Überspannte Anforderungen an die Berufungszulassung

Art.19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt1. Die Vorschrift erfordert zwar keinen Instanzenzug2. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art.19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle3.

Überspannte Anforderungen an die Berufungszulassung

Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen4.

Sehen die prozessrechtlichen Vorschriften – wie §§ 124, 124a VwGO – die Möglichkeit vor, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, so verbietet Art.19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnormen, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert4.

An die Darlegung eines Zulassungsgrundes dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Insbesondere ist der in § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO enthaltene Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils immer schon dann erfüllt, wenn der Beschwerdeführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hat5.

Nach diesen Maßstäben hätten gewichtige Gründe für die Zulassung der Berufung gesprochen.

Ein Ausländer darf nach § 53 AufenthG nur unter der Voraussetzung ausgewiesen werden, dass sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Das Verwaltungsgericht ist im Urteil vom 13.11.2018 von einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Beschwerdeführer ausgegangen. Dabei hat es maßgeblich darauf abgestellt, dass der Beschwerdeführer, dessen Straftaten auf einer Suchterkrankung beruhten, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder die Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen noch sich außerhalb des Strafvollzugs bewährt hatte. Allerdings haben sich hinsichtlich der vorgenannten, für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblichen Umstände nach Erlass des Urteils vom 13.11.2018 und vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Änderungen ergeben: Der Beschwerdeführer hat am 19.12 2018 die stationäre Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und befindet sich seither auf freiem Fuß. Dies hat er in der Begründung des Berufungszulassungsantrags auch geltend gemacht. Außerdem hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 04.03.2019 die Vollstreckung des Strafrestes gemäß § 36 Abs. 1 BtMG unter Verweis auf die günstige Zukunftsprognose zur Bewährung ausgesetzt, worauf der Beschwerdeführer ebenfalls hingewiesen hat.

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Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts6 die vorgenannten neuen Umstände in seine Prognose- und Abwägungsentscheidung einbezogen. Da die neuen Umstände geeignet waren, wesentliche Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, hätte er allerdings, anstatt die eigene, auf der Basis der neuen tatsächlichen Umstände zu treffende Prognose- und Abwägungsentscheidung in das Berufungszulassungsverfahren vorzuverlagern, die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zulassen und eine breitere Tatsachengrundlage für die Entscheidung über die Ausweisung7 schaffen müssen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Mai 2019 – 2 BvR 657/19

  1. vgl. BVerfGE 8, 274, 326; 67, 43, 58; 96, 27, 39; stRspr[]
  2. vgl. BVerfGE 49, 329, 343; 83, 24, 31; 87, 48, 61; 92, 365, 410; 96, 27, 39; stRspr[]
  3. vgl. BVerfGE 40, 272, 274 f.; 54, 94, 96 f.; 65, 76, 90; 96, 27, 39; stRspr[]
  4. vgl. BVerfGE 78, 88, 98 f.; 96, 27, 39; 104, 220, 231 f.[][]
  5. vgl. BVerfGE 110, 77, 83; BVerfG, Beschluss vom 23.06.2000 – 1 BvR 830/00 15; Beschluss vom 20.12 2010 – 1 BvR 2011/10 17[]
  6. vgl. BVerwG, Urteil vom 13.01.2009 – 1 C 2.08 22[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 21 ff.[]

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