Rechtliches Gehör – und die Entscheidungsgründe

103 Abs. 1 GG gewährleistet dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, dass er Gelegenheit erhält, im Verfahren zu Wort zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen.

Rechtliches Gehör – und die Entscheidungsgründe

Dem entspricht die grundsätzliche Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen1.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Nur dann, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass ein Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt2.

Zwar hat das Gericht bei der Abfassung seiner Entscheidungsgründe eine gewisse Freiheit und kann sich auf die für den Entscheidungsausgang wesentlichen Aspekte beschränken, ohne dass darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt. Wenn aber ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu erwägen3. Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde. Dagegen aber schützt Art. 103 Abs. 1 GG4.

Diesen Maßstäben wird die hier angegriffene Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28.09.20185 nicht gerecht. Das Oberverwaltungsgericht hat mit seinem Nichtzulassungsbeschluss den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Es hat sich mit dem Kern des Vorbringens der Beschwerdeführerin . zum Anwendungsbereich des Art. 21 AEUV, der für den Prozessausgang entscheidungserheblich war, nicht hinreichend auseinandergesetzt. Der Nichtzulassungsbeschluss lässt nicht erkennen, dass das Oberverwaltungsgericht die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumente tatsächlich zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.

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Das Oberverwaltungsgericht beschränkt sich – unter maßgeblicher Heranziehung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE 147, 278 aus Juli 2013 – auf die Feststellung, dass aus primärem Unionsrecht ein Aufenthaltsrecht für einen Drittstaatsangehörigen folge, wenn sonst ein von diesem abhängiger Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen. Dies folge aus „Art.20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2a, Art. 21 AEUV, wonach der Status eines Unionsbürgers das Recht“ verleihe, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Es führt unmittelbar anschließend aus, dass sich „aus der Heranziehung von Art.20, 21 AEUV kein Unterschied in der Ausgestaltung dieses primärrechtlichen Aufenthaltsrechts“ ergebe. Das Verwaltungsgericht habe zutreffend „die Berufung auf Art.20, 21 AEUV verneinen können, da das freizügigkeitsberechtigte Kind“ der Beschwerdeführerin „keinem rechtlichen oder faktischen Zwang zum Verlassen des Unionsgebiets“ unterliege.

In der Sache übergeht das Oberverwaltungsgericht damit das Kernvorbringen der Beschwerdeführerin zu 1., dass sich aus der explizit benannten und zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein Unterschied zwischen Art.20 und 21 AEUV ergebe und dies zur Folge habe, dass es für Art. 21 AEUV keines rechtlichen oder faktischen Zwangs zum Verlassen des Unionsgebiets im Sinne des Art.20 AEUV bedürfe. Das Oberverwaltungsgericht wäre nach den vorstehenden Maßstäben gehalten gewesen, sich mit diesem Vorbringen und damit notwendigerweise mit der zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs konkret auseinanderzusetzen. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die ausschließlich vom Oberverwaltungsgericht angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zeitlich vor den betreffenden Urteilen des Europäischen Gerichtshofs ergangen ist und sich demnach zu diesen gar nicht verhalten konnte. Im Übrigen genügen bloß formelhafte Verweise auf höchstrichterliche Rechtsprechung ohne nähere Begründung zur Relevanz für den konkreten Fall – wie hier – auch für sich genommen schon nicht für die Gewährung rechtlichen Gehörs6. Ferner deutet auch die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, dass entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin „aus der Heranziehung von Art.20, 21 AEUV kein Unterschied in der Ausgestaltung [des] primärrechtlichen Aufenthaltsrechts“ folge, darauf hin, dass das Oberverwaltungsgericht angenommen hat, die Beschwerdeführerin mache eine Modifizierung des von Art.20 AEUV gewährleisteten Aufenthaltsrechts durch zusätzliche „Heranziehung“ des Art. 21 AEUV geltend. Dieses Verständnis lässt sich indes mit dem tatsächlichen Vorbringen der Beschwerdeführerin zu dem aus Art. 21 AEUV folgenden, von den Voraussetzungen des Art.20 AEUV unabhängigen Aufenthaltsrecht nicht vereinbaren. Nach alledem geben die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts nicht hinreichend zu erkennen, dass es die eingehende Begründung der Beschwerdeführerin für ihre gegenteilige Rechtsauffassung inhaltlich nachvollzogen und damit zur Kenntnis genommen sowie anschließend auch tatsächlich in Erwägung gezogen hat. Das Schweigen zu diesen Argumenten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs rechtfertigt vielmehr den gegenteiligen Schluss.

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Durch den Anhörungsbeschluss7. wurde die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG nicht beseitigt.

Zwar bezweckt der Rechtsbehelf der Anhörungsrüge die Heilung von Verletzungen des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG8. Eine Heilung von Gehörsverstößen in der selben oder einer weiteren Instanz ist möglich, wenn das betreffende Gericht in der Lage ist, das Vorbringen zu berücksichtigen9. Hat sich das Gericht in einem solchen Fall eine abschließende Meinung gebildet, kann das Bundesverfassungsgericht davon ausgehen, dass eine für den Beteiligten günstigere Lösung ausgeschlossen ist, die Entscheidung also nicht auf der Gehörsverletzung beruht10. Ob die Rechtsmeinung des Gerichts fachrechtlich zutrifft ist im Rahmen der Rüge einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nicht vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen11.

Hier ist jedoch durch den Anhörungsrügebeschluss des Oberverwaltungsgerichts keine Heilung eingetreten. Vielmehr hat das Oberverwaltungsgericht seinen Gehörsverstoß vertieft.

Die Beschwerdeführerin hat mit ihrer Anhörungsrüge ausdrücklich auf die fehlende Relevanz der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hingewiesen sowie nochmals die betreffenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs dargestellt und erläutert, weshalb daraus nach ihrer Ansicht folge, dass für ein aus Art. 21 AEUV herzuleitendes Freizügig- keitsrecht ein anderer Maßstab als für ein solches aus Art.20 AEUV gelte. Das Oberver- waltungsgericht hat die Anhörungsrüge dagegen mit der knappen Begründung zurückgewiesen, dass sich die Beschwerdeführerin allein gegen die Rechtsauffassung des Gerichts wende und demnach in der Sache schon keinen Gehörsverstoß geltend mache. Zu der Rechtsfrage der möglicherweise divergierenden Maßstäbe betreffend Art.20 AEUV einerseits und Art. 21 AEUV andererseits hatte das Oberverwaltungsgericht im Nichtzulassungsbeschluss jedoch keine eigene Rechtsauffassung zu erkennen gegeben, gegen die sich die Beschwerdeführerin hätte wenden können; die Frage war (und ist bislang) vom Oberverwaltungsgericht nicht erörtert worden. Entsprechend hat es auch den vertiefenden Vortrag der Beschwerdeführerin in ihrer Anhörungsrüge – insbesondere auch bezüglich der in Abrede gestellten Relevanz des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2013 – nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen.

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uch der allein „der Vollständigkeit halber“ erfolgende Verweis auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 01.06.2017 – 18 B 222/16 – gebietet insofern keine andere Bewertung. Diese Bezugnahme geht fehl. Der zitierte Beschwerdebeschluss verhält sich nicht zu der von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Rechtsfrage. Vielmehr war das Gericht seinerzeit im Schwerpunkt mit der Frage befasst, ob der Begriff des Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 Nr. 2 Buchstabe d)) der Richtlinie 2004/38/EG über den Wortlaut der Regelung hinaus auch ein Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers unabhängig von einer Unterhaltsgewährung durch letzteren erfasst, was es im Ergebnis verneint hat12. Diese Rechtsauffassung teilt die Beschwerdeführerin jedoch, wodurch die Herleitung eines Freizügigkeitsrechts unmittelbar aus Art. 21 AEUV erst erforderlich wird. Allein in der letzten Randnummer13 des genannten Beschlusses finden sich überhaupt Ausführungen zu Art. 21 AEUV, wo es aber lediglich heißt, dass sich die Beschwerde zu „den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu Art. 21 AEUV“ nicht verhalte. Eine Aussage zu der von der Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgeworfenen Rechtsfrage lässt sich dem ersichtlich nicht entnehmen. Der Verweis im Anhörungsrügebeschluss zeugt so letztlich ebenso davon, dass das Oberverwaltungsgericht das Vorbringen der Beschwerdeführerin bereits nicht hinreichend nachvollzogen hat.

Der Nichtzulassungsbeschluss beruht auch auf dem aufgezeigten Gehörsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberverwaltungsgericht, hätte es das Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen, zu einem anderen, der Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis – nämlich der Feststellung der unmittelbar aus Art. 21 AEUV herrührenden Freizügigkeitsberechtigung – gekommen wäre. Seitens des Bundesverfassungsgerichts, das – wie bereits betont – die primäre Zuständigkeit der Fachgerichte für die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts zu respektieren hat14, lässt sich auch nicht feststellen, dass dem Begehren der Beschwerdeführerin ganz unabhängig von jeglichem Vorbringen von Rechts wegen nicht entsprochen werden dürfte15. Dies gilt auch mit Blick auf die vorliegend nach Erlass des Nichtzulassungsbeschlusses eingetretene Änderung der Rechtslage, die das Oberverwaltungsgericht bei einer erneuten Entscheidung zu berücksichtigen hätte.

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Angesichts der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG konnte es für das Bundesverfassungsgericht dahinstehen, ob die Verfassungsbeschwerde auch insoweit begründet ist, als die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rügt.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. August 2023 – 2 BvR 54/19

  1. vgl. BVerfGE 60, 175 <210 ff.> 64, 135 <143> 65, 227 <234> 86, 133 <144> BVerfGK 10, 41 <45> BVerfG, Beschluss vom 07.04.2022 – 2 BvR 2194/21, Rn. 55[]
  2. vgl. BVerfGE 25, 137 <140 f.> 85, 386 <404> 96, 205 <216 f.> BVerfG, Beschluss vom 07.04.2022 – 2 BvR 2194/21, Rn. 55[]
  3. vgl. BVerfGE 47, 182 <188 f.> 86, 133 <146> BVerfG, Beschluss vom 27.02.2018 – 2 BvR 2821/14, Rn. 18; Beschluss vom 20.05.2022 – 2 BvR 1982/20, Rn. 41[]
  4. vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.06.1992 – 1 BvR 600/92 11; Beschluss vom 27.02.2018 – 2 BvR 2821/14, Rn. 18; Beschluss vom 20.05.2022 – 2 BvR 1982/20, Rn. 41[]
  5. Sächs. OVG, Beschluss vom 28.09.2018 – 3 A 947/18[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 – 1 BvR 1304/13, Rn. 30[]
  7. Sächs. OVG, Beschluss vom 26.11.2018 – 3 A 947/18[]
  8. vgl. BVerfGE 107, 395 <410, 416> BVerfGK 15, 116 <120>[]
  9. vgl. BVerfGE 5, 22 <24> 62, 392 <397> 73, 322 <326 f.> 107, 395 <411 f.> BVerfGK 15, 116 <120>[]
  10. vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.02.2009 – 1 BvR 182/09, Rn. 27[]
  11. vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.10.2009 – 1 BvR 178/09, Rn. 10[]
  12. vgl. OVG NRW, Beschluss vom 01.06.2017 – 18 B 222/16 2-8[]
  13. OVG NRW, a.a.O., Rn. 9[]
  14. vgl. erneut BVerfGE 106, 28 <45> BVerfGK 2, 102 <104> BVerfG, Beschluss vom 15.11.2010 – 2 BvR 1183/09, Rn. 31[]
  15. vgl. insoweit BVerfG, Beschluss vom 15.11.2010 – 2 BvR 1183/09, Rn. 31[]
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