Allein die Tätigkeit als Wehrmachtrichter während des Zweiten Weltkriegs an einem Feldkriegsgericht in den besetzten Gebieten rechtfertigt nicht die Annahme, dieser habe gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet. Diese Auffassung vertrat jetzt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig im Rahmen eines Rechtsstreits um Ausgleichsleistungen für Enteignungen während der sowjetischen Besatzungszeit.

Das Gesetz über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können (Ausgleichsleistungsgesetz – AusglLeistG) bestimmt insoweit, dass Leistungen nach diesem Gesetz u.a. nicht gewährt werden, wenn der Berechtigte oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet, gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen, oder dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat (§ 1 Abs. 4 AusglLeistG).
In dem jetzt vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall begehren die Klägerinnen als Erbeserbinnen ihres Vaters eine Ausgleichsleistung für die während der sowjetischen Besatzungszeit Anfang 1949 auf besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgte entschädigungslose Enteignung von sechs Grundstücken in Berlin, die im Miteigentum ihres verstorbenen Vaters standen. Dieser war Rechtsanwalt und wurde ab dem Jahre 1940 als Wehrmachtrichter bei einem Feldkriegsgericht des Heeres eingesetzt. So war er als Heeresrichter bei dem Gericht der Gruppe XXI und bei dem Gericht im Bereich des Armeeoberkommandos Norwegen tätig. Im Jahre 1944 wurde er zum Oberkriegsgerichtsrat d.R. befördert. Der Beförderung ging eine Beurteilung voraus, der zufolge er die absolute Gewähr biete, dass er sich jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einsetze.
Das beklagte Land Berlin lehnte den Antrag der Klägerinnen auf Gewährung von Ausgleichsleistungen mit der Begründung ab, ihr Vater habe dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet. Das Verwaltungsgericht Berlin gab der hiergegen erhobenen Klage mit der Begründung statt, die Voraussetzungen eines Ausschlusstatbestands nach § 1 Abs. 4 des Ausgleichsleistungsgesetzes (AusglLeistG) lägen nicht vor1. Einzelheiten, wie der Vater der Klägerinnen sein Amt ausgeübt habe, seien nicht bekannt. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei die Gewährung der Ausgleichsleistung weder wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit noch wegen eines erheblichen Vorschubleistens zugunsten des nationalsozialistischen Systems gemäß § 1 Abs. 4 Alt. 1 und 3 AusglLeistG ausgeschlossen.
Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des beklagten Landes Berlin hat das Bundesverwaltungsgericht nun zurückgewiesen:
Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Annahme des Verwaltungsgerichts gebunden, es könne nicht festgestellt werden, dass der Vater der Klägerinnen durch sein individuelles Wirken an dem Feldkriegsgericht einen der Ausschlusstatbestände des Ausgleichsleistungsgesetzes erfüllt habe. Deshalb wäre der Ausschluss der Ausgleichsleistung nur dann gerechtfertigt, wenn eine „tatsächliche Vermutung“ dahin besteht, dass allein die Tätigkeit als Wehrmachtrichter darauf schließen lässt, der Vater habe gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet.
Eine solche Vermutung setzt einen Erfahrungssatz voraus, nach dem grundsätzlich jeder Wehrmachtrichter an einem Feldkriegsgericht in den besetzten Gebieten gegen die vorgegebenen natürlichen Rechte des Einzelnen verstoßen oder Handlungen vorgenommen hat, die die Verwirklichung der spezifischen Ziele des Nationalsozialismus in erheblicher Weise gefördert haben. Diese Typizität lässt sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts aber mit der insoweit gebotenen Gewissheit nicht aus zeitgeschichtlichem Erfahrungswissen, wie es aus allgemein zugänglichen Quellen zuverlässig zu entnehmen ist, ableiten.
Zweifellos bewirkte die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eine Perversion der Rechtsordnung einschließlich der Rechtsprechung, die schlimmer kaum vorstellbar ist. Die Strafpraxis der Feldkriegsgerichte war durch oftmals drakonische und übermäßige Strafen und insbesondere durch die exzessive Verhängung der Todesstrafe geprägt. Sie leistete einen maßgeblichen Beitrag zur Stabilisierung des nationalsozialistischen Systems.
Die Voraussetzungen einer tatsächlichen Vermutung, dass grundsätzlich jeder Wehrmachtrichter gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen wie auch dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat, können gleichwohl nicht festgestellt werden. Den Erkenntnissen der historischen Forschung ist nämlich zu entnehmen, dass ein Teil der Wehrmachtrichter – wenn auch eine Minderheit – bestrebt war, Unrecht zu vermeiden und Gerechtigkeit sowie Ausgewogenheit walten zu lassen.
Es wird auch davon ausgegangen, dass ein beschränkter Teil der Strafpraxis der Feldkriegsgerichte rechtsstaatlich noch vertretbar war.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. Mai 2012 – 5 C 2.11
- VG Berlin, Urteil vom 08.10.2010 – 4 K 5.10[↩]