Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung wegen der schlechten humanitären Situation im Herkunftsland begründet nur dann einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, wenn sie zielgerichtet von einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG ausgeht1.

Für eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG muss die willkürliche Gewalt beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände ein besonders hohes Niveau für die Zivilbevölkerung erreichen. Hierzu bedarf es Feststellungen zur Gefahrendichte, die neben einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos auch eine wertende Gesamtschau zur individuellen Betroffenheit des Ausländers umfassen2.
in Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 AsylG – vorbehaltlich der in § 4 Abs. 2 AsylG normierten und hier nicht einschlägigen Ausschlussgründe – subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
- die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
- Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
- eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Nach § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens treten; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.
Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung)3 – sog. Anerkennungsrichtlinie – zum subsidiären Schutz umgesetzt.
Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist – wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK – aufgrund weitgehend identischer sachlicher Regelungsbereiche4 auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen. Danach haben die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat weder notwendig noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein5. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK annehmen zu können. Denn die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Anderes gilt nach der Rechtsprechung des EGMR nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen6.
Ob das Verwaltungsgericht in Anwendung dieses strengen Prüfungsmaßstabs zu Recht das für eine unmenschliche Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen erforderliche hohe Gefährdungsniveau angenommen hat, das erforderlich ist für das Vorliegen eines außergewöhnlichen Falles, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung7. Denn es hat erkannt, dass für die Anwendung des Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2011/95/EU allein eine in der Auslegung des EGMR in Ausnahmefällen drohende Verletzung des Art. 3 EMRK nicht genügt. Vielmehr muss eine den subsidiären Schutz begründende Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 3 AsylG stets von einem Akteur i.S.d. § 3c AsylG ausgehen8.
In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist geklärt, dass der mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wortgleiche Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU) dahingehend auszulegen ist, dass es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs bedarf, die die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert, zu verantworten hat. Im Fall einer unzureichenden medizinischen Versorgung hat der Unionsgerichtshof mit Urteil vom 18.12.20149 entschieden, dass der in Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU) genannte ernsthafte Schaden nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslandes sein darf. Dies entnimmt der EuGH vor allem Art. 6 Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU), der eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen für sich genommen hingegen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre10. Die Anerkennungsrichtlinie zielt darauf ab, die Schutzregelung für Flüchtlinge durch den subsidiären Schutz zu ergänzen und insoweit die Personen zu bestimmen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen; ihr Geltungsbereich erstreckt sich hingegen nicht auf Personen, die aus anderen – etwa familiären oder humanitären – Gründen in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen11. Der EuGH verneint infolgedessen das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU), solange einem erkrankten Antragsteller bei Rückkehr die medizinische Versorgung nicht „absichtlich“ verweigert wird12. Dies bekräftigend geht auch Generalanwalt B. davon aus, dass ein ernsthafter Schaden i.S.d. Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU) durch direktes oder indirektes Behördenhandeln verursacht werden muss. Die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung müsse auf Faktoren beruhen, die den Behörden des Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst seien, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehöre, ihn persönlich bedrohten oder diese Bedrohung tolerierten, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgehe, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen könnten13. Im Einklang damit führt der EuGH im Urteil vom 24.04.2018 – C-353/16 [ECLI:EU:C:2018:276], M.P. – Rn. 51)) aus, dass die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, die auf das Fehlen angemessener Behandlungsmöglichkeiten in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, ohne dass diesem Drittstaatsangehörigen die Versorgung „vorsätzlich“ verweigert würde, keine ausreichende Rechtfertigung dafür sein kann, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Dieser Rechtsprechung zufolge muss die schadenszufügende Handlung oder Unterlassung des Akteurs bewusst und zielgerichtet („absichtlich“ bzw. „vorsätzlich“) ausgeführt werden. Ähnlich wie in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Feststellung einer Verfolgungshandlung im Rahmen der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 Asyl(Vf)G14 bedarf es damit eines zielgerichteten Handelns bzw. Unterlassens eines Akteurs, das die schlechte humanitäre Lage hervorruft oder erheblich verstärkt15. Dies gilt unter Berücksichtigung der vom EuGH allgemein hervorgehobenen Ziele der Richtlinie und der ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 6 Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU) nicht nur, wenn der drohende Schaden auf allgemeine Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems im Herkunftsland zurückzuführen ist, sondern für alle von Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2011/95/EG erfassten Fallkonstellationen einer im Herkunftsland drohenden unmenschlichen Lebenssituation.
Diese Auslegung steht im Einklang mit Art. 3 EMRK sowie der in ihrem Lichte auszulegenden Regelungen in Art. 4 und Art.19 Abs. 2 GRC. Eine in der Auslegung des EGMR in Ausnahmefällen drohende Verletzung des Art. 3 EMRK im Herkunftsland steht einer Abschiebung in diesen Staat entgegen. Dies bedeutet aber nicht, dass dem Drittstaatsangehörigen deswegen auch erlaubt werden muss, sich auf der Grundlage des subsidiären Schutzes in einem Mitgliedstaat aufzuhalten16. Mit der möglichen Versagung internationalen Schutzes wird weder unionsrechtlich17 noch nach nationalem Recht (vgl. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat – auch in Bezug auf Art. 3 EMRK – rechtlich zulässig ist.
In Anwendung dieser Grundsätze hat das erstinstanzlich mit dem vorliegenden Fall befasste Verwaltungsgericht Wiesbaden stichhaltige Gründe für die Annahme eines ernsthaften Schadens i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG allein infolge der schlechten humanitären Situation in Somalia verneint, weil diese nicht zielgerichtet von einem Akteur ausgeht18. Dabei ist es in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass Somalia geprägt ist von einem jahrelangen bewaffneten Konflikt zwischen der Al Shabaab einerseits und den somalischen Regierungstruppen und deren Verbündeten andererseits. Die dadurch kausal herbeigeführte Verschlechterung der Lebensbedingungen für die somalische Zivilbevölkerung hat es aber „nur“ als Kollateralschaden des intensiven Bürgerkrieges bewertet. Maßnahmen der Al Shabaab und der Behörden, die sich auf die humanitäre Lage auswirkten, zielten nicht auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung ab, sondern seien Mittel zum Zweck im Kampf um die Vorherrschaft. Selbst wenn man in diesen Handlungen eine zielgerichtete Verschlechterung der humanitären Lage sehen würde, wäre dieser Einfluss relativ gering, weil der bewaffnete Konflikt der maßgebliche Grund für die schlechten Lebensbedingungen sei und die zielgerichtete Verschlechterung nur einen Teilgrund bildete.
Weder die tatrichterliche Würdigung der Verhältnisse in Somalia durch das Verwaltungsgericht noch dessen hilfsweise daran anknüpfende rechtliche Schlussfolgerung, dass allein eine allenfalls untergeordnete zielgerichtete Verschlechterung der humanitären Lage durch einen Akteur i.S.d. § 3c AsylG nicht für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG genügt, sind revisionsrechtlich zu beanstanden. Schlechte humanitäre Verhältnisse in einem Land sind typischerweise auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen. Bedarf es für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG eines Akteurs, dem die unmenschliche Lebenssituation zuzurechnen ist, muss diese jedenfalls maßgeblich und nicht nur in geringem Umfang auf das bewusste und zielgerichtete Handeln eines Akteurs zurückzuführen sein.
Die hier klagende, nach Deutschland geflüchtete Somalierin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Danach gilt als ernsthafter Schaden auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Mit dieser – die Vorgaben des Art. 15 Buchst. c Richtlinie 2011/95/EU umsetzenden – dritten Fallgruppe erfasst der subsidiäre Schutz Gefahrenlagen in Bezug auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die im Rahmen von bewaffneten Konflikten entstehen und nach der Grundkonzeption der Genfer Flüchtlingskonvention für sich genommen nicht als Verfolgung zu qualifizieren sind.
Das Verwaltungsgericht hat für seine Prognose, ob die Somalierin bei Rückkehr nach Somalia einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist, zu Recht auf die tatsächlichen Verhältnisse in Mogadischu abgestellt. Bezugspunkt für die nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gebotene Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird19. Da die Somalierin vor ihrer Ausreise in Mogadischu gelebt hat, ist die Annahme gerechtfertigt, dass sie dorthin zurückkehren wird.
Zutreffend ist das Verwaltungsgericht weiter davon ausgegangen, dass sich eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Personen im Rahmen eines – vom Verwaltungsgericht zugunsten der Somalierin unterstellten – bewaffneten Konflikts ergeben kann, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet.
Nach der Rechtsprechung des EuGH bezieht sich das Erfordernis einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt auf schädigende Eingriffe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein20. Mit Blick auf den 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU), wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen „normalerweise“ keine individuelle Bedrohung darstellen, „die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre“, den subsidiären Charakter des in Frage stehenden Schadens und die Systematik des Art. 15 Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU), bei dem die unter Buchstabe a und b definierten Schäden einen klaren Individualisierungsgrad voraussetzen, bleibt dies allerdings einer außergewöhnlichen Situation vorbehalten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre21. Dies präzisiert der EuGH dahin, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist22. Geht aufgrund des in Somalia herrschenden bewaffneten Konflikts in der Region Mogadischu für eine Vielzahl von Zivilpersonen eine allgemeine Gefahr aus, muss sich diese für einen Anspruch der Somalierin auf Gewährung subsidiären Schutzes folglich in ihrer Person so verdichten, dass sie für diese eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt.
Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Zu berücksichtigen sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt23. Derartige gefahrerhöhende individuelle Umstände hat das Verwaltungsgericht – für das Revisionsgericht bindend – bei der Somalierin nicht festgestellt.
Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann ausnahmsweise auch in Fällen, in denen – wie hier – individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre24. Liegen keine gefahrerhöhenden Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich23. Zur Bestimmung der hierfür erforderlichen Gefahrendichte bedarf es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – in Anlehnung an die von ihm zur Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Grundsätze25 – zunächst einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos und auf deren Grundlage einer wertenden Gesamtschau zur individuellen Betroffenheit des Ausländers2. Dieser „quantitative“ Ansatz in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unterscheidet sich im Ergebnis allenfalls graduell von der teilweise vertretenen Gegenposition, wonach es einer rein qualitativen Betrachtung bedürfe26. Denn er zielt nicht auf einen gar höchstrichterlich auf alle Konfliktlagen anzuwendenden „Gefahrenwert“ im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen Mindestschwelle, sondern lässt durch das Erfordernis einer abschließenden Gesamtbetrachtung ausreichend Raum für qualitative Wertungen; auch die Gegenposition kommt bei ihrer rein qualitativen Betrachtung letztlich nicht ohne einen Rückgriff auf das reale Verfolgungsgeschehen aus27.
Ob insoweit mit Blick auf die Rechtsprechung in anderen europäischen Staaten und einen dies aufgreifenden Vorlagebeschluss des VGH Baden-Württemberg zu den unionsrechtlichen Kriterien, nach denen das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung zu beurteilen ist28, eine weitere Klärung durch den EuGH zu erwarten ist, kann vorliegend indes dahinstehen. Denn das Verwaltungsgericht ist im Wege einer Gesamtbetrachtung zu dem Ergebnis gekommen, dass das Ausmaß der allgemeinen Gefahr in Mogadischu – unabhängig von einer quantitativen Relationsbetrachtung – nicht die erforderliche Gefahrendichte aufweist. Das Fehlen quantitativer Feststellungen zum Tötungs- und Verletzungsrisiko durch Gegenüberstellung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher Gewalt hat es damit begründet, dass derartige Feststellungen hinsichtlich der Lage in Somalia kaum verlässlich möglich seien. Die Gesamtzahl der Personen, die Opfer willkürlicher Gewalt geworden seien, könne nicht einmal annäherungsweise verlässlich geschätzt werden, weil belastbare Zahlen nicht vorhanden seien. Ob das Verwaltungsgericht damit seiner gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO hinreichend nachgekommen ist und ihm eine weitere Aufklärung weder möglich noch zumutbar war, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, da die Sprungrevision allein der Klärung von grundsätzlichen Rechtsfragen dient und nicht auf Verfahrensrügen gestützt werden kann (§ 134 Abs. 4 VwGO), die hier auch nicht erhoben worden sind. Unterstellt man auf der Grundlage der das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich bindenden tatrichterlichen Feststellungen, dass das Tötungs- und Verletzungsrisiko in quantitativer Hinsicht im Rahmen der dem Bundesamt und den Gerichten obliegenden Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts noch nicht einmal annäherungsweise verlässlich bestimmt werden kann, ist die dann nicht zuletzt auf qualitative Erwägungen gestützte, weitere Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Somalierin bei einer Rückkehr in die Region Mogadischu keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt wäre, nicht zu beanstanden.
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist die Sicherheitslage in Mogadischu zwar weiterhin volatil. Die größte Gefahr geht für die Zivilbevölkerung in der Region aber nicht von bewaffneten Auseinandersetzungen der Bürgerkriegsparteien, sondern von Anschlägen der islamistischen Miliz Al Shabaab aus. Diese richten sich vielfach gegen militärische und politische Ziele, auch wenn die Al Shabaab mit ihren Anschlägen teilweise gezielt die Zivilbevölkerung ins Visier nimmt, um Chaos zu stiften und das Vertrauen in die Stabilität der Regierung zu unterminieren. Die dokumentierten und im Einzelnen aufgeführten Anschläge hat das Verwaltungsgericht tatrichterlich dahingehend gewürdigt, dass sie bislang nicht eine solche Quantität und Qualität erreichten, dass von einer Gefährdung der gesamten Zivilbevölkerung in Mogadischu auszugehen sei. Dabei hat es berücksichtigt, dass Mogadischu aktuell nicht zu den besonders vom Konflikt betroffenen Regionen Somalias gehört und in den Berichten zumindest von Verbesserungen der Sicherheitslage die Rede ist, auch wenn diese weiterhin als schlecht zu bewerten ist. Auf der Grundlage dieser das Bundesverwaltungsgericht bindenden tatrichterlichen Feststellungen ist die im Wege einer Gesamtwürdigung gezogene Schlussfolgerung, dass in der Region Mogadischu nicht jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das Bundesverwaltungsgericht kann entscheiden, ohne dass es zuvor einer weiteren Klärung durch den EuGH bedarf.
Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen einer auf schlechte Lebensverhältnisse im Herkunftsstaat zurückzuführenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ergeben sich aus der zitierten Rechtsprechung des EuGH, ohne dass der vorliegende Fall Anlass für eine weitere Klärung durch den EuGH gibt. Soweit in der Rechtsprechung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs für die Zuerkennung subsidiären Schutzes die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK ausreicht, ohne dass es einer Verursachung durch einen Akteur i.S.d. Art. 6 RL 2011/95/EU bedarf, weist der Verwaltungsgerichtshof selbst daraufhin, dass dies lediglich Folge einer – unionsrechtswidrig – günstigeren Regelung im nationalen österreichischen Recht ist29. Diese Rechtsprechung lässt sich nicht auf die deutsche Rechtslage übertragen, da der deutsche Gesetzgeber mit dem Verweis in § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf § 3c AsylG die Anwendung des Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU (auch) für den subsidiären Schutz unionsrechtskonform umgesetzt und mit § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG auch jenseits des unionsrechtlichen subsidiären Schutzes Vorsorge dagegen getroffen hat, Menschen der realen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK auszusetzen.
Ob es für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bei der Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos einer quantitativen Mindestschwelle bedarf30 folgt jedenfalls nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und ist im vorliegenden Verfahren schon deshalb nicht entscheidungserheblich, weil das Verwaltungsgericht unabhängig davon eine hinreichende Gefahrendichte auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung verneint hat. Auch diese wirft ihrerseits keine zweifelhaften unionsrechtlichen Maßstabsfragen auf.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.02.2019 – 1 B 2.19, Rn. 13[↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 – 10 C 4.09, BVerwGE 136, 360 Rn. 33; vom 17.11.2011 – 10 C 13.10, Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u Asylrecht Nr. 58 Rn. 22 f.; und vom 13.02.2014 – 10 C 6.13, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 14 Rn. 24, jeweils zu der wortgleichen Vorgängernorm des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.; BVerwG, Beschluss vom 08.03.2018 – 1 B 7.18, Rn. 3[↩][↩]
- ABl. L 337 S. 9[↩]
- BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12 Rn. 36[↩]
- EGMR, Urteile vom 28.06.2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi, Rn. 278; und vom 29.01.2013 – Nr. 60367/10, S.H.H., Rn. 74[↩]
- EGMR, Urteile vom 27.05.2008 – Nr. 26565/05, N., NVwZ 2008, 1334 Rn. 42; und vom 28.06.2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi, Rn. 278; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12 Rn. 23, 25, und Beschluss vom 13.02.2019 – 1 B 2.19, Rn. 6[↩]
- zur Einschätzung der Gefahrenlage durch den EGMR vgl. BVerwG, Urteil vom 05.09.2013 – Nr. 886/11, K.A.B., Rn. 91, wonach anders als noch im Juni 2011 jedenfalls in Mogadischu keine Gewalt in einem Ausmaß mehr herrscht, dass jedem Rückkehrer allein deswegen eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht[↩]
- BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12 Rn. 29 und Beschluss vom 13.02.2019 – 1 B 2.19, Rn. 6[↩]
- EuGH, Urteil vom 18.12.2014 – C-542/13, ECLI:EU:C:2014:2452] M’Bodj – Rn. 35, 41[↩]
- Erwägungsgrund 26 der Richtlinie 2004/83/EG; inzwischen: Erwägungsgrund 35 der Richtlinie 2011/95/EU[↩]
- vgl. Erwägungsgrund 5, 6, 9 und 24 der Richtlinie 2004/83/EG; inzwischen: Erwägungsgrund 6, 12, 15 und 33 der Richtlinie 2011/95/EU[↩]
- EuGH, Urteil vom 18.12.2014 – C-542/13, M‘Bodj, Rn. 41[↩]
- EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts B. vom 24.10.2017 – C-353/16, M.P., Rn. 30 ff.[↩]
- BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 – 10 C 52.07, BVerwGE 133, 55 Rn. 24[↩]
- BVerwG, Beschluss vom 13.02.2019 – 1 B 2.19, Rn. 13; s.a. Broscheit/Gormik, ZAR 2018, 302 <305 f., 307>[↩]
- EuGH, Urteil vom 18.12.2014 – C-542/13, M‘Bodj, Rn. 40[↩]
- s.a. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 – A 11 S 1704/17, Rn. 80[↩]
- VG Wiesbaden, Urteil vom 14.03.2019 – VG 7 K 1139/17.WI.A[↩]
- BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9.08, BVerwGE 134, 188 Rn. 17 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07 [ECLI:EU:C:2009:94], Elgafaji, NVwZ 2009, 705 Rn. 40[↩]
- EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07, Elgafaji, Rn. 35[↩]
- EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07, Elgafaji, Rn. 36 ff.[↩]
- EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07, Elgafaji, Rn. 39[↩]
- BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4.09, BVerwGE 136, 360 Rn. 33[↩][↩]
- BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9.08, BVerwGE 134, 188 Rn. 15 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07, Elgafaji[↩]
- vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 – 1 C 15.05, BVerwGE 126, 243 Rn.20 ff.[↩]
- vgl. etwa Dietz, NVwZ-Extra 24/2014[↩]
- vgl. Berlit, ZAR 2017, 110[↩]
- VGH Baden-Württemberg, Vorlagebeschluss vom 29.11.2019 – A 11 S 2374/19 u.a., mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung anderer Mitgliedstaaten[↩]
- Österreich. VwGH, Erkenntnis vom 21.05.2019 – Ro 2019/19/0006 – NLMR 2019, 353[↩]
- vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Vorlagebeschluss vom 29.11.2019 – A 11 S 2374/19 u.a., mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung anderer Mitgliedstaaten[↩]
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