Keine Löschung der Zensus-Daten

In einem Normenkontrollverfahren auf Antrag des Berliner Bundesverfassungsgerichts hat das Bundesverfassungsgericht jetzt die Löschung der im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Daten vorläufig gestoppt. Die Außervollzugsetzung von § 19 des Zensusgesetzes 2011 gilt bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für sechs Monate.

Keine Löschung der Zensus-Daten

Der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts beruht auf einer Folgenabwägung: Die längere Datenspeicherung führt zu einer Vertiefung des Eingriffs in das Recht der betroffenen Bürgerinnen und Bürger auf informationelle Selbstbestimmung, der jedoch von verhältnismäßig geringem Gewicht ist. Demgegenüber haben die Vorteile, die die einstweilige Anordnung für die Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinden mit sich bringt, ein erheblich höheres Gewicht. Denn die Löschung der Daten könnte den Gemeinden die Möglichkeit nehmen, eine etwaige fehlerhafte Berechnung ihrer Einwohnerzahl gerichtlich effektiv überprüfen und gegebenenfalls korrigieren zu lassen.

§ 19 des Gesetzes über den registergestützten Zensus im Jahre 2011 (Zensusgesetz 2011) vom 08.07.20091 wird bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten, außer Vollzug gesetzt.

Ausgangssachverhalt[↑]

Gemäß § 1 Abs. 1 ZensG 2011 führten die statistischen Ämter des Bundes und der Länder eine Bevölkerungs, Gebäude- und Wohnungszählung (Zensus) mit Stand vom 09.05.2011 (Berichtszeitpunkt) als Bundesstatistik durch, um die amtlichen Einwohnerzahlen von Bund, Ländern und Gemeinden verbindlich festzustellen.

Im Unterschied zu früheren Volkszählungen sah das Zensusgesetz 2011 vor, dass die Ermittlung der Einwohnerzahlen nicht mehr auf einer Befragung aller Einwohnerinnen und Einwohner, sondern im Wesentlichen auf einer Auswertung der Melderegister (§ 3 ZensG 2011) und anderer Verwaltungsregister (§ 4 f. ZensG 2011) beruhen sollte. Befragungen in Haushalten waren lediglich ergänzend durchzuführen (sog. „registergestütztes Stichprobenverfahren“); dies wird in § 7 des Zensusgesetzes 2011 und der Stichprobenverordnung näher geregelt.

Das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg stellte durch Verwaltungsakt vom 03.06.2013 für das Land Berlin eine amtliche Einwohnerzahl von 3.292.365 Personen fest; diese Zahl korrigiert die amtliche Einwohnerzahl im Vergleich zu den auf der Grundlage der Volkszählungen von 1981 (Gebiet der ehemaligen DDR) und 1987 fortgeschriebenen Zahlen um ca. 180.000 Einwohner nach unten. Das Land Berlin legte gegen den Bescheid Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Insgesamt haben mehr als 1.000 Gemeinden gegen die ihre Einwohnerzahlen feststellenden Bescheide Rechtsbehelfe eingelegt.

Nach § 19 des Zensusgesetzes 2011 sind die erhobenen Daten spätestens vier Jahre nach dem Berichtszeitpunkt zu löschen. Diese Löschung hat bereits begonnen.

Normenkontrollverfahren[↑]

Der Berliner Bundesverfassungsgericht beantragt im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle die Feststellung der Nichtigkeit von § 7 Abs. 1 und Abs. 2 ZensG 2011, § 2 Abs. 2 und Abs. 3 StichprobenV und § 19 ZensG 2011. Gerügt werden Verstöße von § 7 Abs. 1 und Abs. 2 ZensG 2011 und § 2 Abs. 2 und Abs. 3 StichprobenV gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 und Satz 4 in Verbindung mit Art.20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3, Art.19 Abs. 4 Satz 1, Art. 103 Abs. 1, Art. 28 Abs. 2 Satz 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 107 GG sowie von § 19 ZensG 2011 gegen Art.19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1, Art. 28 Abs. 2 Satz 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 107 GG. Darüber hinaus beantragt der Berliner Bundesverfassungsgericht, § 19 ZensG 2011 im Rahmen einer einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache außer Kraft zu setzen.

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Der Berliner Bundesverfassungsgericht ist der Ansicht, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung, die § 19 ZensG 2011 außer Kraft setzt, zur Abwehr schwerer Nachteile sowie zum gemeinen Wohl dringend geboten sei. Durch den Vollzug der Vernichtungsanordnung des § 19 ZensG 2011 würde unter Verletzung von Art.19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG jegliche verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Feststellungsbescheide vereitelt, da eine gerichtliche Kontrolle dieser Verwaltungsakte endgültig ausgeschlossen wäre. Die beklagten Statistikämter könnten ihre (materielle) Beweislast für die Richtigkeit der Feststellung der amtlichen Einwohnerzahlen nicht mehr erfüllen mit der Folge, dass die Feststellungsbescheide ersatzlos aufzuheben wären. Zwar seien jüngst in mehreren verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren in verschiedenen Bundesländern – wohl unter Verletzung von Art. 100 Abs. 1 GG – gerichtliche Anordnungen ergangen, durch die der Vollzug des § 19 ZensG 2011 suspendiert worden sei. Diese beträfen jedoch nur wenige der über tausend Verfahren und mithin nur wenige Prozent der klagenden Gemeinden und der bundesweit festgestellten Einwohnerzahlen. Die andere klagende Gemeinden betreffenden Erhebungsunterlagen würden – unter Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes – vernichtet. Schließlich führe der Vollzug des § 19 ZensG 2011 dazu, dass die Feststellung der amtlichen Einwohnerzahlen aller Gemeinden und Bundesländer insgesamt wertlos würde und der Bund seine – auch unionsrechtliche – Verpflichtung zur Durchführung eines ordnungsgemäßen Zensus im Jahr 2011 definitiv nicht mehr erfüllen könnte.

Würde die einstweilige Anordnung erlassen, § 19 ZensG 2011 sich aber als verfassungskonform erweisen, würden keine Nachteile entstehen, und zwar nicht einmal geringfügige. Datenschutzrechtliche Belange fielen nicht ernsthaft ins Gewicht, wenn die erhobenen Daten und Erhebungsunterlagen noch für einen begrenzten Zeitraum, nämlich bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Normenkontrollverfahren, weiterhin gesichert würden. Die Rechte der klagenden Gemeinden aus Art.19 Abs. 4 GG, insbesondere auf Ermittlung des Sachverhalts, wögen schwerer.

Einstweilige Anordnung[↑]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zulässig und begründet:

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet2. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre3.

Wegen der meist weit tragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab4. Soll der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden, so erhöht sich diese Hürde noch5. Denn das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt6. Wird mit einer einstweiligen Anordnung der Vollzug eines Gesetzes suspendiert, so wird das angegriffene Gesetz allgemein und nicht nur in der Beziehung zum Berliner Bundesverfassungsgericht ausgesetzt. Deshalb sind bei der Folgenabwägung die Auswirkungen auf alle von dem Gesetz Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur diejenigen für den Berliner Bundesverfassungsgericht7. Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes daher darüberhinausgehend besonderes Gewicht haben8. Wenn die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folgenkonstellationen einander in etwa gleichgewichtig gegenüberstehen, verbietet es die mit Blick auf die Gewaltenteilung (Art.20 Abs. 2 Satz 2 GG) notwendige Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts, das angegriffene Gesetz auszusetzen, bevor geklärt ist, ob es vor der Verfassung Bestand hat9.

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Nach diesen Grundsätzen ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben.

Der Ausgang des Normenkontrollverfahrens ist offen. Der Antrag, § 19 ZensG 2011 für nichtig zu erklären, ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Er wirft gewichtige und schwierige verfassungsrechtliche Fragen auf. Diese ergeben sich insbesondere im Zusammenhang mit den in der Hauptsache ebenfalls angegriffenen Regelungen des § 7 Abs. 1 und Abs. 2 ZensG 2011 und § 2 Abs. 2 und Abs. 3 StichprobenV, die zusammen mit anderen Vorschriften die Grundlage für die Erhebung von Daten für den Zensus 2011 bildeten und deren Verfassungswidrigkeit zwangsläufig auch zur Verfassungswidrigkeit von § 19 ZensG 2011 führte. Wäre die Datenerhebung im Rahmen des Zensus 2011 verfassungswidrig, so schlüge dies auch auf die Speicherung der ohne verfassungsmäßige Grundlage erhobenen Daten durch.

Bei der danach gebotenen Abwägung sind die Folgen, die sich ergäben, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, sich später aber die Verfassungswidrigkeit des § 19 ZensG 2011 herausstellte, denen gegenüberzustellen, die sich ergäben, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen und § 19 ZensG 2011 außer Vollzug gesetzt würde, später jedoch die Verfassungsmäßigkeit der Norm festgestellt würde.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich § 19 ZensG 2011 aber später als verfassungswidrig, so wären die im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Hilfsmerkmale und erstellten Erhebungsunterlagen gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 ZensG 2011, sofern nicht schon geschehen, grundsätzlich unverzüglich zu löschen. Die im Gesetz vorgesehene Frist für die maximale Aufbewahrung dieses Datenmaterials beläuft sich auf vier Jahre nach dem Berichtszeitpunkt im Sinne von § 1 Abs. 1 ZensG 2011, das heißt auf vier Jahre nach dem 9.05.2011. Sie ist folglich am 9.05.2015 abgelaufen.

Soweit die Löschung auch Datenmaterial erfasst, das Gemeinden betrifft, die gegen die an sie ergangenen Feststellungsbescheide Widerspruch eingelegt oder Klage erhoben haben und deren Rechtsschutzverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, wäre eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der festgestellten Einwohnerzahl erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich. Die Fachgerichte, die den zuständigen Behörden in einzelnen, von Gemeinden angestrengten Verfahren im Wege der einstweiligen Anordnung die Löschung der jeweils betroffenen Daten vorläufig untersagt haben, gehen ersichtlich davon aus, dass der Rechtsschutz für die jeweils klagenden Gemeinden durch die Löschung im Ergebnis vereitelt würde10. Namentlich könnten die Methodik und die Qualität der Durchführung der die jeweils klagenden Gemeinden betreffenden Zensuserhebung nicht mehr anhand der umstrittenen Daten und Unterlagen – gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigen – einer rechtlichen Würdigung unterzogen werden11. Das Bundesverfassungsgericht hat keinen Anlass, an dieser fachgerichtlichen Einschätzung der Relevanz des zur Löschung anstehenden Datenmaterials für die jeweilige rechtliche Beurteilung zu zweifeln. Dem steht nicht entgegen, dass andere Gerichte in vergleichbaren Verfahren aus verschiedenen Gründen den Erlass einstweiliger Anordnungen abgelehnt haben12. Die Relevanz der erhobenen und zur Löschung anstehenden Daten für die jeweiligen fachgerichtlichen Hauptsacheverfahren ist dort zu klären. Im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Rahmen eines Normenkontrollantrages genügt die nachvollziehbare und nicht durch erhebliches Gegenvorbringen erschütterte Darlegung, dass die Daten für den effektiven Rechtsschutz und die erforderliche gerichtliche Sachaufklärung benötigt werden könnten.

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Ob sich die fachgerichtlichen Untersagungsanordnungen noch im Rahmen zulässiger verfassungskonformer Auslegung bewegen oder ob die betreffenden Gerichte die Frage der Vereinbarkeit von § 19 ZensG mit dem Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG hätten vorlegen müssen, bedarf hier ebenfalls keiner Klärung.

Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Gemeinden in Bezug auf die behördliche Feststellung ihrer amtlichen Einwohnerzahl durch den Zensus 2011 ein grundgesetzlich verankertes Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz geltend machen können. Zwar sind Gemeinden als Körperschaften des öffentlichen Rechts im Hinblick auf die materiellen Grundrechte der Art. 1 bis 19 GG – anders als hinsichtlich der formellen (Prozess-)Grundrechte der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG13 – nicht grundrechtsberechtigt14. Auch ist bislang nicht geklärt, ob sich Gemeinden auf Art.19 Abs. 4 GG berufen können15. Ein Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz kann sich für Gemeinden aber jedenfalls aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ergeben (sog. subjektive Rechtsstellungsgarantie)16. Vorliegend ist nicht auszuschließen, dass den Gemeinden aus der im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Finanzhoheit Ansprüche zustehen hinsichtlich der transparenten und gleichheitsgerechten Feststellung der Grundlagen für die finanziellen Zuweisungen durch die Länder oder im Falle der Stadtstaaten für den Finanzausgleich nach Art. 107 GG.

Diese Rechte wären beeinträchtigt, wenn die Anordnung nicht erginge und sich § 19 ZensG 2011 später deshalb als verfassungswidrig erweisen sollte, weil die dort vorgesehene Frist im Hinblick auf die Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinden – ihre verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG unterstellt – zu kurz bemessen ist.

Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich § 19 ZensG 2011 aber später als verfassungswidrig, weil er die Aufbewahrung auf verfassungswidriger Rechtsgrundlage erhobener personenbezogener Daten ermöglicht und/oder eine zeitlich lang andauernde Speicherung der erhobenen Hilfsmerkmale und Erhebungsunterlagen vorsieht, träte diese Beeinträchtigung möglicher Rechte der Gemeinden ebenfalls ein. Zugleich verhinderte jedoch andererseits der Vollzug von § 19 ZensG 2011, dass die mit der verfassungswidrigen Datenerhebung verbundene und durch die Speicherung der Daten perpetuierte Verletzung des Rechts aller von der Datenerhebung betroffenen Bürgerinnen und Bürger auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG17 weiter intensiviert würde18. Zumindest die in § 19 Abs. 1 ZensG 2011 genannten Hilfsmerkmale enthalten, wie § 7 Abs. 5 ZensG 2011 zeigt, Daten, die insbesondere im Zusammenspiel mit anderen erhobenen Daten die Individualisierung und Personalisierung zahlreicher Angaben und Daten ermöglichen19. Ihre Erhebung und Speicherung greift daher in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ein, das auch ein Recht auf frühestmögliche Löschung personenbezogener Daten umfasst20. Ist schon die Datenerhebung und damit auch die Dauer der gemäß § 19 ZensG 2011 möglichen Datenspeicherung verfassungswidrig, bedeutete die Aussetzung des Vollzugs von § 19 ZensG 2011 einen weiteren Eingriff in dieses Grundrecht. Dieser Eingriff beträfe zudem einen großen Kreis von Grundrechtsträgern, nämlich all diejenigen, deren personenbezogene Daten in dem gemäß § 19 ZensG 2011 zu löschenden, bislang aber noch nicht gelöschten Datenmaterial enthalten sind.

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Erginge die einstweilige Anordnung und erwiese sich § 19 ZensG 2011 im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß, so könnte den klagenden Gemeinden in den noch laufenden Rechtsschutzverfahren gegen die Feststellungsbescheide eine gerichtliche Überprüfung der festgestellten Einwohnerzahlen ermöglicht und die Vereitelung oder Einschränkung dieser Rechtsschutzmöglichkeit abgewendet werden.

Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes für die Gemeinden gegen die Bescheide über die Feststellung ihrer Einwohnerzahl wäre zwar mit einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung derjenigen Auskunftsverpflichteten verbunden, deren personenbezogene Daten in gemäß § 19 ZensG 2011 zu löschenden Erhebungsunterlagen und Hilfskriterien erhoben und bislang noch nicht gelöscht wurden. Die bis zur Entscheidung in der Hauptsache fortdauernde Speicherung der Daten könnte im Fall der Feststellung der Verfassungsmäßigkeit von § 19 ZensG 2011 nachträglich nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der mit dem Erlass der begehrten Außervollzugsetzung von § 19 ZensG 2011 verbundene Grundrechtseingriff wiegt jedoch nicht besonders schwer, da die längstens für einen Zeitraum von vier Jahren vorgesehene Speicherung der erhobenen Daten lediglich für einen begrenzten Zeitraum fortdauern würde. Zudem sieht das ZensG 2011 neben der in Rede stehenden Löschung in den §§ 18 ff. weitere Regelungen zum Schutz der erhobenen Daten vor.

Die Auswirkungen einer Rechtsschutzvereitelung wären für die betroffenen Gemeinden hingegen von erheblichem Gewicht. Die von den Statistikämtern festgestellten Einwohnerzahlen des Zensus 2011 sind für den Zeitraum bis zur nächsten Erhebung im Jahre 2021 Grundlage der jeweiligen Zuweisungen der Länder und des Länderfinanzausgleichs nach Art. 107 GG. Sollten die Zahlen tatsächlich unzutreffend sein, könnten darauf beruhende Zahlungen zwar grundsätzlich rückabgewickelt werden. Diese Möglichkeit wäre jedoch ausgeschlossen, wenn die Unrichtigkeit der Zahlen nicht mehr festgestellt werden könnte, weil das zu Grunde liegende Datenmaterial vor gerichtlicher Sachverhaltsfeststellung gelöscht und entsprechende Unterlagen vernichtet würden. Die in Rede stehenden Zahlungsbeträge sind beträchtlich. Allein für das antragstellende Land Berlin bedeutet die Korrektur seiner Einwohnerzahl um ca. 180.000 nach unten nach seinen Angaben eine Verringerung von Zuteilungen aus dem Länderfinanzausgleich um ca. 470 Mio. Euro pro Jahr, das heißt 4, 7 Mrd. Euro für den Zeitraum 2011 bis 2021. Darüber hinaus knüpfen beispielsweise die Rechtsvorschriften über die Einteilung der Bundestagswahlkreise (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG) oder die Anzahl der Stimmen im Bundesrat (Art. 51 Abs. 2 GG) an die Einwohnerzahlen an; auch im Hinblick auf diese Regelungszusammenhänge kommt der Aufrechterhaltung einer effektiven gerichtlichen Überprüfung der Feststellungen zur amtlichen Einwohnerzahl eine hohe Bedeutung bei.

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Die im Rahmen von § 32 BVerfGG in Verbindung mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG mögliche generelle Außervollzugsetzung von § 19 ZensG 2011 vor der verbindlichen Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit stellt auch keinen erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dar. Das vom Gesetzgeber mit § 19 ZensG verfolgte Konzept zum Ausgleich zwischen der Notwendigkeit der Datenerhebung und -speicherung und dem Schutz der personenbezogenen Daten der Auskunftspersonen wird durch die Verschiebung der Löschung um einen begrenzten Zeitraum nicht, schon gar nicht insgesamt, in Frage gestellt. Den Gesetzesmaterialien ist auch nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Festlegung der Löschungsfrist auf vier Jahre die Vorstellung verbunden hat, nur und genau diese Frist stelle einen angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen dar. Die Länge der Frist wurde in dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung nicht weiter begründet21 und – soweit ersichtlich – im Gesetzgebungsverfahren nicht weiter thematisiert.

Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung bringt folglich keinen erheblichen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Auskunftspersonen mit sich und stellt die Entscheidung des Gesetzgebers, diesen Eingriff auf wenige Jahre Speicherdauer zu beschränken, nicht grundsätzlich in Frage. Die Vorteile, die die Außervollzugsetzung von § 19 ZensG 2011 für die Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinden mit sich bringt, haben demgegenüber ein erheblich höheres Gewicht.

Bei einer Versagung der einstweiligen Anordnung würde zwar für den Fall der Verfassungswidrigkeit von § 19 ZensG 2011 eine weitere Vertiefung der Verletzung der Auskunftspersonen in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verhindert. Diese Vertiefung beträfe jedoch einen im Verhältnis zur Gesamtspeicherdauer nicht erheblichen Zeitraum. Demgegenüber wäre den Gemeinden aller Voraussicht nach die Möglichkeit genommen, eine etwaige fehlerhafte Berechnung ihrer Einwohnerzahl und die damit verbundene ungerechtfertigte Verringerung der ihnen zustehenden Mittel aus dem kommunalen Finanzausgleich beziehungsweise aus dem Länderfinanzausgleich in Milliardenhöhe gerichtlich effektiv überprüfen und gegebenenfalls korrigieren zu lassen.

Daraus wird deutlich, dass die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Normenkontrollverfahren aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die angegriffene Regelung außer Vollzug gesetzt würde, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese, deutlich überwiegen. Die für die Außervollzugsetzung von § 19 ZensG 2011 sprechenden Gründe haben vorliegend auch das besondere Gewicht, das erforderlich ist, damit das Bundesverfassungsgericht vor abschließender Klärung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes in begrenztem Umfang in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und seine originäre Zuständigkeit eingreifen darf. Auch unter Berücksichtigung der gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2 GG gebotenen Zurückhaltung ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung, die § 19 ZensG 2011 vorläufig außer Vollzug setzt, zur Abwehr möglicher schwerer Nachteile für die betroffenen Gemeinden dringend geboten.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. August 2015 – 2 BvF 1/15

  1. BGBl. I Seite 1781[]
  2. vgl. BVerfGE 89, 38, 43 f.; 64, 67, 69; 103, 41, 42; 104, 51, 55; 118, 111, 122; 132, 195, 232 Rn. 87; 134, 135, 137 Rn. 3; stRspr[]
  3. vgl. BVerfGE 81, 53, 54; 86, 390, 395; 91, 320, 326; 104, 51, 55; 105, 365, 371; 106, 351, 355; 108, 238, 246; 125, 385, 393; 126, 158, 168; 129, 284, 298; 131, 47, 55; 132, 195, 232 f. Rn. 87; stRspr[]
  4. vgl. BVerfGE 3, 41, 44; 6, 1, 3 f.; 55, 1, 3; 82, 310, 312; 94, 166, 216 f.; 104, 23, 27; 106, 51, 58; 132, 195, 232 Rn. 86[]
  5. vgl. BVerfGE 3, 41, 44; 6, 1, 4; 7, 367, 371; 64, 67, 69; 81, 53, 54; 117, 126, 135[]
  6. vgl. BVerfGE 82, 310, 313; 96, 120, 128 f.; 104, 23, 27; 104, 51, 55; 112, 284, 292; 122, 342, 361; 131, 47, 61; stRspr[]
  7. vgl. BVerfGE 112, 216, 221; 112, 284, 292; 122, 342, 362[]
  8. vgl. BVerfGE 104, 23, 27 f.; 117, 126, 135; vgl. auch BVerfGE 112, 216, 220[]
  9. vgl. BVerfGE 104, 51, 60; 106, 369, 376; 108, 45, 51[]
  10. vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 03.06.2015 – 4 B 512/15 65 ff. und – 4 B 458/15 62 f.; VG Aachen, Beschluss vom 31.03.2015 – 4 L 225/15 43 und 56[]
  11. vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 03.06.2015 – 4 B 512/15 66 und – 4 B 458/15 63[]
  12. vgl. VG Freiburg, Beschluss vom 20.05.2015 – 3 K 922/15, juris; VG Potsdam, Beschluss vom 21.04.2015 – 12 L 450/15[]
  13. vgl. BVerfGE 6, 45, 49 f.; 13, 132, 139 f.[]
  14. vgl. BVerfGE 21, 362, 377; 45, 63, 78 f.; 61, 82, 101[]
  15. ausdrücklich offengelassen in BVerfGE 61, 82, 109; BVerfGK 11, 241, 250; BVerfG, Beschluss vom 21.02.2008 – 1 BvR 1987/07, NVwZ 2008, S. 778, 779[]
  16. vgl. BVerwG, Urteil vom 15.06.2011 – 9 C 4/10, BVerwGE 140, 34, 38 f. Rn. 22; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.06.2015 – 4 B 458/15 25; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.06.2015 – 4 B 512/15 25; VG Aachen, Beschluss vom 31.03.2015 – 4 L 225/15 22 ff.; VG Hamburg, Beschluss vom 30.04.2015 – 10 E 2183/15 10, 21; Schmidt-Aßmann/Röhl, Kommunalrecht, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl.2008, Rn. 24; Hennecke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 13. Aufl.2014, Art. 28 Rn. 56; Tettinger/Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl.2010, Art. 28 Abs. 2 Rn. 158; Dreier, in: ders., GG, Bd. II, 2. Aufl.2006, Art. 28 Rn. 103 f.; Mehde, in: Maunz/Dürig, Bd. IV, Art. 28 Abs. 2 Rn. 39 u. 45, November 2012[]
  17. vgl. BVerfGE 65, 1, 43[]
  18. vgl. BVerfGE 64, 67, 70[]
  19. vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 30.04.2015 – 10 E 2183/15 25[]
  20. vgl. BVerfGE 65, 1, 59; BVerfG, Beschluss vom 24.09.1987 – 1 BvR 970/87, NJW 1987, S. 2805, 2806[]
  21. BT-Drs. 16/12219, S. 48[]