Sicherungshaft – und ihre Anordnung gegenüber Minderjährigen

Bei der Anordnung von Sicherungshaft gegenüber Minderjährigen kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wegen der Schwere des Eingriffs besondere Bedeutung zu1.

Sicherungshaft – und ihre Anordnung gegenüber Minderjährigen

Nach § 62a Abs. 3 AufenthG sind bei minderjährigen Abschiebungsgefangenen unter Beachtung der Maßgaben der in Art. 17 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger2 alterstypische Belange zu berücksichtigen. Nach Art. 17 Abs. 1 und 4 der Rückführungsrichtlinie wird bei unbegleiteten Minderjährigen Haft nur im äußersten Fall und für die kürzestmögliche Dauer eingesetzt; sie müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind3.

Gleiches gilt für eine Anordnung nach § 15 Abs. 6 AufenthG, da das Festhalten auf dem Flughafen trotz der Möglichkeit, auf dem Luftweg abzureisen, nach einer gewissen Dauer und wegen der damit verbundenen Eingriffsintensität einer Freiheitsentziehung gleichsteht. Grundsätzlich ist der Haftrichter daher auch bei einer solchen Anordnung gemäß § 26 FamFG von Amts wegen verpflichtet zu prüfen, ob eine altersgerechte Unterbringung des Minderjährigen gewährleistet und die über 30 Tage hinausgehende Unterbringung auf dem Flughafen auch im Übrigen noch verhältnismäßig ist4.

Bestehen Zweifel an der Volljährigkeit des Betroffenen, hat das Gericht gemäß § 26 FamFG den Sachverhalt aufzuklären. Solche Zweifel werden allerdings nicht bereits dadurch begründet, dass der Betroffene angibt, minderjährig zu sein; ist diese Behauptung schon aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes des Betroffenen offenkundig falsch – was von dem Haftrichter nachvollziehbar darzulegen ist –, sind weitere Ermittlungen zum Alter des Betroffenen nicht erforderlich. Liegt eine Volljährigkeit des Betroffenen hingegen nicht klar zutage, sind weitere Aufklärungen erforderlich, wobei hohe Anforderungen an die Ausfüllung des Amtsermittlungsgrundsatzes zu stellen sind. Eine Einschätzung des Haftrichters, der Betroffene sei volljährig, reicht in der Regel – selbst wenn sie auf ein großes Erfahrungswissen gestützt ist – nicht aus, um ein sicheres Bild zu gewinnen. Vielmehr sind die nach § 49 Abs. 3 i.V.m. Abs. 6 AufenthG vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen. Im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen von einer Minderjährigkeit auszugehen5.

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Diesen Anforderungen hat im hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall weder der Haftrichter noch das Beschwerdegericht Rechnung getragen. Sie sind der Frage einer altersgerechten Unterbringung des Betroffenen nicht nachgegangen, da sie unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht zu der Feststellung gelangt sind, dass er volljährig ist.

Wie sich bereits aus der Schätzung des Alters des Betroffenen auf 18 Jahre ergibt, handelt es sich nicht um einen eindeutigen Fall, der keine Zweifel an der Volljährigkeit aufwirft. Der Haftrichter war daher zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet. Seine Einschätzung von der Volljährigkeit des Betroffenen gründete sich jedoch allein auf die in der Ausländerakte befindliche Niederschrift des Jugendamtes über die Altersangabe eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings vom 01.08.2014, der er sich „aufgrund des in der Anhörung gewonnenen persönlichen Eindrucks“ angeschlossen hat. Dies reicht als Grundlage für die Beurteilung des Lebensalters des Betroffenen nicht aus. In der Niederschrift des Jugendamtes ist lediglich die vorgedruckte Formulierung angekreuzt „Nach dem äußeren Erscheinungsbild, dem Verhalten der Person und den weiteren Umständen (ggfs. ergänzender Erläuterungen vornehmen) ist nach Überzeugung der o.a. davon auszugehen, dass die Altersangabe den tatsächlichen Verhältnissen NICHT entspricht“. Ergänzende Erläuterungen enthält die Niederschrift nicht, insbesondere ist nicht erkennbar, anhand welcher konkreten Tatsachen die beiden Mitarbeiter des Jugendamtes die Erkenntnis gewonnen haben, dass der Betroffene volljährig ist. Angesichts dessen waren die weitere Aufklärung und die Vornahme von Ermittlungen durch den Haftrichter zum tatsächlichen Alter des Betroffenen unerlässlich. Hierfür genügte es nicht, dass er, ohne sich auf weitere Umstände zu stützen6, allein auf seinen persönlichen Eindruck abstellte.

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Der Verstoß des Amtsgerichts gegen die Amtsermittlungspflicht ist nicht von dem Beschwerdegericht geheilt worden7. Im Hinblick auf die unzureichende Aufklärung durch den Haftrichter durfte sich dieses nicht mit dem bloßen Hinweis begnügen, dass es aufgrund der Einschätzungen des Jugendamtes und des Haftrichters von einer Volljährigkeit des Betroffenen ausgehe.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.2.2015 – V ZB 185/14

  1. BGH, Beschluss vom 29.09.2010 – V ZB 233/10, NVwZ 2011, 320; Beschluss vom 07.03.2012 – V ZB 41/12, InfAuslR 2012, 224[]
  2. ABl. L 348 vom 24.12 2008, S. 98[]
  3. vgl. BGH, Beschluss vom 07.03.2012 – V ZB 41/12, InfAuslR 2012, 224[]
  4. BGH, Beschluss vom 11.10.2012 – V ZB 154/11, FGPrax 2013, 38 Rn. 13 ff.[]
  5. vgl. BGH, Beschluss vom 29.09.2010 – V ZB 233/10, NVwZ 2011, 320 Rn. 11[]
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 29.09.2010 – – V ZB 233/10, NVwZ 2011, 320 Rn. 12[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 20.01.2011 – – V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 12[]