Nichtbefolgung einer Selbstgestellungsaufforderung -und die Dublin-Überstellungsfrist

Befolgt ein Asylantragsteller eine Aufforderung nicht, sich zu einem bestimmten Termin zur zwangsweisen Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen EU-Mitgliedstaat einzufinden (Selbstgestellung), folgt allein hieraus kein „Flüchtigsein“ im Sinne der Dublin III-VO, so dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate nicht gerechtfertigt ist.

Nichtbefolgung einer Selbstgestellungsaufforderung -und die Dublin-Überstellungsfrist

Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute in fünf Fällen entschieden, in denen die drittstaatsangehörigen Flüchtlinge nach Schutzgesuchen in anderen EU-Mitgliedstaaten Asylanträge in Deutschland gestellt haben, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als unzulässig ablehnte (§ 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG). Die Ausländerbehörde forderte sie deshalb – teilweise nach erfolglosen Überstellungsversuchen – auf, sich zur Überstellung in den zuständigen EU-Mitgliedstaat zu einem bestimmten Termin bei der Polizeibehörde einzufinden. Nachdem sie dem nicht Folge geleistet hatten, verlängerte das Bundesamt die Überstellungsfrist gegenüber den zuständigen Mitgliedstaaten auf 18 Monate, weil sie „flüchtig“ seien (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 HS. 2 Dublin III-VO).

In den Vorinstanzen haben das Verwaltungsgericht Berlin1 sowie das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg2 die Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamtes aufgehoben. Die Flüchtlinge seien nicht flüchtig gewesen. Mithin habe die Überstellungsfrist nicht verlängert werden dürfen, so dass die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren inzwischen wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik übergegangen sei. Das Bundesverwaltungsgerichts hat nun die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt:

Weiterlesen:
Deutschland statt Griechenland - im Asylverfahren

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union3 ist ein Schutzsuchender „flüchtig“ im Sinne der Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln, und sein Verhalten kausal dafür ist, dass eine Überstellung tatsächlich (zeitweilig) objektiv unmöglich ist. Bei der Überprüfung, ob ein Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der daran anknüpfenden behördlichen Verlängerung der Überstellungsfrist „flüchtig“ war, hat das Gericht alle objektiv bestehenden Gründe zu berücksichtigen, auch wenn die Behörde die Verlängerungsentscheidung darauf nicht gestützt hat.

Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung nicht die Annahme eines „Flüchtigseins“, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung – gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs – hat.

Flugunwilligkeit, der Aufenthalt im offenen Kirchenasyl oder das einmalige Nichtantreffen des Betroffenen in der Unterkunft reichen regelmäßig nicht zur Begründung eines „Flüchtigseins“.

Ungeachtet der Frage der Rechtsqualität einer Selbstgestellungsaufforderung im Dublin-Überstellungsverfahren und deren Ermächtigungsgrundlage im nationalen Recht begründet auch deren Nichtbefolgung kein „Flüchtigsein“ im unionsrechtlichen Sinne.

Bundesverwaltungsgericht, Urteile vom 17. August 2021 – 1 C 26.20, 1 C 38.20, 1 C 51.20, 1 C 55.20 und 1 C 1.21

  1. VG Berlin, Urteile vom 27.02.2019 – 31 K 646.17 A; vom 04.09.2018 – 9 K 844.17 A; vom 12.02.2019 – 33 K 128.18 A; vom 01.03.2019 – 31 K 1004.18 A; und vom 11.03.2019 – 31 K 335.18 A[]
  2. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom Urteile vom 20.02.2020 – 3 B 22.19; vom 10.06.2020 – 12 B 40.18; vom 30.06.2020 – 3 B 19.19; vom 24.08.2020 – 3 B 35.19; und vom 13.11.2020 – 3 B 16.19[]
  3. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C 163/17 – Jawo[]
Weiterlesen:
Die versäumte Klagefrist bei der Kündigungsschutzklage und das Anwaltsverschulden

Bildnachweis: