptsache zuständig. Diese akzessorische Zuständigkeitsregelung bildet – wie auch jene in § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO – eine Ausnahme zu dem in § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG angeordneten Grundsatz der perpetuatio fori. Deshalb richtet sich sowohl beim vorläufigen wie beim einstweiligen Rechtsschutz die gerichtliche Kompetenz für einen beim zuständigen Gericht angebrachten Anordnungsantrag, über den dieses noch nicht entschieden hat, ausnahmsweise danach, welche Instanz im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung oder den Erlass einer einstweiligen Anordnung Gericht der Hauptsache ist1.
Teleologisch wird diese dynamische Zuständigkeitsregelung von der Erwägung getragen, dass die gerichtliche Entscheidung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wegen des Prüfprogramms u. a. der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) ganz wesentlich von den Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren abhängt. Deswegen soll die Instanz, die im entscheidungserheblichen Zeitpunkt Gericht der Hauptsache ist, nach ihrer maßgeblichen Einschätzung der Erfolgsaussichten im Klageverfahren auch das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entscheiden. Dazu kommt, dass neues Vorbringen der Beteiligten im Hauptsacheverfahren mit Blick auf den glaubhaft zu machenden Anordnungsanspruch auch im Eilverfahren relevant sein kann.
Die akzessorische Kompetenzregelung hat der Gesetzgeber in § 123 Abs. 2 Satz 2 VwGO – nach dem Vorbild des § 943 Abs. 1 ZPO2 und insoweit abweichend von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO – lediglich im Hinblick auf das Bundesverwaltungsgericht in seiner Funktion als Revisionsgericht ohne tatrichterliche Kognitionsbefugnisse durchbrochen. Insoweit bleibt es bei der Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszugs3.
.2 Mit Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgericht wird das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof Gericht der Hauptsache i.S.d. § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO4. Denn bereits der Eingang des Zulassungsantrags beim Verwaltungsgericht löst für die Hauptsache den Devolutiveffekt aus. Dem Verwaltungsgericht verbleibt – anders als im Verfahren der Beschwerde gemäß § 148 Abs. 1 VwGO – keine Entscheidungskompetenz für eine Abhilfe, sondern es hat die Akten unverzüglich dem Oberverwaltungsgericht bzw. Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung vorzulegen.
Zwar ist das Prüfprogramm des Oberverwaltungsgerichts bzw. Verwaltungsgerichtshofs in dem durch einen Zulassungsantrag ausgelösten Zwischenverfahren auf die vom Rechtsmittelführer geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO beschränkt. Aber die gerichtliche Beurteilung, ob der in der Praxis dominante Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) durchgreift, steuert zugleich die Bewertung, ob der Anordnungsanspruch gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht worden ist. Wegen der zumindest partiell kongruenten Entscheidungsmaßstäbe im Berufungszulassungs- und Anordnungsverfahren spricht der Zweck des § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO dafür, die Entscheidungskompetenz über den Erlass einer einstweiligen Anordnung dem Oberverwaltungsgericht bzw. Verwaltungsgerichtshof bereits während des Zulassungsverfahrens zuzuweisen. Zusätzlich ist zu bedenken, dass das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof im Berufungszulassungsverfahren auch entscheidungserhebliches neues Vorbringen des Antragstellers zu berücksichtigen hat5, das für die Beurteilung der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs von Bedeutung sein kann.
Das Gegenargument, der auf die Anhängigkeit des Berufungsverfahrens abstellende Gesetzeswortlaut des § 123 Abs. 2 Satz 2 VwGO schließe die Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts bzw. Verwaltungsgerichtshofs während des auf Zulassung der Berufung gerichteten Zwischenverfahrens (§ 124a Abs. 4 und 5 VwGO) aus, hat demgegenüber kein entscheidendes Gewicht. Denn der seit Erlass der Verwaltungsgerichtsordnung unveränderte Wortlaut der Vorschrift geht noch von der früher geltenden Rechtslage der zulassungsfreien Berufung aus. Wie bereits ausgeführt, dient die dem § 943 Abs. 1 ZPO nachgebildete Regelung lediglich dem Zweck, die stark tatsachengeprägte Beurteilung der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes vom Bundesverwaltungsgericht in seiner Funktion als Revisionsgericht ohne tatrichterliche Kognitionsbefugnisse fernzuhalten. Es spricht alles für die Annahme des Antragstellers, dass es der Gesetzgeber bei Einführung des Berufungszulassungsverfahrens durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 01.11.19966 und den späteren Modifikationen des § 124a VwGO (Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess7 und Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz – 1. Justizmodernisierungsgesetz –8) entweder versäumt hat, den Wortlaut des § 123 Abs. 2 Satz 2 VwGO anzupassen oder mit Blick auf die Regelung in dem jetzigen § 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO für entbehrlich erachtet hat.
.3 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist – wie auch die Hauptsache – beim Verwaltungsgerichtshof mit Eingang des Zulassungsantrags beim Verwaltungsgericht anhängig geworden, ohne dass es einer Verweisung des Rechtsstreits bedurft hätte9. Der Wechsel der instanziellen Zuständigkeit tritt von Gesetzes wegen ein; die Akten sind lediglich abzugeben10. Zwar führt die gesetzliche Ausgestaltung als eigenständiges Nebenverfahren dazu, dass im Beschluss über den Erlass einer einstweiligen Anordnung eine selbständige; vom Ausgang des Hauptsacheverfahrens unabhängige Kostengrundentscheidung ergeht11. Aber teleologisch rechtfertigt die gesetzliche Anordnung des Zuständigkeitswechsels in § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO und § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die zusätzliche Annahme des automatischen Vollzugs durch Übergang der Anhängigkeit. Eine unnötigerweise ausgesprochene Verweisung des Anordnungsverfahrens würde eine Bindungswirkung auslösen, die einem eventuellen weiteren Zuständigkeitswechsel nach Erlass eines Berufungsurteils, das den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht gemäß § 130 Abs. 2 VwGO zurückverweist, entgegenstünde12.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 4. November 2021 – 6 AV 9.21
- BVerwG, Beschluss vom 05.01.1972 – 8 CB 120.71, BVerwGE 39, 229 <230> für Anträge nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl.2019, § 123 Rn. 30; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl.2021, § 123 Rn.19; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl.2018, § 123 Rn. 61; Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 123 Rn. 113b; a. A. Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl.2017, § 7 Rn. 54[↩]
- vgl. BT-Drs. 3/55 S. 44 a.E.[↩]
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.05.1980 – 4 C 80.79, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 8[↩]
- OVG Hamburg, Beschluss vom 20.11.1997 – Bs V 104/97 – < 2> OVG NRW, Beschluss vom 26.09.2006 – 18 B 2085/06 – < 3> OVG Lüneburg, Beschluss vom 22.06.2010 – 8 MC 148/10, NVwZ-RR 2010, 863; vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 09.07.1999 – 25 ZE 99.15 81, NVwZ 2000, 210; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl.2019, § 123 Rn. 28; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl.2021, § 123 Rn.19; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl.2018, § 123 Rn. 61; Redeker/von Oertzen, VwGO, 16. Aufl.2014, § 123 Rn. 26; Buchheister, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl.2020, § 123 Rn. 11; Wollenschläger, in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl.2018, § 123 Rn. 73; Haase/Huschens, in: Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 4. Aufl.2018, Rn. 162; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl.2017, § 7 Rn. 47; a.A. VG Freiburg, Beschluss vom 24.03.1999 – 4 K 484/99 – VBlBW 1999, 316; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl.2021, § 123 Rn. 34; Kuhla, in: Posser/Wolff, VwGO, 2. Aufl.2014, § 123 Rn. 23[↩]
- BVerwG, Beschlüsse vom 14.06.2002 – 7 AV 1.02, Buchholz 310 § 124b VwGO Nr. 1; und vom 11.11.2002 – 7 AV 3.02, Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 31[↩]
- BGBl. I S. 1626[↩]
- vom 20.12.2001, BGBl. I S. 3987[↩]
- vom 24.08.2004, BGBl. I S. 2198[↩]
- so BVerwG, Beschluss vom 05.01.1972 – 8 CB 120.71, BVerwGE 39, 229 <231> zu Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO[↩]
- Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl.2018, § 123 Rn. 63; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl.2021, § 123 Rn.19; Wollenschläger, in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl.2018, § 123 Rn. 74; a. A. Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 123 Rn. 113b; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl.2021, § 123 Rn. 35[↩]
- so BVerwG, Beschluss vom 02.03.2020 – Gr. Sen.01.19, BVerwGE 168, 39 Rn. 16 zu § 80 Abs. 5 VwGO[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 12.12.1975 – IV ARZ 9/75 – WM 1976, 134[↩]
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