Politische Äußerungen – und das Neutralitätsgebot der Bundesministerin

Die Maßstäbe, die für Äußerungen des Bundespräsidenten in Bezug auf politische Parteien und die Überprüfung dieser Äußerungen durch das Bundesverfassungsgericht gelten1, sind auf die Mitglieder der Bundesregierung nicht übertragbar. Soweit der Inhaber eines Regierungsamtes am politischen Meinungskampf teilnimmt, muss sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt. Nimmt das Regierungsmitglied für sein Handeln die Autorität des Amtes oder die damit verbundenen Ressourcen in spezifischer Weise in Anspruch, ist es dem Neutralitätsgebot unterworfen.

Politische Äußerungen – und das Neutralitätsgebot der Bundesministerin

Mit dieser Begründung hat jetzt das Bundesverfassungsgericht eine Organklage der NPD gegen die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig, wegen einer Äußerung zurückgewiesen, die die Ministerim in einem Zeitungsinterview vor der Landtagswahl 2014 in Thüringen getätigt hatte:

„Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.“

Zwar sind, so das Bundesverfassungsgericht, die Mitglieder der Bundesregierung bei Wahrnehmung ihrer amtlichen Funktion zu strikter Neutralität gegenüber den politischen Parteien verpflichtet. Das Neutralitätsgebot gilt jedoch nur, soweit die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität seines Amtes oder der damit verbundenen Ressourcen erfolgt. Im konkreten Fall ist ein solcher Bezug weder den äußeren Umständen noch dem Interview selbst zu entnehmen. Daher ist die von der NPD angegriffene Äußerung dem politischen Meinungskampf zuzuordnen, der nicht dem Neutralitätsgebot unterliegt.

Der Ausgangssachverhalt[↑]

Gegenstand des Verfahrens ist eine Äußerung der Bundesministerin im Vorfeld der Landtagswahl 2014 in Thüringen, durch die sich die an dieser Wahl teilnehmende NPD in ihrem Recht auf Chancengleichheit im Wettbewerb der politischen Parteien verletzt sieht.

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Am 23.06.2014 nahm sie an der Eröffnung der Sommertagung des Thüringer Landesprogramms für Demokratie, Weltoffenheit und Toleranz und der in diesem Rahmen stattfindenden Verleihung des Thüringer Demokratiepreises in Weimar teil. Verantwortlich für die Durchführung dieser Veranstaltung war der Freistaat Thüringen.

Daneben stand sie an diesem Tag der Thüringischen Landeszeitung für ein Interview zur Verfügung, das am 25.06.2014 erschien. Gegenstand des Interviews war die Bekämpfung des Rechtsextremismus, die Ausgestaltung des in der Zuständigkeit der Bundesministerin liegenden Demokratieprogramms des Bundes, die Abschaffung der Extremismusklausel, die Frauenquote auf Führungsebene, die Anbringung der Regenbogenflagge am Ministerium und das Elterngeld. Außerdem wurde die Bundesministerin im Rahmen des Interviews auf den möglichen Einzug der NPD in den Thüringer Landtag und sich daraus ergebende Konsequenzen angesprochen. Auf die Frage, wie mit Anträgen der NPD im Parlament oder auf Kommunalebene umzugehen sei, antwortete die Bundesministerin:

„Das Gefährliche an der NPD ist, dass sie versucht, ihr Molotow-Cocktail-Image abzulegen. Sie kommt nicht mehr mit Springerstiefeln und Glatzen daher, sondern im feinen Nadelstreifenanzug. Sie tut so, also ob sie sich sozial engagiert. Aber dahinter versteckt sich die Ideologie von Hitler – und jedes Parlament muss sich beraten, wie es damit umgeht. Meine Erfahrung aus dem Landtag in Mecklenburg-Pommern ist: der Antrag wird abgelehnt und ein Demokrat spricht für alle demokratischen Fraktionen, um dabei deutlich zu machen, dass der Antrag nur vermeintlich soziales Engagement ist und dahinter etwas anderes steckt. Das hat sich in Schwerin bewährt – und kann ein Beispiel sein. Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.“

Im Begleittext des Interviews wird sowohl auf das Ministeramt als auch auf die Parteizugehörigkeit der Bundesministerin hingewiesen.

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Die NPD sieht sich hierdurch in ihrem Recht auf Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[↑]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Organklage der NPD zurückgewiesen. Die angegriffene Äußerung der Bundesministerin verletzt die NPD nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht in ihrem Recht auf Wahrung der Chancengleichheit politischer Parteien.

Äußerung von Staatsorganen – und das Recht auf Wahrung der Chancengleichheit politischer Parteien[↑]

Das Recht politischer Parteien, gleichberechtigt am Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes teilzunehmen, wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche parteiergreifend zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einwirken. Eine solche Einwirkung verstößt gegen das Gebot der Neutralität des Staates im Wahlkampf und verletzt die Integrität der Willensbildung des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen.

Die diesbezüglichen Maßstäbe für Äußerungen des Bundespräsidenten sind auf die Mitglieder der Bundesregierung nicht übertragbar. Sie sind vielmehr ein spezifischer Ausdruck der besonderen Stellung, die das Grundgesetz dem Bundespräsidenten zuweist. Im Unterschied zur Bundesregierung und deren Mitgliedern steht der Bundespräsident weder mit den politischen Parteien in direktem Wettbewerb um die Gewinnung politischen Einflusses noch stehen ihm in vergleichbarem Umfang Mittel zur Verfügung, die es ermöglichten, durch eine ausgreifende Informationspolitik auf die Meinungs- und Willensbildung des Volkes einzuwirken.

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Öffentliche Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung sind vor dem Hintergrund ihrer Aufgaben und Befugnisse sowie ihrer verfassungsrechtlichen Stellung eigenständig zu beurteilen.

Die Bundesregierung nimmt staatsleitende Funktionen wahr, die auch die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit beinhalten. Darunter fällt namentlich die Darlegung und Erläuterung der Politik der Regierung hinsichtlich getroffener Maßnahmen und künftiger Vorhaben angesichts bestehender oder sich abzeichnender Probleme sowie die sachgerechte, objektiv gehaltene Information über den Bürger unmittelbar betreffende Fragen und wichtige Vorgänge auch außerhalb oder weit im Vorfeld der eigenen gestaltenden politischen Tätigkeit.

Bei der Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben ist die Bundesregierung an die Grundrechte sowie an Gesetz und Recht gebunden (Art. 1 Abs. 3 und Art.20 Abs. 3 GG). Schon deshalb ist ihr jede Äußerung untersagt, die in anderen Zusammenhängen als „Schmähkritik“ im Sinne der §§ 185 ff. StGB zu qualifizieren wäre. Ungeachtet dessen hat die Bundesregierung die Pflicht, das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG-Grundgesetz und das daraus folgende Neutralitätsgebot zu beachten.

Da das Regierungsprogramm die Vorstellungen der sie tragenden Parteien widerspiegelt und das Handeln der Regierung mit diesen Parteien verbunden wird, fließt die Bewertung dieses Handelns in die Wahlentscheidung ein und wirkt sich auf die Wahlchancen der Parteien im politischen Wettbewerb aus. Dies ist Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie wie sie das Grundgesetz versteht. Sich daraus ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer des politischen Wettbewerbs sind hinzunehmen. Jede über das bloße Regierungshandeln hinausgehende Maßnahme, die auf die Willensbildung des Volkes einwirkt und in parteiergreifender Weise auf den Wettbewerb zwischen den politischen Parteien Einfluss nimmt, hat die Bundesregierung jedoch zu unterlassen. Es ist ihr von Verfassungs wegen versagt, sich im Hinblick auf Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu deren Gunsten oder Lasten einzusetzen.

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Für das einzelne Mitglied der Bundesregierung kann nichts anderes gelten als für die Bundesregierung als Ganzes. Dies schließt allerdings nicht aus, dass der Inhaber eines Ministeramtes

außerhalb seiner amtlichen Funktionen am politischen Meinungskampf teilnimmt und in den Wahlkampf eingreift. Die bloße Übernahme des Regierungsamtes hat nicht zur Folge, dass dem Amtsinhaber die Möglichkeit parteipolitischen Engagements nicht mehr offensteht, denn dies würde zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der die Regierung tragenden Parteien führen.

Soweit der Inhaber eines Regierungsamtes am politischen Meinungskampf teilnimmt, muss aber sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass beim Handeln des Inhabers eines Ministeramtes eine strikte Trennung der Sphären des „Bundesministers“, des „Parteipolitikers“ und der politisch handelnden „Privatperson“ nicht möglich ist. Auch aus Sicht der Bürger wird der Inhaber eines Regierungsamtes regelmäßig in seiner Doppelrolle als Bundesminister und Parteipolitiker wahrgenommen.

Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes oder der mit ihm verbundenen Ressourcen stattgefunden hat, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu bestimmen. Zu bejahen ist dies regelmäßig, wenn ein Bundesminister bei einer Äußerung ausdrücklich auf sein Ministeramt Bezug nimmt oder die Äußerung ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben des von ihm geführten Ministeriums zum Gegenstand hat. Amtsautorität wird ferner in Anspruch genommen, wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche Verlautbarungen etwa in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen oder auf offiziellen Internetseiten seines Geschäftsbereichs erklärt. Auch aus äußeren Umständen – wie der Verwendung von Staatssymbolen und Hoheitszeichen, der Nutzung von Amtsräumen oder dem Einsatz sonstiger Sach- oder Finanzmittel – kann sich ein spezifischer Amtsbezug ergeben. Dieser liegt auch vor, wenn ein Bundesminister sich im Rahmen einer von der Bundesregierung verantworteten Veranstaltung äußert oder ausschließlich aufgrund seines Regierungsamtes an einer Veranstaltung teilnimmt.

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Demgegenüber ist eine schlichte Beteiligung am politischen Wettbewerb insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Regierungsmitglied im parteipolitischen Kontext agiert, z.B. auf Parteitagen oder vergleichbaren Parteiveranstaltungen.

Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses (Talkrunden, Diskussionsforen, Interviews) bedürfen differenzierter Betrachtung. Der Inhaber eines Regierungsamtes kann sowohl als Regierungsmitglied als auch als Parteipolitiker oder Privatperson angesprochen sein, im Rahmen derselben Veranstaltung bei einer Mehrzahl von Aussagen auch in unterschiedlicher Weise. Der Inhaber eines Regierungsamtes ist nicht verpflichtet, sich auf Aussagen zur Regierungstätigkeit zu beschränken, da auch dies mit dem Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr ist er auch insoweit zur Teilnahme am politischen Meinungskampf befugt. Nimmt er aber für eine Aussage in einem Interview die mit seinem Amt verbundene Autorität in spezifischer Weise in Anspruch, ist er an das Neutralitätsgebot gebunden.

Die Geltung und Beachtung des Neutralitätsgebots unterliegen bei der Bundesregierung und ihren Mitgliedern uneingeschränkter verfassungsgerichtlicher Kontrolle.

Die Schwesig-Äußerung[↑]

Nach diesen Maßstäben ist das Recht der NPD auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG durch die angegriffene Äußerung der Bundesministerin nicht verletzt. Die Äußerung ist dem politischen Meinungskampf zuzuordnen, so dass die Bundesministerin nicht an das aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG folgende Neutralitätsgebot gebunden war.

Den äußeren Umständen lässt sich nicht entnehmen, dass die Bundesministerin die beanstandete Äußerung unter Inanspruchnahme staatlicher Autorität oder Ressourcen ihres Amtes gemacht hätte. Insbesondere ergibt sich dies nicht aus der Tatsache, dass die Bundesministerin in Wahrnehmung ihres Amtes als Bundesministerin an der Eröffnung der Tagung teilgenommen hat. Die Eröffnung der Tagung und das Interview stellen zwei unterschiedliche Sachverhalte dar, die getrennt voneinander zu beurteilen sind. Auch die übrigen äußeren Umstände führen zu keinem anderen Ergebnis. Weder hat die Bundesministerin bei der Führung des Interviews auf die Verwendung von Staatssymbolen oder Hoheitszeichen zurückgegriffen noch ist ein äußerungsbezogener Einsatz von Sach- oder Finanzmitteln feststellbar, die der Bundesministerin aufgrund ihres Regierungsamtes zur Verfügung stehen.

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Dem Interview selbst kann eine spezifische Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes ebenfalls nicht entnommen werden. Das Interview hat zwar weitgehend die Regierungstätigkeit der Bundesministerin und Projekte des von ihr geführten Ministeriums zum Gegenstand. Hiervon ist aber der Teil des Interviews zu unterscheiden, der sich mit dem möglichen Einzug der NPD in den Thüringer Landtag befasst und die streitbefangene Äußerung der Bundesministerin enthält. Die Bundesministerin bezieht sich in dieser Passage in keiner Weise auf ihr Amt als Mitglied der Bundesregierung und die damit einhergehende Autorität. Stattdessen verweist sie auf ihre Erfahrung im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und damit auf persönliche Kenntnisse, die sie gerade nicht aufgrund ihrer Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung gewonnen hat. Die Aussage der Bundesministerin stellt einen Beitrag zur parteipolitischen Auseinandersetzung dar. Hiergegen muss die NPD sich mit den Mitteln des öffentlichen Meinungskampfes zur Wehr setzen.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 16. Dezember 2014 – 2 BvE 2/14

  1. vgl. BVerfG, Urteil vom 17.09.2014 – 2 BvE 4/13[]