„Step Italy“ – systemische Mängel im Dublin-III-Verfahren

Angesichts der Vielzahl der in Italien ankommenden Flüchtlinge und der dort gestellten Asylanträge ist es für das Gericht nach wie vor nicht ersichtlich, dass eine sachgerechte, den Anforderungen der Richtlinie 2003/9/EG vom 27.01.2003 (Aufnahmerichtlinie) entsprechende Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern erfolgt.

„Step Italy“ – systemische Mängel im Dublin-III-Verfahren

Die Bedenken der unzureichenden Aufnahmebedingungen werden sowohl vom BVerfG als auch vom EGMR geteilt und beschränken sich nicht nur auf Familien mit (kleinen) Kindern1.

Die bloße Bestätigung der italienischen Behörde, dass die betroffene Person nach ihrer Überstellung in das ERF Projekt STEP ITALY übernommen werde, stellt keine ausreichende Garantieerklärung im Sinne der Rechtsprechung des EGMR dar2.

Angesichts der Vielzahl der in Italien ankommenden Flüchtlinge ist für das Verwaltungsgericht Schwerin nach wie vor nicht ersichtlich, dass eine sachgerechte, den Anforderungen der Richtlinie 2003/9/EG vom 27.01.2003 (Aufnahmerichtlinie) entsprechende Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern erfolgt3.

Nach den gerichtlichen Feststellungen sind im Laufe des Jahres 2014 ca. 170.000 Flüchtlinge in der Republik Italien angekommen4. Laut Eurostat haben bis Ende Dezember 2014 rund 64.635 Personen Asylanträge gestellt. Ende Januar 2014 waren in Italien rund 14.555 Asylverfahren, bis Ende Dezember 2014 bereits rund 45.750 Asylverfahren anhängig, also derzeit mit erheblich steigender Tendenz.

Nach den letzten dem Gericht bekannten Angaben im AIDA-Bericht5 soll es nach dem Stand April 2014 in Italien 21.536 Unterkunftsplätze geben. Allerdings ist die Anzahl der von humanitären oder kirchlichen Organisationen betriebenen Unterkünfte immer noch unbekannt. Zwar ist beabsichtigt, die Anzahl der Plätze zu erhöhen, inwieweit das geschehen ist, entzieht sich der Kenntnis des Gerichts. Laut Angaben der Antragstellerin soll ab August/September 2014 das SPRAR-System auf 19.000 Plätze gesteigert werden.

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Selbst wenn bei Berücksichtigung dieser 19.000 Plätze von 27.516 Unterbringungsmöglichkeiten ausgegangen werden könnte, liegt angesichts der Anzahl der Asylantragsteller von rund 64.635 Personen eine erhebliche Lücke vor. Südtirol-online berichtete am 22.12 2014, dass die katholische Kirche 2014 mindestens 15.000 Flüchtlinge vorübergehend untergebracht hat. Nach einer Mitteilung von Südtirol-online vom 29.01.2015 seien laut Aussage des Innenstaatssekretärs Minniti im Januar 2015 wiederum 3.528 Flüchtlinge in Italien angekommen.

Deshalb und aus weiteren Gründen bestehen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Schwerin6 nach vorläufiger Wertung im Fall der Republik Italien durchgreifende Bedenken bezüglich einer hinreichenden Unterbringung und –versorgung von ankommenden Flüchtlingen, auch wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – um sog. Dublin-Rückkehrer handelt.

Die aufgezeigten Bedenken werden sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geteilt und beschränken sich nicht nur auf Familien mit (kleinen) Kindern. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass „jedenfalls“ bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen und Kleinstkindern Garantieerklärungen der italienischen Regierung notwendig sind. Dies schließt entsprechende Erklärungen für Einzelpersonen nicht aus7.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt im Fall Tarakhel die Aufnahmebedingungen in Italien unabhängig vom zu entscheidenden Einzelfall der Familie der dortigen Antragsteller dar und bewertet sie als menschenrechtswidrig. Die Anwendung auf den Einzelfall erfolgt erst ab Ziff. 1208.

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Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Schwerin folgen die aufgezeigten Bedenken im Wesentlichen daraus, dass

  1. ungeklärt ist, ob und wie rasch Asylbewerber – einschließlich sog. Dublin-Rückkehrer – nach Asylantragstellung zwischen dieser Antragstellung und Begründung des Antrags (Verbalizzazione) untergebracht und versorgt werden und
  2. angesichts der im Jahre 2014 und bisher 2015 in Italien angekommenen Flüchtlinge und der zum Teil unbekannten Zahlen über Unterbringungsmöglichkeiten derzeit vieles dafür spricht, dass eine Vielzahl von Flüchtlingen nicht ausreichend untergebracht und versorgt werden.
  3. Zudem stellt sich die Frage der Auswirkungen systemischer Mängel bei (rechtlicher oder faktischer) Residenzpflicht für Asylbewerber in Italien.

Die Zusage des italienischen Innenministeriums, den Antragsgegner im Falle seiner Abschiebung nach Italien (zunächst) in ein Programm „Step Italy“ zu übernehmen, führt zu keiner anderen Bewertung. Es sind ihr und den dem Gericht zur Verfügung gestellten Unterlagen nicht zu entnehmen, wie der Antragsgegner konkret untergebracht werden soll und ob seine Unterbringung für die gesamte Dauer des Asylverfahrens erfolgen würde. Denn die Antragstellerin hat in ihrem Schriftsatz vom 02.01.2015 ausgeführt, die Unterbringung würde zunächst nur für sechs Monate erfolgen, es bestehe aber die Möglichkeit der Verlängerung.

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Schwerin ist nach vorläufiger Wertung die Erklärung des italienischen Innenministeriums auch im Übrigen unzureichend. Das Gericht folgt insoweit der Auffassung des Verwaltungsgerichts Hannover, welches diesbezüglich ausgeführt hat9: „Eine danach erforderliche ‚Garantieerklärung’ der zuständigen italienischen Behörden für eine menschenrechtskonforme Behandlung und Unterbringung des Antragstellers nach dessen Rücküberstellung liegt bisher nicht vor. Namentlich genügt die von den italienischen Behörden unter dem 08.01.2015 abgegebene Erklärung, wonach Italien zur Rückübernahme des Antragstellers bereit und vorgesehen sei, diesen nach seiner Rückkehr und Meldung dem ERF-Projekt „STEP ITALY“ zuzuführen, den inhaltlichen Anforderungen an eine entsprechende Erklärung nicht. Denn diese Erklärung enthält keinerlei Hinweise darauf, in welcher Einrichtung der Antragsteller nach seiner Rückkehr konkret untergebracht werden soll. Eine Prüfung, ob die Unterbringungsverhältnisse für den Antragsteller nach einer Rückführung den Anforderungen der EMRK genügen würden, ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Damit ist die Gefahr, im Falle einer Rückführung nach Italien mangels einer den Mindesterfordernissen entsprechenden Unterbringung einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein, für den Antragsteller nicht hinreichend ausgeräumt. Das steht einem Vollzug der Abschiebungsanordnung derzeit entgegen.“

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Verwaltungsgericht Schwerin, Beschluss vom 24. Februar 2015 – 3 B 1023/14 As

  1. vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 732/14; EGMR, Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12, Tarakhel, NVwZ 2015, 127 ff. Ziff. 111 ff.[]
  2. wie VG Hannover, Beschluss vom 04.02.2015 – 3 B 388/15[]
  3. vgl. auch VG Minden, Beschluss vom 29.12 2014 – 10 L 607/14.A[]
  4. vgl. Der Standard (Wien) vom 13.01.2015[]
  5. AIDA-Bericht, S. 49[]
  6. vgl. zuletzt etwa VG Schwrin Beschluss vom 18.02.2015 – 3 B 374/15 As – sowie ausführlich im streitgegenständlichen Beschluss, aaO Rn. 46 ff.[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 732/14[]
  8. EGMR, Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12, NVwZ 2015, 127, 130 (Ziff. 111 bis 115, 120); dazu Tiedemann, NVwZ 2015, 121, 123; ebenso VG Hannover, Beschluss vom 29.01.2015 – 3 B 13203/14; sowie Beschluss vom 04.02.2015 – 3 B 388/15[]
  9. VG Hannover, Beschluss vom 04.02.2015 – 3 B 388/15[]