Gesetzlicher Richter – und die mehrjährige Abordnung

Die grundsätzlichen Fragen zur Vereinbarkeit des Einsatzes abgeordneter Richterinnen und Richter mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.

Gesetzlicher Richter – und die mehrjährige Abordnung

Wegen der Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für den Rechtsschutzauftrag der Gerichte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz sind die Gerichte grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richtern zu besetzen. Die Verwendung von Richtern ohne diese Garantie der persönlichen Unabhängigkeit muss die Ausnahme bleiben. Das Grundgesetz setzt als Normalfall den Richter voraus, der unversetzbar und unabsetzbar ist1. Haben bei einer Entscheidung ohne zwingende Gründe Richter mitgewirkt, die nicht hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellt sind, so ist das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt2.

Richter, die nach dem Maßstab des Art. 97 Abs. 2 GG nicht in vollem Umfang persönliche Unabhängigkeit genießen – insbesondere Richter auf Probe und Richter kraft Auftrags, dürfen nur aus zwingenden Gründen und auf das unverzichtbare Maß beschränkt herangezogen werden. So gelten für die Heranziehung von Richtern auf Probe die Grenzen, die sich nach verständigem Ermessen aus der Notwendigkeit ergeben, Nachwuchs heranzubilden3. Zwingende Gründe liegen auch vor, wenn Richter zur Eignungserprobung abgeordnet werden4. Solche Gründe können ferner dann bestehen, wenn vorübergehend ausfallende planmäßige Richter durch die im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertreter nicht hinreichend ersetzt werden können oder wenn ein zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall aufzuarbeiten ist. Die Verwendung nicht vollständig persönlich unabhängiger Richter ist demgegenüber nicht gerechtfertigt, wenn die Arbeitslast des Gerichts nicht bewältigt werden kann, weil es unzureichend mit Planstellen ausgestattet ist oder weil die Justizverwaltung es versäumt hat, offene Planstellen binnen angemessener Frist zu besetzen5.

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Diese Grundsätze finden auch auf die Abordnung von auf Lebenszeit ernannten Richterinnen und Richtern Anwendung, wie der anerkannte Abordnungsgrund der Eignungserprobung, die allein diesen Personenkreis betrifft, belegt6.

Zwar verfügen die an ein anderes Gericht abgeordneten planmäßigen Richterinnen und Richter bezogen auf ihre Stammdienststelle über persönliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 97 Abs. 2 GG, sind aber durch diese nicht geschützt, soweit „das Abordnungsverhältnis betroffen“ ist7. Der Umstand, dass die Entscheidung über eine Abordnung sowie über sich gegebenenfalls anschließende Folgeabordnungen der Justizverwaltung obliegt, eröffnet dieser den kontrollierenden Zugriff darüber, ob der – abordnungswillige (vgl. das Zustimmungserfordernis in § 37 Abs. 1 DRiG) – Richter seine Tätigkeit an dem anderen Gericht aufnehmen oder – bezogen auf den Fall der Folgeabordnung – dort fortführen darf8. Mit der Begrenzung solcher Einwirkungsmöglichkeiten soll der Gefahr des „Belohnens“ oder „Abstrafens“ für ein bestimmtes Entscheidungsverhalten begegnet werden9. Hinzu kommt, dass die richterliche Unabhängigkeit auch durch die amtsangemessene Besoldung der Richterinnen und Richter zu gewährleisten ist10. Damit geriete es in Konflikt, wenn Richterinnen und Richter, auch wenn sie bereits auf Lebenszeit ernannt sind, auf Grundlage einer Abordnung auf Dauer die Tätigkeit eines statushöheren Amtes ausübten.

Die Feststellung eines – eine Abordnung rechtfertigenden – zeitweiligen außergewöhnlichen Arbeitsanfalls in Abgrenzung zu einer unzureichenden Ausstattung des Gerichts mit planmäßigen Richterinnen und Richtern erfordert die Prognose, dass an einem konkreten Gericht mit dem vorhandenen Personal bei regelgerechter Bearbeitung der Streitsachen überlange Verfahrenslaufzeiten (§ 198 GVG) drohen, aber die Schaffung weiterer Lebenszeitstellen nicht gerechtfertigt erscheint. Maßgebliche Prognosegrundlage ist die für einen überschaubaren Zeitraum zu erwartende Eingangsbelastung. Eine zu erwartende Dauerbelastung des Gerichts kann die Abordnung eines planmäßigen Richters – auch nicht in der Erwartung, diese werde sich in fernerer Zukunft reduzieren – nicht rechtfertigen11.

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Die vorstehenden Maßgaben binden nicht nur die Justizverwaltung, welche die im Stellenplan des Haushaltsgesetzes ausgebrachten Planstellen den einzelnen Gerichten bedarfsgerecht zuzuweisen und zu besetzen hat, sondern auch und insbesondere den Haushaltsgesetzgeber, der für eine zureichende Personalausstattung der Justiz insgesamt Sorge tragen muss. Haushaltsrechtliche Sparzwänge erlauben keine Alternative zur Ernennung von Richtern auf Lebenszeit12.

Im konkreten Fall sah das Bundesverfassungsgericht diese Grenze als überschritten an: Ausweislich der Stellungnahmen der (früheren) Präsidentin des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern, denen das Landesjustizministerium nicht entgegengetreten ist, erfolgte der mehrjährige Einsatz des abgeordneten Richters am Sozialgericht über die Zeit der Eignungserprobung hinaus aufgrund einer unzureichenden Planstellenausstattung des Landessozialgerichts, die dem Ministerium über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg mehrfach angezeigt wurde. Eine solche strukturell unzureichende Planstellenausstattung vermochte nach den vorstehenden Maßstäben die (Folge-)Abordnung des Richters am Sozialgericht an das Landessozialgericht nicht zu rechtfertigen, sodass der Xenat nicht ordnungsgemäß besetzt und die Beschwerdeführerin durch den Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt war.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. November 2022 – 1 BvR 1623/17

  1. vgl. BVerfGE 4, 331 <345>[]
  2. vgl. BVerfGE 14, 156 <162> 148, 69 <95 Rn. 66> BVerfGK 10, 355 <358 f.>[]
  3. vgl. BVerfGE 4, 331 <345> 14, 156 <162>[]
  4. vgl. BVerfGE 148, 69 <95 f. Rn. 67> BVerfG, Beschluss vom 22.06.2006 – 2 BvR 957/05, Rn. 7[]
  5. BVerfGE 14, 156 <164 f.> 148, 69 <95 f. Rn. 67>[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.06.2006 – 2 BvR 957/05, Rn. 7[]
  7. vgl. BVerfGE 148, 69 <93 f. Rn. 63> Meyer, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl.2021, Art. 97 Rn. 119[]
  8. vgl. zu ähnlichen Erwägungen betreffend die Wiederernennung eines Richters auf Zeit: BVerfGE 148, 69 <128 f. Rn. 147>[]
  9. vgl. BVerfGE 148, 69 <91 Rn. 59>[]
  10. vgl. BVerfGE 139, 64 <122 Rn. 121>[]
  11. vgl. BVerfGE 148, 69 <118 f. Rn. 121 ff.> zum Einsatz von Richtern auf Zeit nach § 18 VwGO[]
  12. vgl. BVerfGE 148, 69 <119 Rn. 123>[]
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