Das Bundessozialgericht hat ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Bestimmungen der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG gerichtet, mit dem insbesondere geklärt werden soll, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit abzustellen ist, wenn ein Kind eines anerkannten Flüchtlings sich auf den Nachzugstatbestand des Art. 4 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG beruft.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
- Ist Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22.09.2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung dahin auszulegen, dass ein Kind des Zusammenführenden, der als Flüchtling anerkannt worden ist, auch dann minderjährig im Sinne dieser Vorschrift ist, wenn es im Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden minderjährig war, aber schon vor dessen Anerkennung als Flüchtling und Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist?
- Bei Bejahung der Frage 1:Welche Anforderungen sind an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG in einem solchen Fall zu stellen?
- Reicht dafür das rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis aus oder ist auch ein tatsächliches Familienleben erforderlich?
- Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf: Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind?
- Erfordert der Nachzug des zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kindes, das sich noch im Drittstaat befindet und einen Antrag auf Familienzusammenführung zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil gestellt hat, die Prognose, dass das Familienleben nach der Einreise in der gemäß Frage 2 b) geforderten Weise im Mitgliedstaat (wieder) aufgenommen wird?
In dem derzeit beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Fall hat die Klägerin, eine syrische Staatsangehörige, die zu ihrem in Deutschland lebenden, als Flüchtling anerkannten Vater ziehen will, einen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrem Vater. Ein solcher Rechtsanspruch könnte sich nur aus § 32 AufenthG ergeben, der den Nachzug minderjähriger Kinder regelt. Volljährigen Kindern kann der Nachzug nur bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Ermessenswege gewährt werden (§ 36 Abs. 2 AufenthG); diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Klägerin bisher tatrichterlich nicht festgestellt. § 32 AufenthG ist nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dahin auszulegen, dass das Kind zwar nicht mehr bei Erteilung des Visums, wohl aber in dem Zeitpunkt, in dem es den Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung stellt, noch minderjährig sein muss. Zudem muss es auch in dem Zeitpunkt minderjährig sein, in dem dem Elternteil die jeweils zum Nachzug berechtigende Aufenthaltserlaubnis (hier: Aufenthaltserlaubnis als anerkannter Flüchtling, § 32 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG) erteilt worden ist. Dass für die Altersgrenze – abweichend vom allgemein für Klagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung – auf den Zeitpunkt der Antragstellung abgestellt wird, soll verhindern, dass der Nachzugsanspruch des Kindes wegen der Verfahrensdauer allein durch Zeitablauf erlischt. Dies ändert nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber nichts daran, dass alle Voraussetzungen für den Kindernachzug einmal zeitgleich vorliegen müssen. Das Kind kann deshalb hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen Sachverhaltsänderungen zu seinen Gunsten nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mehr geltend machen, sondern muss diese (auch) bereits vor Eintritt der Volljährigkeit erfüllen. Andernfalls würde durch eine länger dauernde Rechtsverfolgung – über das Ziel eines effektiven Rechtsschutzes hinaus – die vom Gesetz vorgesehene Altersgrenze umgangen [1].
Eine Auslegung des § 32 Abs. 1 AufenthG dahin, dass sich die Minderjährigkeit des Kindes anhand des Zeitpunkts der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils beurteilt, wäre in Anwendung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln selbst dann nicht möglich, wenn Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt gebieten sollte. Ihr stünde entgegen, dass § 32 Abs. 1 AufenthG nicht nur den Kindernachzug zu anerkannten Flüchtlingen, sondern auch den Kindernachzug zu allen anderen in Deutschland aufenthaltsberechtigten Ausländern regelt; ausgeklammert ist allein der Kindernachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Da die Voraussetzung „minderjähriges lediges Kind“ für alle nachfolgend unter Nr. 1 bis 7 aufgezählten Varianten eines Kindernachzugs gleichermaßen gilt, kann der für die Minderjährigkeit maßgebliche Zeitpunkt nach geltendem nationalen Recht nur einheitlich bestimmt werden. Als für sämtliche Fallgruppen sachgerechter einheitlicher Zeitpunkt kommt aber nur der Zeitpunkt der Beantragung des Visums zur Familienzusammenführung in Betracht. Es widerspräche nicht nur der gesetzlichen Systematik, sondern auch dem Willen des Gesetzgebers, beim Kindernachzug zu Flüchtlingen anders als in allen anderen Fällen einen Zeitpunkt zugrunde zu legen, der noch vor Ingangsetzung des durch § 6 Abs. 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 AufenthG geregelten Verwaltungsverfahrens der Familienzusammenführung liegt. Sollte diese Rechtslage unionsrechtswidrig sein, bedürfte es zur Behebung dieses Mangels mithin einer ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers. Das gilt vor allem auch deshalb, weil dieser nicht verpflichtet wäre, die – gemessen an Art. 15 Abs. 1 RL 2003/86/EG – überschießende Umsetzung des deutschen Rechts, wonach nachgezogene Kinder unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer schon mit Volljährigkeit ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erwerben (vgl. § 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), auch auf solche Kinder zu erstrecken, die bereits bei Stellung des Antrags auf Familiennachzug volljährig waren.
Falls Vorlagefrage 1 zu bejahen ist, könnte der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung aber in unmittelbarer Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG zustehen. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift lägen vor [2]: Es handelt sich um eine inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Regelung, die ein Recht des Einzelnen begründet und die der deutsche Gesetzgeber innerhalb der am 3.10.2005 (Art.20 Abs. 1 RL 2003/86/EG) abgelaufenen Umsetzungsfrist nicht hinreichend in das nationale Recht umgesetzt hätte. Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG gibt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei ihren Ermessensspielraum ausüben könnten [3]. Die den Mitgliedstaaten in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 6 RL 2003/86/EG eingeräumten Ermessensspielräume setzen voraus, dass die dort für zulässig erklärten abweichenden Regelungen bereits im Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie im nationalen Recht vorhanden waren (sog. Stand-Still-Klauseln), was in Deutschland nicht der Fall ist. Zwar sollte Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG es gerade Deutschland ermöglichen, die hier vorhandenen Beschränkungen des Nachzugs älterer Kinder beizubehalten [4]. Derartige Integrationsanforderungen waren aber schon im Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist der Richtlinie auch im deutschen Recht nur für den Nachzug älterer Kinder zu Drittstaatsangehörigen, die keine Flüchtlinge sind, vorgesehen; für den Nachzug zu anerkannten Flüchtlingen galten und gelten sie nicht (vgl. bereits § 32 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG i.d.F. vom 30.07.2004 [5]).
Von der Beantwortung der Vorlagefrage 2 hängt ab, welche Aufklärungsmaßnahmen das Tatsachengericht gegebenenfalls noch zu ergreifen hat, um festzustellen, dass der Familiennachzug auf die (Wieder-)Aufnahme eines tatsächlichen familiären Lebens zielt.
Die weiteren, in den Vorlagefragen nicht erwähnten Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung unmittelbar auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG lägen vor. Von dem Nachweis, dass der Zusammenführende die in Art. 7 RL 2003/86/EG genannten Bedingungen erfüllt, ist gemäß Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG zwingend abzusehen, weil der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde und nach den Feststellungen des Tatsachengerichts eine Familienzusammenführung in einem Drittstaat, zu dem eine besondere Bindung der Klägerin oder ihres Vaters besteht, nicht möglich ist. Falls die in Bezug auf den Elternnachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit Urteil vom 12.04.2018 entwickelten Erwägungen in Beantwortung der Vorlagefrage 1 sinngemäß auf die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG zu übertragen sind, so dass ein nachzugswilliges Kind, das nach Asylantragstellung, aber vor der Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling volljährig geworden ist, noch als minderjähriges Kind im Sinne dieser Regelung anzusehen wäre, sofern es den Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Zusammenführenden stellt [6], wäre diese Antragsfrist hier ebenfalls eingehalten.
Die Vorlagefragen bedürfen der Klärung durch den Unionsgerichtshof.
Mit Vorlagefrage 1 soll geklärt werden, auf welchen Zeitpunkt für die Voraussetzung der Minderjährigkeit des Kindes (und des Sorgerechts) abzustellen ist, wenn der Zusammenführende ein anerkannter Flüchtling ist. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob bzw. inwieweit die Erwägungen des Gerichtshofs zu der umgekehrten Fallkonstellation des Elternnachzugs zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling [7] auf die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG übertragbar sind und es deshalb gebieten, auch in diesem Zusammenhang von einem „minderjährigen Kind“ auszugehen, wenn dieses bei der Familienzusammenführung zu einem anerkannten Flüchtling im Zeitpunkt der Beantragung internationalen Schutzes durch den Flüchtling noch minderjährig war, aber bereits im Verlauf von dessen Asylverfahren volljährig geworden ist. Diese Frage wird in den beim Unionsgerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsverfahren [8] des belgischen Conseil d’État nicht notwendigerweise geklärt werden, weil sie dort in dieser Form nicht entscheidungserheblich war. Denn dort waren alle Antragsteller im Zeitpunkt des Antrags auf Familienzusammenführung noch minderjährig und ist deshalb nur zu entscheiden, ob das belgische Recht mit der Richtlinie vereinbar ist, soweit die Minderjährigkeit danach – anders als nach deutschem Recht – sogar noch im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung fortbestehen muss.
Vorab stellt sich die Frage, ob sich der Zeitpunkt, bis zu dem die Minderjährigkeit vorliegen muss, überhaupt nach einheitlichen unionsrechtlichen Kriterien bestimmt oder ob dies dem nationalen Recht überlassen ist. Die Beklagte hat vorgetragen, die Richtlinie gebe den Mitgliedstaaten in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 2003/86/EG für den Nachzug minderjähriger Kinder keine einheitliche Altersgrenze vor. Der Unionsgesetzgeber habe mit dem Verweis auf das Volljährigkeitsalter nach dem jeweiligen nationalen Recht eine potentielle Ungleichbehandlung zweier Antragsteller in Kauf genommen. Sei die Altersgrenze schon nicht einheitlich vorgegeben, seien die Mitgliedstaaten erst recht berechtigt, den für ihre Einhaltung maßgeblichen Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Die Beklagte hat sich in diesem Zusammenhang auf das Noorzia-Urteil des Unionsgerichtshofs vom 17.07.2014 [9] berufen.
Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese Beurteilung zutrifft. Der Unionsgerichtshofs hat betont, dass Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen aufgibt, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei ihren Ermessensspielraum ausüben könnten [10]. Die Mitgliedstaaten können über die Festlegung der Altersgrenze schon nicht frei entscheiden, weil diese mit dem Volljährigkeitsalter nach allgemeinem (nationalen) Zivilrecht übereinstimmen muss, das derzeit in allen Mitgliedstaaten bei 18 Jahren liegt [11]. Der mitgliedstaatliche Gestaltungsspielraum ist auf die Festlegung des allgemeinen Volljährigkeitsalters beschränkt. Er dürfte zudem unter dem Vorbehalt stehen, dass die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird und die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit – gerade auch bezogen auf verschiedene Antragsteller in demselben Mitgliedstaat, die sich in derselben Situation befinden – eingehalten sind [12]. Die Schlussanträge des Generalanwalts Hogan vom 19.03.2020 in den verbundenen Rechtssachen C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19 beruhen ebenfalls auf der Annahme, dass die Bestimmung des für die Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG nicht im freien Ermessen der Mitgliedstaaten liegt. Eine allgemeine Befugnis zur Festlegung von Altersgrenzen für den Familiennachzug besteht damit jedenfalls nicht.
Die im Urteil des Unionsgerichtshofs vom 12.04.2018 [13] zu dem für die Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkt getroffenen Aussagen sind für das vorliegende Verfahren nicht unmittelbar bindend. Jene Entscheidung betraf den Elternnachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 2 Buchst. f i.V.m. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG. Hier geht es hingegen um die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG, der den Kindernachzug zu Drittstaatsangehörigen regelt, die im Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt sind.
Das vorlegende Gericht ersucht um Klärung, ob die Erwägungen aus dem Urteil des Unionsgerichtshofs vom 12.04.2018 – C‑550/16 – dergestalt auf die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG zu übertragen sind, dass der Familiennachzug eines Kindes zu einem anerkannten Flüchtling nach dieser Vorschrift zu bewilligen ist, wenn das Kind im Zeitpunkt der Asylantragstellung des Flüchtlings minderjährig war, aber schon vor dessen Anerkennung als Flüchtling – und damit auch vor der Stellung des Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung – bereits volljährig geworden ist.
Gegen eine solche Übertragung spricht, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und c RL 2003/86/EG ganz allgemein den Kindernachzug zu aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen regeln. Der Zusammenführende ist damit nicht zwingend ein Flüchtling. Als einheitlicher, für alle Fallgestaltungen denkbarer Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit kommt aber nur der Zeitpunkt der Beantragung der Familienzusammenführung in Betracht. Dafür, dass die Richtlinie bei Altersgrenzen diesen Zeitpunkt als maßgeblich ansieht, könnte auch die in Art. 4 Abs. 6 RL 2003/86/EG getroffene Sonderregelung sprechen. Dass (nur) für den Familiennachzug zu Flüchtlingen ein abweichender, wesentlich früherer Zeitpunkt zugrunde zu legen sein sollte, lässt sich der Richtlinie nicht ausdrücklich entnehmen. Diese Auffassung vertritt wohl auch Generalanwalt Hogan in seinen Schlussanträgen vom 19.03.2020 in den verbundenen Rechtssachen C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Überlegung des Unionsgerichtshofs, dass der Anspruch auf Kindernachzug nicht allein durch die Dauer des behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens untergehen darf, in seiner Rechtsprechung zu § 32 AufenthG ebenfalls berücksichtigt. Er hat der Richtlinie 2003/86/EG (ebenso wie der nationalen Umsetzungsvorschrift) aber kein Erfordernis entnehmen können, hierbei zusätzlich zu der Dauer des in der Richtlinie allein geregelten Verfahrens der Familienzusammenführung die Dauer weiterer vorgelagerter Verfahren (hier: Asylverfahren des Zusammenführenden und anschließendes Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling) einzubeziehen. Er hat dabei auch zugrunde gelegt, dass die Richtlinie gemäß ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. a jedenfalls vor der Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling noch keine Anwendung findet. Nach der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs steht dies einer Vorverlagerung des für die Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts auf den der Asylantragstellung des Zusammenführenden allerdings nicht entgegen [14].
Der Unionsgerichtshof hat zudem in seinem Urteil vom 12.04.2018 [13] an mehreren Stellen die besondere Schutzbedürftigkeit unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge hervorgehoben. Sollte dies für die Entscheidung mit maßgeblich gewesen sein, wären die dortigen Erwägungen auf den umgekehrten Fall des Kindernachzugs nicht übertragbar. Denn der Zusammenführende, dem der Anspruch auf Familienzusammenführung nach der Richtlinie zusteht, ist hier ein volljähriger Flüchtling.
Allerdings stützt sich das erwähnte Urteil auch auf Überlegungen, die auf den Kindernachzug zu einem volljährigen Flüchtling übertragen werden könnten. Der Unionsgerichtshof hat betont, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU ein deklaratorischer Akt ist. Ein Drittstaatsangehöriger, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, sei deshalb rückwirkend ab Antragstellung als Flüchtling zu behandeln, und an diese (materielle) Flüchtlingseigenschaft knüpfe das Recht auf Familienzusammenführung an [15].
Wäre hiervon auch beim Kindernachzug gemäß Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG auszugehen, soweit dieser zu einem Flüchtling erfolgt, könnte die praktische Wirksamkeit dieses Nachzugsanspruchs beeinträchtigt sein, wenn das Recht auf Familienzusammenführung nach dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde [16]. Der Unionsgerichtshof hat die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit als beeinträchtigt betrachtet, wenn zwei unbegleitete Minderjährige gleichen Alters, die ihren Antrag auf internationalen Schutz zum gleichen Zeitpunkt gestellt haben, hinsichtlich des Rechts auf Familienzusammenführung je nach der Bearbeitungsdauer dieser Anträge unterschiedlich behandelt werden können, und wenn es für den Berechtigten unvorhersehbar wäre, ob er das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern in Anspruch nehmen kann. Diese Erwägungen ließen sich sinngemäß auf den umgekehrten Fall des Kindernachzugs zu einem volljährigen Flüchtling übertragen. Zu übertragen wäre dann wohl auch die vom Unionsgerichtshof entwickelte Verpflichtung, den Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist von grundsätzlich drei Monaten ab der Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling zu stellen.
Ob der Übertragbarkeit der vorstehenden Überlegungen entgegensteht, dass der besondere Schutz unbegleiteter Minderjähriger für das Urteil im Verfahren C‑550/16 entscheidend war, ist für das vorlegende Gericht unklar. Möglich ist auch, dass der Unionsgerichtshof diesen Aspekt nur verstärkend herangezogen hat, tragender Grund für die Entscheidung aber bereits allein die Vorzugsbehandlung war, die die Richtlinie 2003/86/EG nach ihrem 8. Erwägungsgrund allen Flüchtlingen zuteilwerden lässt. Diese hat sich auch für den Kindernachzug zu volljährigen Flüchtlingen in der Richtlinie niedergeschlagen, weil nach Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG der Flüchtling seine Kernfamilie nachholen darf, ohne dass die in Art. 7 RL 2003/86/EG genannten Bedingungen erfüllt sein müssen. Zudem ist auch an dieser Fallgestaltung – jedenfalls mittelbar – ein im Zeitpunkt der Asylantragstellung Minderjähriger beteiligt, nämlich derjenige, für den der Nachzug begehrt wird. Art. 5 Abs. 5 RL 2003/86/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten, bei Anträgen auf Familienzusammenführung dafür Sorge zu tragen, dass vor allem das Wohl des minderjährigen Kindes gebührend berücksichtigt wird. Diese – auch in Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte – Verpflichtung ist nicht auf den Fall beschränkt, dass es sich bei dem Minderjährigen um den Zusammenführenden handelt. Allerdings beantworten diese Regelungen für sich genommen nicht die Frage, ob ein Kind, das bereits im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung volljährig war, überhaupt noch als minderjährig behandelt werden muss.
Vorlagefrage 2 dient gegebenenfalls der Klärung, welche Anforderungen an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG und deren Überprüfung in einem solchen Fall zu stellen sind.
Der Anspruch auf Familienzusammenführung ist nach seinem Sinn und Zweck auf die Herstellung eines tatsächlichen Familienlebens gerichtet. Dies bestätigt die Entstehungsgeschichte der Richtlinie [17]. Es folgt auch aus dem 2. und 6. Erwägungsgrund sowie einigen ausdrücklichen Bestimmungen der Richtlinie: So ist die Familienzusammenführung gemäß Art. 2 Buchst. d RL 2003/86/EG auf das Ziel gerichtet, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten. Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 RL 2003/86/EG regeln die Anforderungen an den Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen. Am deutlichsten ergibt sich das Erfordernis von auch tatsächlichen familiären Bindungen aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG. Art. 16 RL 2003/86/EG enthält eine abschließende Aufzählung aller Gründe, aus denen ein (erstmaliger) Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abgelehnt, ein bereits erteilter Aufenthaltstitel entzogen oder seine Verlängerung verweigert werden kann [18]. Die Kommission hat in diesem Zusammenhang das Erfordernis eines tatsächlichen Ehe- oder Familienlebens mit dem Ziel der Familienzusammenführung begründet, das in der „Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Familiengemeinschaft“ bestehe.
All dies lässt nach Auffassung des vorlegenden Gerichts erkennen, dass das rein formale Ehe- oder Familienband für sich genommen nicht ausreichend ist, um einen Anspruch auf Familienzusammenführung zu begründen, sondern der Nachzugsantrag auch darauf gerichtet sein muss, in dem Mitgliedstaat, in dem der Zusammenführende sich aufhält, ein tatsächliches Ehe- bzw. hier Familienleben aufzunehmen. Vorlagefrage 2 a) dürfte daher im letztgenannten Sinne zu beantworten sein; Vorlagefrage 2 c) dürfte zu bejahen sein.
Schwieriger zu beantworten ist aus Sicht des vorlegenden Gerichts die Frage, welche konkreten Anforderungen an ein tatsächliches Familienleben zu stellen sind (Vorlagefrage 2 b). Die Bandbreite möglicher tatsächlicher familiärer Bindungen reicht insoweit von gelegentlichen Kontakten bis hin zu einer Beistandsgemeinschaft, bei der die beteiligten Familienmitglieder aufeinander angewiesen sind. Das vorlegende Gericht bittet in diesem Zusammenhang auch um Präzisierung, mit welcher Intensität die Absicht, tatsächliche familiäre Bindungen in dem geforderten Umfang aufzunehmen, vor der erstmaligen Entscheidung über die Familienzusammenführung zu überprüfen ist und ob es dafür eine Rolle spielt, dass das Kind im Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits volljährig ist. Für den Fall, dass bei dem Familiennachzug minderjähriger Kinder zu einem zusammenführenden Elternteil in der Regel ohne weitere Angaben oder Ermittlungen davon auszugehen ist, dass dieser der (Wieder-)Aufnahme eines tatsächlichen Familienlebens im Mitgliedstaat dient, möchte das vorlegende Gericht deshalb insbesondere wissen, ob eine solche „Automatik“ gegebenenfalls auch für Kinder gälte, die bei der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung bereits volljährig sind, aber – wegen der Vorverlagerung des für die Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts – gleichwohl noch von Art. 4 Abs. 1 Buchst. b bis d RL 2003/86/EG erfasst sind.
Auch wenn die Voraussetzungen für die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Unionsgerichtshofs nicht vorliegen dürften, bittet das vorlegende Gericht um eine möglichst beschleunigte Verfahrensbehandlung. Ein gegebenenfalls fortwirkender Minderjährigenschutz verlöre mit weiterem Zeitablauf immer mehr an Bedeutung. Das gilt über das vorliegende Verfahren hinaus in einer Vielzahl von Fällen, in denen sich die hier aufgeworfenen Fragen mit Blick auf die große Zahl der in Deutschland aufhältigen Flüchtlinge stellen und stellen werden. Eine rasche Klärung erscheint daher wünschenswert.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. April 2020 – 1 C 16.19
- stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 18.11.1997 – 1 C 22.96, Buchholz 402.240 § 20 AuslG 1990 Nr. 4 S. 18 ff.; und vom 26.08.2008 – 1 C 32.07, BVerwGE 131, 370 Rn. 17[↩]
- vgl. dazu EuGH, Urteil vom 26.02.1986 – 152/84 [ECLI:?EU:?C:?1986:?84], Marshall, Rn. 46 f.[↩]
- EuGH, Urteil vom 27.06.2006 – C‑540/03 [ECLI:?EU:?C:?2006:?429], Parlament/Rat, Rn. 60[↩]
- vgl. Hailbronner/Arévalo, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, Second Edition 2016, Part C II Art. 4 Rn. 17 f.[↩]
- BGBl. I S.1950[↩]
- vgl. dazu EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C‑550/16 [ECLI:?EU:?C:?2018:?248], A und S, Rn. 61[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C‑550/16[↩]
- EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Hogan vom 19.03.2020, verb. Rechtssachen C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19 [ECLI:?EU:?C:?2020:?222][↩]
- EuGH, Urteil vom 17.07.2014 – C‑338/13 [ECLI:EU:C:2014:2092] Noorzia[↩]
- EuGH, Urteil vom 27.06.2006 – C‑540/03, Rn. 60[↩]
- vgl. Hailbronner/Arévalo, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, Second Edition 2016, Part C II Art. 4 Rn. 7[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 17.07.2014 – C‑338/13, Rn. 14 ff., 17 f.[↩]
- EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C‑550/16[↩][↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C‑550/16, Rn. 50 ff.[↩]
- EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C‑550/16, Rn. 53 ff., 62 a.E.[↩]
- vgl. entsprechend EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C‑550/16, Rn. 55[↩]
- vgl. etwa die Begründung des ursprünglichen Richtlinienvorschlags der Kommission vom 01.12.1999, KOM(1999) 638 endgültig zu Art. 11 Nr. 2, Art. 13 Nr. 1[↩]
- siehe auch Begründung der Kommission zum geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, KOM(2002) 225 endg., ABl. C 203 E S. 136 zu Art. 16[↩]
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