Keine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht teilt die Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs1, dass irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens aktuell im Irak nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit einer (Gruppen-)Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG rechnen müssen.

Keine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak

Die politischen Spannungen nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani durch die USA am 3.01.2020 ergeben in Bezug auf die Beurteilung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG keinen Klärungsbedarf für die Situation in der 400 km nördlich von Bagdad gelegenen Stadt Mossul2.

Das Verwaltungsgericht Oldenburg3 hat sich für die Begründung seiner Auffassung, ein Sunnit sei im Irak keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt, auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 08.01.20184 bezogen, wonach für die Annahme einer Gruppenverfolgung gegenüber den Sunniten im Irak „nicht annähernd ausreichende Hinweise“ sprächen. Erkenntnisse, die zu einer Neubewertung des Sachverhalts zwingen könnten, hat der Kläger nicht benannt. Er bezieht sich zur Darlegung eines Zulassungsgrundes auf den Überfall des sog. IS auf Mossul im Jahr 2014, auf Berichte des UNHCR aus Mai und November 2016 sowie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22.11.20175 und somit allein auf Erkenntnisquellen, die bei Erlass des von dem Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bereits vorlagen.

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht sieht dies genauso und teil im Übrigen die Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, dass irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens aktuell im Irak nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit einer (Gruppen-)Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG rechnen müssen6. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat hierzu in seinem Beschluss vom 29.04.20207 Folgendes ausgeführt:

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Die Frage ist – auch wenn sich nach Berichten von internationalen Organisationen und Medien die Verhältnisse im Irak insbesondere durch das Zurückdrängen des sog. „IS“ auch mit Hilfe schiitischer Milizen und durch die „Verfolgung“ von IS-Kämpfern und IS-Anhängern oder auch entsprechender Verdachtspersonen geändert haben – nach wie vor zu verneinen8. Insbesondere weisen die Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht auf. Auch kann der Versuch, (ehemalige) IS-Kämpfer und IS-Anhänger aufzuspüren und ihrer habhaft zu werden, nicht ohne weiteres mit einer Verfolgung von Sunniten wegen ihres Glaubens gleichgesetzt werden, auch wenn diese in der Regel sunnitische Glaubensangehörige sind.

Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht9. Auch unter Berücksichtigung der von den Klägern in der Zulassungsbegründung geschilderten Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, und der dort genannten Zahlen von zum Tode verurteilten und getöteten Sunniten ist eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte von Sunniten im Irak nicht zu erkennen. Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen (unter Ausschluss der kurdischen) Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65 Prozent aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22 Prozent aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20 Prozent aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen10. Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 38 Mio. Einwohnern würde das bedeuten, dass über 6 bis 8 Mio. arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es trotz der Bekämpfung des „IS“ und trotz der teilweise erhebliche Spannungen entlang der Konfessionslinien innerhalb der irakischen Bevölkerung, die in Einzelfällen auch zu Bedrohungen, Verletzungen und Todesfällen allein aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit, insbesondere der zum sunnitischen Islam, geführt haben, keine ausreichenden Hinweise. Ein flächendeckendes Vorgehen gegen Sunniten ist nicht erkennbar.

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Soweit desweiteren eingewendet wird, der Irak drohe im Konflikt zwischen den USA und dem Iran zwischen die Fronten zu geraten, der Tötung General Soleimanis seien mehrere Auseinandersetzungen zwischen US-Truppen und schiitischen Gruppierungen sowie ein gewaltsamer Protest vor der US-Botschaft in Bagdad vorausgegangen, die Bundesregierung prüfe nach den iranischen Angriffen auf US-Stützpunkte im Irak einen Teilrückzug der im nordirakischen Erbil stationierten Bundeswehrsoldaten und es habe am 8.01.2020 in der hochgesicherten sog. grünen Zone in Bagdad erneut Raketenangriffe gegeben, fehlt es bereits an dem für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblichen Bezug auf die über 400 km nördlich von Bagdad gelegene Heimatregion des Klägers in Mossul. Der Kläger legt auch nicht dar, welche Auswirkungen die geschilderten Vorfälle auf das vom Verwaltungsgericht verneinte Vorliegen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts haben sollen und warum sich deshalb die Sicherheitslage in einer solchen Weise verschärft haben soll, dass eine andere Beurteilung erforderlich sei. Hierfür reicht es jedenfalls nicht aus, dass die Lage im Irak nach Auffassung des Klägers aufgrund der geschilderten Vorfälle sehr angespannt und keinesfalls als sicher zu bezeichnen sei.

Im Übrigen steht einer abweichenden Einschätzung auch die aktuelle Rechtsprechung anderer Gerichte zur Bewertung der Gefahrendichte für die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG entgegen. So hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Beschluss vom 11.03.2020 ausgeführt11, dass mit Blick auf die jüngsten politischen Spannungen nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani durch die USA am 3.01.2020 in Bezug auf die Beurteilung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für die Situation in Bagdad nach dem dortigen grundlegenden Urteil vom 28.08.201912 kein aktueller Klärungsbedarf bestehe. Die Entwicklung sei besorgniserregend und bedürfe weiterer Beobachtung. Bislang habe die dadurch ausgelöste Diskussion über den Abzug ausländischer Soldaten aus dem Irak aber nicht zu einem erneuten Erstarken des IS oder anderer militärischer Einheiten und damit einhergehend zu einem relevanten Anstieg willkürlicher Gewalt gegen unbeteiligte Zivilpersonen geführt. Die Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und dem Iran betreffe im Irak (bislang) ausschließlich militärische Stützpunkte. An dieser Auffassung hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 29.09.202013 festgehalten.

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Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 5. November 2020 – 9 LA 107/20

  1. BayVGH, Beschluss vom 29.04.2020 – 5 ZB 20.30994[]
  2. Anschluss an OVG NRW, Urteil vom 29.09.2020 – 9 A 480/19.A 26 f.[]
  3. VG Oldenburg, Urteil vom 19.05.2020 – 15 A 3725/18[]
  4. BayVGH, Beschluss vom 08.01.2018 – 20 ZB 17.30839[]
  5. VG Berlin, Urteil vom 22.11.2017 – 25 K 3.17 A[]
  6. Nds. OVG, Beschluss vom 11.09.2020 – 9 LA 447/19[]
  7. BayVGH, Beschluss vom 29.04.2020  – 5 ZB 20.30994[]
  8. vgl. auch VGH BW, Urteil vom 05.03.2020 – A 10 S 1272/17, zu einem sunnitischen Kurden[]
  9. BVerwG, Urteil vom 31.04.2009 – 10 C 11.08, AuAS 2009, 173; Urteil vom 01.02.2007 – 1 C 24.06, NVwZ 2007, 590; Urteil vom 18.07.2006 – 1 C 15.05, BVwerGE 126, 243[]
  10. vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.01.2019, S. 6; vgl. auch Lagebericht vom 02.03.2020 S. 7 f.[]
  11. OVG NRW, Beschluss vom 11.03.2020 – 9 A 278/18.A[]
  12. OVG NRW, Urteil vom 28.08.2019 – 9 A 4590/18.A[]
  13. OVG NRW, Urteil vom 29.09.2020 – 9 A 480/19.A[]

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