Bei den Anforderungen, die nach dem Sichtbarkeitsgrundsatz im ruhenden Verkehr an die Erkennbarkeit und Erfassbarkeit von Verkehrszeichen und an die dabei von den Verkehrsteilnehmern zu beachtende Sorgfalt zu stellen sind, ist danach zu unterscheiden, ob sie den ruhenden oder den fließenden Verkehr betreffen.

Verkehrszeichen für den ruhenden Verkehr äußern ihre Rechtswirkungen gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht, wenn sie so aufgestellt sind, dass ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt und ungestörten Sichtverhältnissen während der Fahrt oder durch einfache Umschau beim Aussteigen ohne Weiteres erkennen kann, dass ein Ge- oder Verbot durch ein Verkehrszeichen verlautbart wurde. Zu einer Nachschau ist der Verkehrsteilnehmer nur verpflichtet, wenn hierfür ein Anlass besteht.
In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall wandte sich ein Autofahrer gegen die Auferlegung einer Gebühr für die Umsetzung eines Kraftfahrzeugs. Er hatte dieses Fahrzeug im September 2010 in Berlin in einem Straßenabschnitt geparkt, wo wegen eines am nächsten Tag stattfindenden Straßenfestes durch vorübergehend angebrachte Verkehrszeichen ein absolutes Haltverbot (Zeichen 283) ausgeschildert war. Die Behörde veranlasste die Umsetzung dieses Fahrzeugs durch ein Abschleppunternehmen und nahm den Autofahrer auf Zahlung einer Umsetzungsgebühr in Höhe von 125 € in Anspruch. Hiergegen wandte der Kläger u.a. ein, die Verkehrszeichen seien nicht mit einem raschen und beiläufigen Blick erkennbar gewesen; daher seien die Haltverbote nicht wirksam bekanntgemacht worden.
Die Klage des Autofahrers ist in den Vorinstanzen vor dem Verwaltungsgericht Berlin1 und dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg2 ohne Erfolg geblieben. Nach dem sogenannten Sichtbarkeitsgrundsatz habe ein Verkehrszeichen, so das Oberverwaltungsgericht, Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnehme oder nicht, wenn es so aufgestellt oder angebracht sei, dass es ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon mit einem raschen und beiläufigen Blick erfassen könne. In Rechtsprechung und Literatur sei anerkannt, dass dieser „Sichtbarkeitsgrundsatz“ nicht ohne Rücksicht auf die Verkehrssituation anzuwenden sei; daher seien an die Erkennbarkeit von Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr beträfen, niedrigere Anforderungen zu stellen als an solche für den fließenden Verkehr. Nach diesem situationsbezogenen Verständnis sei ein Verkehrsteilnehmer gerade in einer Großstadt, wo er jederzeit auch mit vorübergehend geltenden Park- und Haltverboten zu rechnen habe, verpflichtet, sich sorgfältig nach Verkehrszeichen umzusehen. Er müsse den leicht einsehbaren Nahbereich überprüfen, bevor er sein Fahrzeug endgültig abstelle, und dafür gegebenenfalls eine gewisse Strecke nach beiden Richtungen abschreiten. Eine solche Nachschau sei auch dann erforderlich, wenn dem Fahrer die Sicht auf mögliche Aufstellorte versperrt sei. Hätte der Kläger dies hier getan, wäre das Haltverbot für ihn erkennbar gewesen. Danach habe nicht weiter aufgeklärt werden müssen, in welcher Höhe das Haltverbotszeichen angebracht gewesen sei, ob es durch ein anderes Fahrzeug verdeckt oder schlecht beleuchtet gewesen sei.
Dieser Argumentation ist das Bundesverwaltungsgericht nicht gefolgt. Es hat das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg aufgehoben und die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen:
Die Anwendung des so genannten Sichtbarkeitsgrundsatzes durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg steht nach dem Urteil des Bundewsverwaltungsgerichts mit den dargelegten Anforderungen nicht in vollem Umfang im Einklang. Daher sind nunmehr ergänzende tatsächliche Feststellungen zur Aufstellung und Sichtbarkeit der Haltverbotszeichen notwendig.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 6. April 2016 – 3 C 10.15-