Keine Zurückweisungshaft an einer EU-Binnengrenze

Haft zur Sicherung der Zurückweisung nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kommt auch bei einer Wiederaufnahme der Kontrollen an Binnengrenzen der Europäischen Union nicht in Betracht, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige nach Überqueren der deutschen Grenze im grenznahen Bereich gestellt und ihm dort die tatsächlich bereits erfolgte Einreise verweigert wird.

Keine Zurückweisungshaft an einer EU-Binnengrenze

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall reiste die Betroffene, eine nigerianische Staatsangehörige, am 17.03.2018 mit einem Fernreisebus von Österreich nach Deutschland. Bei einer Kontrolle durch die Beamten der beteiligten Behörde in Füssen wies sich die Betroffene mit einem italienischen Aufenthaltstitel aus, führte aber keine Einreisedokumente bei sich. Das Amtsgericht ordnete mit Beschluss vom 18.03.2018 Zurückweisungshaft bis 13.04.2018 an. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge richtete am 21.03.2018 ein Wiederaufnahmegesuch an Italien nach der Dublin-III-VO 604/2013. Aufgrund technischer Probleme konnten die italienischen Behörden kein Empfangsbekenntnis übersenden, weshalb das Bundesamt am 5.04.2018 ein weiteres Wiederaufnahmegesuch an die italienischen Behörden richtete.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht Erding Zurückweisungshaft bis 28.05.2018 angeordnet1. Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angeordnete Abschiebung der Betroffenen nach Italien erfolgte am 16.05.2018. Am 15.05.2018 hat die Betroffene einen Haftaufhebungsantrag gestellt und zugleich die Feststellung beantragt, dass der Beschluss des Amtsgerichts vom 13.04.2018 sie seit Eingang des Haftaufhebungsantrags in ihren Rechten verletzt habe. Das Amtsgericht hat den Feststellungsantrag zurückgewiesen2). Die hiergegen erhobene Beschwerde ist vor dem Landgericht Landshut erfolglos geblieben3. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde, mit der die Betroffene ihren Feststellungsantrag weiterverfolgte, hat nun der Bundesgerichtshof zurückgewiesen:

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Das Landgericht Landshut ist der Auffassung, das Amtsgericht habe zu Recht gemäß § 15 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO Haft zum Zwecke der Überstellung der Betroffenen angeordnet. Insbesondere habe der erforderliche Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr i.S.v. Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO vorgelegen, da der begründete Verdacht bestanden habe, dass sich die Betroffene dem Überstellungsverfahren durch Flucht entziehen werde. Aus den technischen Problemen, die die Zusendung eines Empfangsbekenntnisses für das erste Wiederaufnahmegesuch verhindert hätten, folge kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot.

Dies hält der rechtlichen Überprüfung durch den Bundesgerichtshof im Ergebnis stand.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft zur Sicherung der Überstellung der Betroffenen nach Italien bestimmen sich hier allerdings nicht nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, sondern nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 und 14 AufenthG in der bis 20.08.2019 geltenden Fassung (im Folgenden: aF), da die Betroffene bereits eingereist war und nach Italien überstellt werden sollte.

Haft zur Sicherung der Zurückweisung nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kommt auch bei einer Wiederaufnahme der Kontrollen an Binnengrenzen der Europäischen Union jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige nach Überqueren der deutschen Grenze im grenznahen Bereich gestellt und ihm dort die tatsächlich bereits erfolgte Einreise verweigert wird.

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Ist ein Drittstaatsangehöriger in einen Mitgliedstaat eingereist, unterfällt er nach Art. 2 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie 2008/115 dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Er ist daher den in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen4. Im Anwendungsbereich der Richtlinie ist die Anordnung von Haft nur unter den in Art. 15 Rückführungsrichtlinie i.V.m. § 62 AufenthG geregelten Voraussetzungen zulässig.

Soll der Drittstaatsangehörige in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden, in dem er einen Asylantrag gestellt hat, finden die Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie nach Art. 24 Abs. 4 Unterabs. 2 Dublin-III-VO keine Anwendung; Haft ist in diesem Fall nur unter den Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 und 14 AufenthG aF (§ 2 Abs. 14 AufenthG nF) anzuordnen.

Ordnet das Haftgericht in einem Fall, in dem der Drittstaatsangehörige bereits eingereist ist, ihm gegenüber aber dennoch eine Einreiseverweigerung ausgesprochen wurde, nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG die Zurückweisungshaft an, setzt es sich in Widerspruch zu den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie oder der Dublin-III-VO und den dort jeweils geregelten Verfahrensgrundsätzen zugunsten des Drittstaatsangehörigen. Zwar sind die Haftgerichte grundsätzlich an Entscheidungen der beteiligten Behörde und die damit verbundene Wahl des vereinfachten Verfahrens nach § 15 Abs. 5 AufenthG gebunden5. Das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) ist aber auch bei der Anordnung von Sicherungshaft zu beachten6. Aufgrund dieses Gebots sind die nationalen Gerichte verpflichtet, das innerstaatliche Recht soweit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und, wenn das nicht möglich ist, notfalls jede Bestimmung unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde7. Daher kann in einem Fall, in dem die Einreise bereits erfolgt ist, keine Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG angeordnet werden, auch wenn die beteiligte Behörde das vereinfachte Verfahren anwenden will.

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Zwar waren zum Zeitpunkt der Kontrolle der Betroffenen an der deutschösterreichischen Grenze nach Art. 25 Schengener Grenzkodex vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt worden, jedoch bestand im Zeitpunkt und am Ort der Kontrolle der Betroffenen in Füssen keine nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c Schengener Grenzkodex und § 13 AufenthG i.V.m. § 61 Abs. 1 BPolG zugelassene Grenzübergangsstelle. Damit war die Betroffene mit Überschreiten der Grenze nach Art. 22 Schengener Grenzkodex, § 13 Abs. 2 Satz 3 AufenthG eingereist8. Da sie nach Italien überstellt werden sollte, kam nur die Anordnung von Haft zur Sicherung der Überstellung nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO in Betracht.

Die Voraussetzungen der Anordnung von Überstellungshaft nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO haben auch vorgelegen.

Die Betroffene war aufgrund der unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Mit der Abschiebungsanordnung des Bundesamts lag auch eine Rückkehrentscheidung vor. Das Beschwerdegericht hat zudem unter Bezugnahme auf den Beschluss des Amtsgerichts vom 13.04.2018 zutreffend festgestellt, dass der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr i.S.v. Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 Nr. 5 AufenthG aF vorgelegen hat.

Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde die Verletzung des Beschleunigungsgebots. Das Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörde, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, damit der Vollzug der Haft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann. Versäumnisse des für Wiederaufnahmeersuchen und die Modalitäten der Überstellung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AsylZBV zuständigen Bundesamts wären der für die Beantragung der Haft zuständigen Ausländerbehörde zuzurechnen9. Gemessen an diesen Anforderungen hat das Beschwerdegericht eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zutreffend verneint.

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Das Bundesamt richtete bereits am 21.03.2018 ein Wiederaufnahmegesuch an die italienischen Behörden. Zwischen der Haftanordnung und der Stellung des Wiederaufnahmegesuchs lagen nur drei Tage. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde stellt es auch keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass das Bundesamt erst zwei Wochen nach der Übersendung des ersten Wiederaufnahmegesuchs auf das fehlende Empfangsbekenntnis aus Italien reagierte und am 5.04.2018 ein weiteres Wiederaufnahmegesuch an die italienischen Behörden richtete.

Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO sieht in Fällen, in denen sich der Drittstaatsangehörige bereits in Haft befindet, eine Frist für ein Wiederaufnahmegesuch von einem Monat ab Stellung des Antrags vor. Diese Frist war im Zeitpunkt des zweiten Wiederaufnahmegesuchs noch gewahrt.

Darüber hinaus liegen keine vermeidbaren Verfahrensverzögerungen vor, die trotz der Einhaltung der Frist des Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot begründen könnten. Das Beschwerdegericht hat weder festgestellt noch ist ersichtlich, dass das Bundesamt vor dem 5.04.2018 wusste oder hätte wissen müssen, dass die italienischen Behörden das erste Wiederaufnahmegesuch nicht erhalten hatten. Das Bundesamt wusste lediglich, dass die italienischen Behörden den Eingang des Gesuchs aufgrund technischer Probleme nicht bestätigen konnten. Weiter steht nicht fest, dass das Bundesamt zuvor wusste oder hätte wissen müssen, dass diese technischen Probleme bereits zu einem früheren Zeitpunkt behoben worden waren. Vor diesem Hintergrund war es noch ausreichend, dass das Bundesamt zunächst den Ablauf der zweiwöchigen Frist gemäß Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 3 Dublin-III-VO abgewartet hat. Denn erst nach Ablauf dieser Frist gilt das Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 4 Dublin-III-VO als angenommen und bedarf es für den Nachweis dieser Wirkung eines Empfangsbekenntnisses. Bei einer Antwort der italienischen Behörden innerhalb der Zweiwochenfrist hätte sich hingegen ein Fehlen des Empfangsbekenntnisses nicht ausgewirkt.

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Schließlich wurde auch die Frist zur Vollziehung der Überstellung gemäß Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 Dublin-III-VO gewahrt.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. Februar 2020 – XIII ZB 65/19

  1. AG Erding, Beschluss vom 13.04.2018 – 1 XIV 69/18[]
  2. AG Erding, Beschluss vom 28.08.2018 – 1 XIV 69/18 (B[]
  3. LG Landshut, Beschluss vom 04.01.2019 – 65 T 3097/18[]
  4. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-444/17, NVwZ 2019, 947 Rn. 39 Arib[]
  5. BGH, Beschlüsse vom 20.09.2017 – V ZB 118/17, InfAuslR 2018, 96 Rn. 16, 18; und vom 12.04.2018 – V ZB 164/16, InfAuslR 2018, 337 Rn. 11[]
  6. BGH, Beschluss vom 25.07.2014 – V ZB 137/14, FGPrax 2104, 230 Rn. 5[]
  7. vgl. EuGH, Urteil vom 27.10.2009 – C-115/08, NVwZ 2010, 107 Rn. 138 CEZ[]
  8. vgl. Westphal in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl., § 13 Rn. 5[]
  9. vgl. BGH, Beschlüsse vom 07.04.2011 – V ZB 111/10, NVwZ 2011, 1214 Rn. 12 f.; vom 30.06.2011 – V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rn. 25[]

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