Übersichtsaufnahmen einer Versammlung durch die Polizei

Die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen durch die Polizei (nach § 1 Abs. 3 des Berliner Versammlungsgesetzes) verstößt nicht gegen Grundrechte der Verfassung von Berlin. Dabei stellen die Übersichtsaufnahmen keine stets zulässige Maßnahme dar, sondern erfordern zumindest eine abstrakte Gefahrenprognose.

Übersichtsaufnahmen einer Versammlung durch die Polizei

Mit dieser Begründung hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin in dem hier vorliegenden Fall die Anträge von 62 Abgeordneten der Oppositionsfraktionen im Abgeordnetenhaus gegen die Änderung des Versammlungsrechts in Berlin mit 8:1 Stimmen zurückgewiesen. In dem Normenkontrollverfahren hatten die Antragsteller geltend gemacht, das Gesetz über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel vom 23. April 2013 (Berliner Versammlungsgesetz) sei insgesamt nichtig. Dem Land Berlin fehle bereits die Gesetzgebungskompetenz. Außerdem sei die nach dem Gesetz (§ 1 Abs. 3) zulässige Anfertigung von sogenannten Übersichtsaufnahmen durch die Polizei unbestimmt und unverhältnismäßig. Diese Regelung verstoße gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 26 Verfassung von Berlin (VvB). Nicht Gegenstand des Verfahrens waren die aus dem Bundesrecht übernommenen Regelungen zu individualisierten Aufnahmen und Aufzeichnungen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (nach § 1 Abs. 1 und 2 des Gesetzes).

Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin musste das Abgeordnetenhaus von Berlin das nach der Föderalismusreform 2006 noch fortgeltende Versammlungsgesetz des Bundes nicht insgesamt ersetzen. Es war vielmehr (nach Art. 125 a Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz) zulässig, auch nur einen abgrenzbaren Teilbereich des seither in die Kompetenz der Länder übergegangenen Versammlungsrechts – nämlich Aufnahmen und Aufzeichnungen in Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel – durch Landesgesetz neu zu regeln.

Weiterlesen:
Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde

Auch verstößt die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen durch die Polizei (nach § 1 Abs. 3 des Gesetzes) nicht gegen Grundrechte der Verfassung von Berlin. Solche Aufnahmen greifen zwar in die Versammlungsfreiheit ein und können dazu führen, dass sich Einzelne davon abhalten lassen, an Demonstrationen teilzunehmen. Dieser „Einschüchterungseffekt“ beeinträchtigt auch das Gemeinwohl. Denn die kollektive öffentliche Meinungskundgabe in Versammlungen ist eine elementare Funktionsbedingung des demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaats.

Die Ermächtigung zu Übersichtsaufnahmen ist aber hinreichend bestimmt und bei einer Gesamtabwägung auch verhältnismäßig. Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist dadurch wesentlich gemildert, dass Übersichtsaufnahmen offen und für jedermann wahrnehmbar erfolgen müssen und nicht aufgezeichnet werden dürfen. Zur Gewährleistung der Offenheit schreibt das Gesetz die unverzügliche Unterrichtung der Versammlungsleitung vor. Zur Wahrnehmbarkeit trägt ferner die bisherige Praxis der Berliner Polizei, für die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen eigenes Personal und eine eigene Technik einzusetzen, maßgeblich bei. Außerdem stellen regelmäßige Schulungen der eingesetzten Beamten eine wesentliche Organisationsmaßnahme dar. Die kontinuierliche Überprüfung und Weiterentwicklung aller organisatorischen Maßnahmen und technischen Möglichkeiten zur grundrechtsschonenden Anwendung der gesetzlichen Ermächtigung ist in erster Linie Aufgabe der vollziehenden Gewalt, die dabei der Kontrolle durch die Fachgerichte unterliegt. Im Übrigen trifft den Gesetzgeber in Bezug hierauf und in Bezug auf das ganze Gesetz eine Beobachtungs- und Überprüfungsobliegenheit sowie ggf. eine Nachbesserungspflicht.

Weiterlesen:
Rechtsverletzung der Anwohner durch Hochwasserleitwand

Übersichtsaufnahmen sind schließlich nur zulässig, wenn sie wegen der Größe oder der Unübersichtlichkeit der Versammlung im konkreten Einzelfall zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes erforderlich sind. Hierzu hat der Verfassungsgerichtshof besonders darauf hingewiesen, dass Übersichtsaufnahmen keine stets zulässige Maßnahme darstellen, sondern zumindest eine abstrakte Gefahrenprognose erfordern. Daraus müssen sich Anhaltspunkte für ihre Notwendigkeit ergeben. Andere gleich geeignete mildere Mittel als die Anfertigung offener Übersichtsaufnahmen ohne Aufzeichnung sind nicht erkennbar. Insoweit ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die mündliche Übermittlung von Lagebildern durch Beamte vor Ort für weniger geeignet gehalten hat.

Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Urteil vom 11. April 2014 – VerfGH 129/13