Mit der Frage der Zulässigkeit einer konkreten Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht bei einem Gesetz, das Recht der Europäischen Union umsetzt, hatten sich jetzt die Karlsruher Verfassungsrichter anhand einer Bestimmung des Investitionszulagegesetzes zu befassen. Und betonte in solchen Fällen den Vorrang eines Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union vor einer Richtervorlage zum Bundesverfassungsgericht:

Die Vorlage eines Gesetzes, das Recht der Europäischen Union umsetzt, nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG an das Bundesverfassungsgericht ist unzulässig, wenn das vorlegende Gericht nicht geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden Gestaltungsspielraums ergangen ist.
Das vorlegende Gericht muss hierfür gegebenenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren zum Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 1 AEUV einleiten, unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist.
Der Ausgangsfall[↑]
Hintergrund der Entscheidung war ein Streit aus dem Investitionszulagenrecht: Das Investitionszulagengesetz (InvZulG) regelt die Zahlung einer staatlichen Subvention (Investitionszulage) für bestimmte betriebliche Investitionen in Berlin und den neuen Bundesländern. Im Mai 1998 entschied die Europäische Kommission, dass nationale Beihilferegelungen mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar seien, die dem von der Kommission zuvor bestimmten Gemeinschaftsrahmen und den zugleich festgelegten zweckdienlichen Maßnahmen zur Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse zuwiderliefen. Danach sind bestimmte Investitionen in landwirtschaftliche Betriebe, unter anderem in Müllereibetriebe, von der Förderung ausgeschlossen. Deutschland wurde in der am 2. Juli 1998 zugestellten Entscheidung aufgegeben, seine Beihilferegelungen binnen zwei Monaten entsprechend zu ändern oder aufzuheben. Die Vorgabe wurde durch die am 24. Dezember 1998 in Kraft getretene Neuregelung in § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG umgesetzt. Nicht begünstigt waren danach bestimmte Wirtschaftsgüter im Bereich der Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die nach dem 2. September 1998 angeschafft oder hergestellt worden waren. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens unterhält einen Mühlenbetrieb in den neuen Bundesländern. Auf der Grundlage der Neuregelung versagte ihr das Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage für Investitionen in Höhe von 3,9 Millionen DM mit der Begründung, diese seien erst nach dem 2. September 1998 durchgeführt worden. Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage macht die Klägerin im Wesentlichen einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot geltend. Die betreffenden Investitionsentscheidungen seien bereits vor dem 3. September 1998 und damit auch vor Verkündung der Neuregelung getroffen worden.
Die Richtervorlage[↑]
Das Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt1 hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob die Regelung in § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG insoweit mit dem rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot vereinbar ist, als sie auch Investitionen umfasse, bezüglich derer der Investor eine bindende Investitionsentscheidung schon vor dem 28. September 1998 – dem Tag der Veröffentlichung des Schreibens, mit dem die Bundesregierung die Änderung des Investitionszulagengesetzes angekündigt hatte – getroffen hat. Ein Investor genieße von dem Zeitpunkt seiner bindenden Dispositionsentscheidung an Vertrauensschutz gegenüber Gesetzen, die die steuerliche Förderung der Investition nachträglich einschränkten oder aufhöben; dieses schutzwürdige Vertrauen sei erst mit der Veröffentlichung des Schreibens der Bundesregierung entfallen. Die mit der Neuregelung verbundene Rückwirkung sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und auch nach der Entscheidung der Kommission nicht geboten. Danach bestehe eine Verpflichtung nur mit Wirkung für die Zukunft, nicht aber zur Versagung von Beihilfen für Investitionen, die in Gestalt bindender Investitionsentscheidungen bereits begonnen worden seien. Da der Rechtsverstoß im nationalen Recht begründet sei, komme eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nicht in Betracht.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschied, dass die Vorlage unzulässig ist, weil das vorlegende Finanzgericht nicht ausreichend geklärt hat, ob die von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetzesvorschrift auf einer den deutschen Gesetzgeber bindenden Vorgabe des europäischen Gemeinschaftsrechts beruht oder ihm ein Gestaltungsspielraums verblieben ist. Damit ist die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage nicht hinreichend dargelegt.
Hintergrund: Die „Solange“-Rechtsprechung[↑]
Ein Gesetz, das Unionsrecht umsetzt, kann nur dann dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über seine Verfassungsmäßigkeit vorgelegt werden, wenn es der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt. Solange die Europäische Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten ist, übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von Unionsrecht in Deutschland , das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden in Anspruch genommen wird, jedoch nicht mehr aus und überprüft dieses Recht mithin nicht am Maßstab der Grundrechte. Auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie oder einen Beschluss in deutsches Recht umsetzt, wird nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, wenn das Unionsrecht dem deutschen Gesetzgeber keinen Umsetzungsspielraum belässt, sondern zwingende Vorgaben macht. In diesem Fall ist die Vorlage eines Unionsrecht umsetzenden Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht unzulässig, weil die Frage seiner Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht entscheidungserheblich ist.
Ein Gericht hat daher vor einer Vorlage des Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht zu klären, ob dem deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung des Unionsrechts ein Spielraum verblieben ist. Hierfür muss es, wenn Unklarheit über die Bedeutung des Unionsrechts besteht, ein Vorabentscheidungsverfahren zum Europäischen Gerichtshof einleiten, unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist. Zwar besteht nach Unionsrecht eine Pflicht zur Vorlage zum Europäischen Gerichtshof ausschließlich für letztinstanzliche Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des nationalen Rechts angefochten werden können. Wenn jedoch unklar ist, ob und inwieweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt, sind auch Instanzgerichte vor einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Europäischen Gerichtshof verpflichtet. Denn hier geht es um die Bestimmung der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts und damit um eine für die Zulässigkeit der Normenkontrolle zwingend zu klärende Vorfrage.
Des Weiteren hat das vorlegende Gericht sich in seiner Vorlagebegründung mit der Frage eines dem nationalen Gesetzgeber belassenen Umsetzungsspielraums auseinanderzusetzen und hinreichend deutlich die Gründe für die Entscheidungserheblichkeit seiner Vorlage darzulegen.
Vorabentscheidung durch den EuGH und die Frage eines Umsetzungsspielraums[↑]
Legt ein Gericht dem Bundesverfassungsgericht eine Norm vor, die in Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Union ergangen ist, ist diese Vorlage wegen der vom Bundesverfassungsgericht in solchen Fällen praktizierten Zurücknahme der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit entscheidungserheblich, wenn das Gesetz in Ausfüllung eines nationalen Umsetzungsspielraums ergangen ist. Ob das Unionsrecht im jeweiligen Streitfall einen derartigen Umsetzungsspielraum lässt, hat das Fachgericht zu klären und sich mit den dabei auftretenden Fragen hinreichend substantiiert auseinanderzusetzen.
Ein Gesetz, das Unionsrecht umsetzt, kann nur dann dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Entscheidung über seine Verfassungsmäßigkeit vorgelegt werden, wenn es der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt. Solange und soweit das Bundesverfassungsgericht seine Prüfung von Unionsrecht und von zwingendes Unionsrecht umsetzendem nationalem Recht am Maßstab des Grundgesetzes zurücknimmt, ist die Frage der Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz nicht entscheidungserheblich, da sie weder vom Bundesverfassungsgericht noch vom Vorlagegericht zu beantworten ist. Die Vorlage eines Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht ist in einem solchen Fall unzulässig. Das Fachgericht hat daher vor einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zu klären, ob das Unionsrecht dem nationalen Gesetzgeber einen die verfassungsgerichtliche Prüfung ermöglichenden Spielraum belässt.
Über die Anwendbarkeit von Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden in Anspruch genommen wird, übt das Bundesverfassungsgericht – jenseits des hier nicht in Rede stehenden Ultravires- und Verfassungsidentitätsvorbehalts2 – seine Gerichtsbarkeit nicht mehr aus und überprüft dieses Recht mithin nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange die Europäische Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt3. Dies gilt auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG nicht nur für Verordnungen, sondern auch für Richtlinien nach Art. 288 Abs. 3 AEUV und an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Beschlüsse der Kommission nach Art. 288 Abs. 4 AEUV4. Auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie oder einen Beschluss in deutsches Recht umsetzt, wird insoweit nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, als das Unionsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern zwingende Vorgaben macht5.
Vorabentscheidungsersuchen vor Richtervorlage[↑]
Stellt sich einem Fachgericht die Frage der Vereinbarkeit eines für sein Verfahren entscheidungserheblichen, aus dem Unionsrecht abgeleiteten Gesetzes mit den Grundrechten, ist es daher zunächst seine Aufgabe – gegebenenfalls durch eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union6 nach Art. 267 Abs. 1 AEUV – zu klären, ob das Unionsrecht dem deutschen Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum belässt. Erst wenn dies feststeht, kann das den Umsetzungsspielraum ausfüllende Gesetz der Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen und damit eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht in Betracht kommen.
Die Pflicht des vorlegenden Gerichts zur Klärung der Verbindlichkeit der unionsrechtlichen Vorgaben für den deutschen Gesetzgeber folgt aus dem Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit. Eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist nur zulässig, wenn sie für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens entscheidungserheblich ist. Insofern muss zum einen das vorgelegte Gesetz für das von dem vorlegenden Gericht zu entscheidende Verfahren entscheidungserheblich sein. Da das Bundesverfassungsgericht nur mit für das Ausgangsverfahren Entscheidungserheblichem befasst werden soll, setzt die Vorlage eines vom Gericht als verfassungswidrig beurteilten Gesetzes zum anderen voraus, dass das Bundesverfassungsgericht über die aufgeworfene Verfassungsrechtsfrage entscheiden kann. Letzteres ist nicht der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht sich mit Rücksicht auf der Europäischen Union übertragene Hoheitsrechte einer Prüfung des deutschen Umsetzungsrechts am Maßstab des Grundgesetzes enthält. Dann vermag die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nichts zur Lösung des Ausgangsfalls beizutragen; das Ergebnis einer solchen Vorlage ist nicht entscheidungserheblich.
Im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht ist es vorrangig Aufgabe der Fachgerichte, die Frage eines unionsrechtlichen Umsetzungsspielraums für den nationalen Gesetzgeber zu klären, gegebenenfalls durch Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 1 AEUV.
Besteht Unklarheit über die Bedeutung von Unionsrecht, kommt eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 1 AEUV in Betracht, anlässlich derer der Europäische Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren über die Gültigkeit und die Auslegung von Unionsrecht, aber auch über die Handlung eines Unionsorgans, wie etwa über die Frage der Bindung eines Mitgliedstaats an einen Beschluss der Kommission nach Art. 288 Abs. 4 AEUV, befinden kann.
Eine Pflicht zur Vorlage zum Europäischen Gerichtshof besteht nach Unionsrecht ausschließlich für letztinstanzliche Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des nationalen Rechts angefochten werden können (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Auch letztinstanzliche Gerichte eines Mitgliedstaates sind nicht zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens verpflichtet, wenn die betreffende unionsrechtliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof war oder die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt. Ein letztinstanzliches nationales Gericht darf einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage nur verneinen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Europäischen Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf das letztinstanzliche innerstaatliche Gericht davon absehen, diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen und sie stattdessen in eigener Verantwortung beantworten (acte-clair-Doktrin7).
Auch Instanzgerichte sind allerdings zu einer Klärung unionsrechtlicher Fragen durch eine Vorabentscheidung beim Europäischen Gerichtshof verpflichtet, wenn unklar ist, ob und inwieweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt, sofern Anlass zur Vorlage des nationalen Umsetzungsrechts wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG besteht.
Dass Art. 267 Abs. 2 AEUV den nicht letztinstanzlichen nationalen Gerichten aus unionsrechtlicher Sicht insofern einen größeren Entscheidungsspielraum einräumt, widerspricht dem nicht, weil die hier in Rede stehende Vorlagepflicht ihre Grundlage im Vorbehalt der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG8 und damit im nationalen Verfassungsprozessrecht findet.
Diese Pflicht der Instanzgerichte zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV korrespondiert mit der im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht vorrangig den Fachgerichten zukommenden Kompetenz und Aufgabe, das einfache innerstaatliche Recht auszulegen9 und gegebenenfalls die Auswirkungen des Unionsrechts auf eine einfachrechtliche innerstaatliche Rechtsvorschrift zu beurteilen. Es liegt dabei in der Kompetenz der nationalen Fachgerichte, das Unionsrecht auszulegen, soweit es für ihre Entscheidung darauf ankommt. Ebenso wie die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts in erster Linie den Fachgerichten obliegt, sind sie auch zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufen10. In diesem Rahmen haben sie auch die Verbindlichkeit unionsrechtlicher Vorgaben für den nationalen Gesetzgeber zu klären und erforderlichenfalls den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Die Beurteilung der Auswirkungen der vom Europäischen Gerichtshof geklärten unionsrechtlichen Fragen auf das nationale Recht ist sodann wiederum in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte und nicht des Bundesverfassungsgerichts. Es entspräche hingegen nicht der im Grundgesetz angelegten Kompetenzverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten, wenn sie im Verhältnis zum Unionsrecht ungeklärtes nationales Umsetzungsrecht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen dürften und so das Bundesverfassungsgericht seinerseits zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV veranlassen könnten, sofern es nur auf diese Weise seinen verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfang bestimmen könnte.
Die Pflicht der Fachgerichte, vor einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht Inhalt und Verbindlichkeit des Unionsrechts, gegebenenfalls durch Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 1 AEUV zu klären, steht nicht in Widerspruch zu der vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Möglichkeit der Fachgerichte, zwischen Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG und Vorlage zum Europäischen Gerichtshof zu wählen, da dies andere Fallkonstellationen betrifft.
Steht in Streit, ob eine im Ausgangsverfahren entscheidungserhebliche Rechtsvorschrift mit Unionsrecht und Verfassungsrecht vereinbar ist, gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts grundsätzlich keine feste Rangfolge unter den vom Fachgericht gegebenenfalls einzuleitenden Zwischenverfahren nach Art. 267 Abs. 2 oder 3 AEUV und der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG. Ein Gericht, das sowohl unionsrechtliche als auch verfassungsrechtliche Zweifel hat, darf daher nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden, welches Zwischenverfahren es zunächst einleitet11. Im Unterschied dazu geht es bei der hier in Frage stehenden Bindung des nationalen Gesetzgebers an vorrangiges Unionsrecht um die Bestimmung der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts und damit um eine für die Zulässigkeit der Normenkontrolle zwingend zu klärende Vorfrage.
Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist12. Dies folgt aus der in erster Linie den Fachgerichten vorbehaltenen Aufgabe zur Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts wie auch des Unionsrechts.
Für die Frage nach der Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage, die Unionsrecht umsetzendes nationales Recht zum Gegenstand hat, ist eine so weitgehende Zurücknahme der Kontrolle der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts jedoch nicht gerechtfertigt. Denn mit der Entscheidung über die Reichweite der unionsrechtlichen Bindung des nationalen Gesetzgebers wird zugleich über die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes befunden. Die Bestimmung der Voraussetzungen für die Ausübung der eigenen Gerichtsbarkeit und damit die Beantwortung der Frage, ob es das nationale Recht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes misst oder darauf verzichtet, muss im Verhältnis zum vorlegenden Gericht in der Hand des Bundesverfassungsgerichts verbleiben. Die Entscheidung eines Fachgerichts darüber, ob und inwieweit Unionsrecht im Sinne eines acteclair dem Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum belässt, ist daher nicht nur einer Offensichtlichkeitskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen. Diesem steht insoweit vielmehr ein weitergehendes Überprüfungsrecht zu13. Andernfalls hätte es das Fachgericht in der Hand, auch mit einer nicht überzeugend begründeten Annahme eines dem nationalen Gesetzgeber verbleibenden Umsetzungsspielraums eine inhaltliche Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht zu veranlassen, sofern sie sich nur nicht als offensichtlich unhaltbar erweist.
Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht das Unterlassen einer Vorlage zum Europäischen Gerichtshof durch ein letztinstanzliches Gericht im Rahmen einer auf einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerde lediglich auf eine unhaltbare Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV kontrolliert14. Denn in jenen Fällen geht es nicht um die Entscheidung über die Ausübung der verfassungsgerichtlichen Prüfung bei einer Normenkontrolle, sondern um die auch sonst nur in weiten Grenzen überprüfte Handhabung des Prozessrechts durch die Gerichte im Hinblick auf die Wahrung des gesetzlichen Richters.
Mit der Pflicht des Gerichts, vor der Vorlage eines Unionsrecht umsetzenden Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht die Verbindlichkeit der unionsrechtlichen Vorgaben zu klären, korrespondiert eine entsprechende Darlegungspflicht im Rahmen der Vorlage.
Gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Vorlage abhängt und dass das Gericht die gebotene Prüfung der Entscheidungserheblichkeit vorgenommen hat. Nach ständiger Rechtsprechung muss dem Beschluss mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, dass und aus welchen Gründen das Gericht bei der Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Fall ihrer Ungültigkeit15. Das vorlegende Gericht muss im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar und umfassend darlegen16. Dabei muss das Gericht auf naheliegende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte eingehen. Insbesondere kann es erforderlich sein, die Gründe zu erörtern, die im Gesetzgebungsverfahren als für die gesetzgeberische Entscheidung maßgebend genannt worden sind17.
Diese Maßstäbe gelten entsprechend für die Pflicht des Gerichts, seine – womöglich ohne Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens gewonnene – Annahme darzulegen, dass das einschlägige Unionsrecht dem nationalen Gesetzgeber in der in Streit stehenden Frage einen Umsetzungsspielraum belässt. Auch diesbezüglich hat es mit hinreichender Deutlichkeit die Gründe dafür aufzuzeigen, dass die Vorlage des Gesetzes entscheidungserheblich ist.
Im konkreten Fall…[↑]
Diesen Anforderungen genügt die Vorlage des Finanzgerichts nicht. Es hat sich schon nicht mit der Möglichkeit einer eingeschränkten verfassungsrechtlichen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht befasst. Zudem fehlt es an hinreichenden Ausführungen zum Umfang der Bindungswirkung der Kommissionsentscheidung. Die Feststellung, die Kommission habe nur eine Regelung für die Zukunft getroffen, zwingt nicht zu dem Schluss, dass nach Ablauf der zweimonatigen Umsetzungsfrist eine Gewährung von Investitionszulagen zulässig bleiben sollte, wenn eine bindende Investitionsentscheidung bereits vor Fristablauf getroffen worden war. Nach ihrem Wortlaut gab die Entscheidung der Kommission vielmehr vor, dass nach Fristablauf keine Investitionszulage mehr gewährt werden durfte, und zwar unabhängig davon, ob ein Investor bereits eine bindende Investitionsentscheidung getroffen hatte oder nicht. In Anbetracht dessen hat das Finanzgericht die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage schon nicht ausreichend dargetan.
Zudem hätte es die hier maßgebliche Auslegungsfrage für das Vorliegen eines nationalen Umsetzungsspielraums dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen müssen, weil diese sich nicht zweifelsfrei im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts beantworten lässt.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. Oktober 2011 – 1 BvL 3/08
- FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.12.2007 – 1 K 290/01[↩]
- vgl. dazu BVerfGE 123, 267, 353 f.; 126, 286, 302 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 73, 339, 387; 102, 147, 162 ff.; 118, 79, 95[↩]
- früher: Entscheidungen der Kommission nach Art. 249 Abs. 4 EGV[↩]
- vgl. BVerfGE 118, 79, 95 f.; 125, 260, 306 f.[↩]
- im Folgenden: Europäischer Gerichtshof[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982, Rs. C283/81, C.I.L.F.I.T., Slg.1982, S. 3415; BVerfGE 82, 159, 193[↩]
- s.o. aa[↩]
- vgl. BVerfGE 79, 1, 24; 86, 382, 386 f.; 113, 88, 103[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09, Rn. 89; ferner BVerfGE 126, 286, 316[↩]
- vgl. BVerfGE 116, 202, 214[↩]
- vgl. BVerfGE 2, 181, 190 f., 193; 88, 187, 194; 105, 61, 67[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09, juris, Rn. 90[↩]
- vgl. zuletzt BVerfGE 126, 286, 315 ff.; BVerfG, Beschlüsse des Ersten Senats vom 25.01.2011 – 1 BvR 1741/09, NJW 2011, S. 1427, 1431 [Tz. 104 f.] und vom 19.07.2011 – 1 BvR 1916/09, juris, Rn. 98[↩]
- vgl. BVerfGE 86, 71, 77; 88, 187, 194; 105, 48, 56; 105, 61, 67[↩]
- vgl. BVerfGE 86, 71, 77 f.; 88, 70, 74; 88, 187, 194; BVerfGK 14, 429, 432[↩]
- vgl. BVerfGE 86, 71, 77 f.; BVerfGK 14, 429, 432[↩]