Unbegleitete afghanische Kinder und Jugendliche ohne Verwandte im Heimatland

Für die Personengruppe der unbegleiteten afghanischen Kinder und Jugendlichen, die in ihrer Heimat keine Verwandten oder Bekannten mehr haben, ist auch im Lichte von deren besonderer Schutzbedürftigkeit nach der UN-Kinderrechtskonvention weiterhin vom Bestehen einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auszugehen1. Die Abschiebeschutzregelung des § 58 Abs. 1a AufenthG kann die Annahme einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für unbegleitete Kinder und Jugendliche nicht generell ausschließen.

Unbegleitete afghanische Kinder und Jugendliche ohne Verwandte im Heimatland

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg geht davon aus, dass der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufhG als unbegleiteter Minderjähriger heute beanspruchen kann.

Insbesondere das grundsätzlich vorrangige Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG ist vom Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Berufungsverfahren nicht zu prüfen. Zwar ist ein Antrag auf Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf das Herkunftsland seit Inkrafttreten des 1. Richtlinienumsetzungsgesetzes im Asylprozess sachdienlich dahin auszulegen, dass in erster Linie die Feststellung des – unionsrechtlich begründeten (weitergehenden) – Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG und nur hilfsweise die Feststellung des – nationalen – Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 einschließlich Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung begehrt wird2. Sowohl der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG als auch der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 und 3 AufenthG bilden dabei jeweils einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand3. Dieses gerichtliche Prüfprogramm ist für die Verfahrensbeteiligten selbst in Übergangsfällen nicht disponibel4. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts war § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in seiner heutigen Fassung bereits in Kraft und der Kläger hatte insbesondere auch die Feststellung eines solchen Abschiebungsverbots beantragt. Das Verwaltungsgericht hat jedoch nach erkennbarer Sachprüfung der entsprechenden Anspruchsgrundlagen über alle unionsrechtlichen Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG entschieden und der unterlegene Kläger hat dies unangefochten gelassen. In dieser Situation scheidet der – rechtskräftig entschiedene – unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz selbst in Übergangsfällen aus dem gerichtlichen Verfahren aus4.

In dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) besteht zu Gunsten des Klägers ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung.

Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG scheidet aus. Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK5) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Über diese Norm werden die Schutzregeln der EMRK in innerstaatliches Recht inkorporiert. Sowohl aus Systematik als auch Entstehungsgeschichte folgt jedoch, dass es insoweit nur um zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz geht. Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, abgeleitet etwa aus Art. 8 EMRK, ziehen hingegen regelmäßig nur eine Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG nach sich. Bezüglich Art. 3 EMRK ist zudem die weitergehende und „unionsrechtlich aufgeladene“ Schutznorm des § 60 Abs. 2 AufenthG vorrangig, d.h. im vorliegenden Falle nicht zu prüfen6. Ob im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG auch nach Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG alle Gefährdungen grundsätzlich irrelevant sind, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen7, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Denn es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, welches Menschenrecht der EMRK im konkreten Fall des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG begründen könnte.

Nach Auffassung des Senats ergibt sich jedoch für unbegleitete Kinder und Jugendliche aus Afghanistan derzeit regelmäßig ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Hiernach kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn für ihn dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei AbschiebestoppAnordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Denn hinsichtlich des Schutzes vor allgemeinen Gefahren im Zielstaat soll Raum sein für ausländerpolitische Entscheidungen, was die Anwendbarkeit von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG insoweit grundsätzlich sperrt und zwar selbst dann, wenn diese Gefahren den einzelnen Ausländer zugleich in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen8. Aus diesem Normzweck folgt weiter, dass sich die „Allgemeinheit“ der Gefahr nicht danach bestimmt, ob diese sich auf die Bevölkerung oder bestimmte Bevölkerungsgruppen gleichartig auswirkt, wie das bei Hungersnöten, Seuchen, Bürgerkriegswirren oder Naturkatastrophen der Fall sein kann. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG kann vielmehr auch bei eher diffusen Gefährdungslagen greifen, etwa dann, wenn Gefahren für Leib und Leben aus den allgemein schlechten Lebensverhältnissen (soziale und wirtschaftliche Missstände) im Zielstaat hergeleitet werden. Denn soweit es um den Schutz vor den einer Vielzahl von Personen im Zielstaat drohenden typischen Gefahren solcher Missstände wie etwa Lebensmittelknappheit, Obdachlosigkeit oder gesundheitliche Gefährdungen geht, ist die Notwendigkeit einer politischen Leitentscheidung in gleicher Weise gegeben9. Für die Personengruppe, der der Kläger angehört, besteht eine solche politische Abschiebestopp-Anordnung gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG in Baden-Württemberg derzeit nicht10. Im konkreten Einzelfall des Klägers greift die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG unter Berücksichtigung von Verfassungsrecht jedoch nicht.

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Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG greift aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dann nicht, wenn der Ausländer im Zielstaat landesweit einer extrem zugespitzten allgemeinen Gefahr dergestalt ausgesetzt wäre, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ würde11. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassung wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint12. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau zu ermitteln13.

Im Fall einer allgemein schlechten Versorgungslage sind Besonderheiten zu berücksichtigen. Denn hieraus resultierende Gefährdungen entspringen keinem zielgerichteten Handeln, sondern treffen die Bevölkerung gleichsam schicksalhaft. Sie wirken sich nicht gleichartig und in jeder Hinsicht zwangsläufig aus und setzen sich aus einer Vielzahl verschiedener Risikofaktoren zusammen, denen der Einzelne in ganz unterschiedlicher Weise ausgesetzt ist und denen er gegebenenfalls auch ausweichen kann. Intensität, Konkretheit und zeitliche Nähe der Gefahr können deshalb auch nicht generell, sondern nur unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände beurteilt werden14. Um dem Erfordernis des unmittelbaren – zeitlichen – Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung zu entsprechen, kann hinsichtlich einer allgemein schlechten Versorgungslage eine extreme Gefahrensituation zudem nur dann angenommen werden, wenn der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann. Mit dem Begriff „alsbald“ ist dabei einerseits kein nur in unbestimmter zeitlicher Ferne liegender Termin gemeint15. Andererseits setzt die Annahme einer extremen allgemeinen Gefahrenlage nicht voraus, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat, eintreten. Eine extreme Gefahrenlage besteht auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein würde16.

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Diese Voraussetzungen sind im Falle des minderjährigen Klägers gegeben, der in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt hat, heute keinerlei Verwandte oder Bekannte mehr in Afghanistan zu haben.

In seinem Grundsatzurteil vom 6. März 201217 hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg für volljährige gesunde Männer den Leitsatz gebildet, dass für die Personengruppe der beruflich nicht besonders qualifizierten afghanischen Staatsangehörigen, die in Kabul ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte sind und dort weder über Grundbesitz noch über nennenswerte Ersparnisse verfügen, trotz der schlechten Versorgungslage bei einer Abschiebung nach Kabul regelmäßig keine extreme Gefahrensituation mehr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht.

In Übereinstimmung mit anderen Obergerichten18 hatte der Verwaltungsgerichtshof19 entschieden, dass für Ausländer aus der Personengruppe der beruflich nicht besonders qualifizierten afghanischen männlichen Staatsangehörigen, die in ihrer Heimat ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte sind und dort weder über Grundbesitz noch über nennenswerte Ersparnisse verfügen, aufgrund der katastrophalen Versorgungslage bei einer Abschiebung nach Kabul eine extreme Gefahrensituation im dargelegten Sinne bestehe. Das Bundesverwaltungsgericht hat (auch) diese Entscheidung aufgehoben20 aufgehoben. Insbesondere die Feststellungen zum Vorliegen einer extremen Gefahr im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan verletzten Bundesrecht und würden einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten, denn die Entscheidung sei insbesondere hinsichtlich der festgestellten drohenden Mangelernährung und den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt. Das Bundesverwaltungsgericht betont: „‘Hunger‘ führt nicht zwangsläufig zum Tod, ‚gesundheitliche Risiken‘ führen nicht notwendigerweise zu schwersten Gesundheitsschäden.“ Damit verfehle das Berufungsgericht den Begriff der Extremgefahr21. Bei der erneuten Befassung mit der Sache sei der Verwaltungsgerichtshof gehalten, sich auch mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte22 auseinanderzusetzen.

Es sei dahingestellt, ob ein Obergericht revisionsrechtlich dazu verpflichtet werden kann, sich mit der abweichenden Einschätzung anderer Obergerichte auseinanderzusetzen23. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof vertritt jedenfalls in dem zur besonderen Beachtung benannten Urteil die Auffassung, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen sei, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde. Zwar sei zweifellos von einer äußerst schlechten Versorgungslage in Afghanistan auszugehen. Im Wege einer Gesamtgefahrenschau sei jedoch nicht anzunehmen, dass dort alsbald der sichere Tod drohe oder schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Bei der Wirtschaftslage bzw. den ökonomischen Rahmenbedingungen würden durchaus positive Tendenzen gesehen. Es sei mit einem realen jährlichen Wirtschaftswachstum zwischen 6 und 8 % zu rechnen. Auch hätten bessere Ernten zu einer Verbesserung der Gesamtversorgungslage geführt. Zwar sei die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor schwierig. Das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer bemühe sich jedoch um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen. Wenn es heiße, dass der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei, bedeute dies andererseits, dass jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten seien. Dies ergebe sich auch aus dem Afghanistan Report 2010 von amnesty international, wonach Tausende von Vertriebenen in Behelfslagern lebten, wo sie nur begrenzten Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Bildung erhalten würden. Eine Mindestversorgung sei damit aber gegeben. Auch sei eine hinreichende zeitliche Nähe („alsbald“) zwischen Rückkehr und lebensbedrohlichem Zustand aufgrund von Mangelernährung, unzureichenden Wohnverhältnissen und schwieriger Arbeitssuche nicht ersichtlich. Insgesamt sei davon auszugehen, dass ein 25jähriger lediger und gesunder Afghane, der mangels familiärer Bindungen keine Unterhaltslasten trage, auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Falle einer Abschiebung nach Kabul dort in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren.

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Dies entspricht im Wesentlichen der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen24. Das Oberverwaltungsgericht vermochte dem Aspekt, dass positive Feststellungen zu den Modalitäten der Beschaffung des Lebensnotwendigen nicht zu treffen seien, kein entscheidendes Gewicht zu geben vor dem Umstand, dass die zahlreich vorliegenden Berichte für eine extreme Verelendung nichts hergeben würden, obwohl angesichts der hohen Rückkehrerzahlen aus den Nachbarländern und der Binnenfluchtbewegungen nicht davon ausgegangen werden könne, dass es an jeglichem Potential für Vergleichsfälle fehle25.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schließt sich der Rechtsprechung der zitierten Gerichte nunmehr an, weil auch er eine gewisse Verbesserung der allgemeinen Versorgungslage in Kabul – dem derzeit einzig möglichen Abschiebungsziel26 – erkennen kann, die nach den strengen Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen einer wertenden Gesamtschau der Annahme einer alsbald nach der Abschiebung eintretenden Extremgefahr für gesunde ledige afghanische Männer auch ohne Vermögen oder lokale Familien- bzw. Stammesstrukturen entgegenstehen.

Dem zentralen Argument des Oberverwaltungsgerichts NordrheinWestfalen, dass Fälle extremer Verelendung von Rückkehrern dokumentiert sein müssten, vermag der Verwaltungsgerichtshof keine aussagekräftigen Erkenntnisquellen entgegen zu setzen; es lässt sich nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht widerlegen. Insbesondere sind Erkenntnisquellen, die den Hungertod von Rückkehrern in Kabul dokumentieren, auch dem Verwaltungsgerichtshof nicht bekannt27. Und in der Tat sind seit 2002 vor allem mit Hilfe des UNHCR insgesamt rund vier Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt, wenn auch davon nur ca. 15.000 aus anderen Ländern als Pakistan und dem Iran28. Infolgedessen gehört Kabul heute zu den Städten mit dem weltweit stärksten Bevölkerungswachstum. Betrug die Einwohnerzahl 2001 noch rund 1,5 Millionen, wurde sie von der Stadtverwaltung im Juni 2010 auf über 5 Millionen geschätzt. Der Bevölkerungsanteil der Rückkehrer und Binnenvertriebenen wird auf 70 % geschätzt29.

Allerdings sind sämtliche Informationen, die der Verwaltungsgerichtshof über die Situation in der Stadt finden kann, durchaus ambivalent. Einerseits heißt es, 23 % der Bevölkerung lebten dort unterhalb der Armutsgrenze. Insgesamt seien die Lebenshaltungskosten in Kabul im Laufe der vergangenen Jahre um 30 bis 50 % gestiegen. Bewohner seien auch beim Erwerb zahlreicher, selbst legaler Güter des Alltags gezwungen, Bestechungsgelder zu bezahlen. Die Kriminalität und Gefahr, Opfer von Überfällen zu werden, sei hoch30. Kabul ähnle einer Stadt im permanenten Ausnahmezustand31. Nur 55,9 % der Haushalte verfügten über Zugang zu sauberem Wasser. Zahlreiche Brunnen im Stadtgebiet seien aufgrund der steigenden Inanspruchnahme ausgetrocknet bzw. erschöpft32. Bezahlbarer Strom liege für ärmere Kabuler Familien außerhalb der finanziellen Möglichkeiten. Die Arbeitslosenrate in Kabul werde auf bis zu 50 % geschätzt. Infolge des Mangels an bezahlbarem Wohnraum sähen sich zahllose Menschen gezwungen, in prekären Unterkünften wie Lehmhütten, Zelten oder alten beschädigten Gebäuden zu hausen. Die Bewohner dieser „informellen Siedlungen“ würden außerhalb des sozialen Sicherheitsnetzes leben und ihren Lebensunterhalt durch Betteln, den Verkauf von Müll und andere gering bezahlte Tätigkeiten bestreiten müssen. Über Nacht entstünden neue Armenviertel und Slums, in denen es weder Kanalisation noch Müllentsorgung und kaum sauberes Wasser, Elektrizität oder medizinische Hilfe gebe. Die Zahl derer, die auf der Flucht vor Krieg, Rechtlosigkeit, Willkürherrschaft und Armut in die Städte strömten, vergrößere sich tagtäglich. Besonders dramatisch nehme deshalb gerade in Kabul die Zahl von Obdachlosen und Drogenabhängigen zu. Ohnehin befinde sich Afghanistan auf dem Weg in einen Drogenstaat.2011 sei erneut ein Dürrejahr gewesen und vor allem im Norden, dem friedlichen Teil des Landes, herrsche Hunger. Zusammenfassend sei eine Rückkehr nach Kabul ohne schützende Familien- oder Stammesstrukturen schlicht unzumutbar33.

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Andererseits wird berichtet, gerade in Kabul existiere eine rege Bautätigkeit. In den vergangenen Jahren seien zahlreiche Immobilienprojekte in Angriff genommen worden. In Folge dessen gebe es nunmehr vor allem im Bausektor, wenn auch schlecht bezahlte Tageslohnarbeit. Viele Stadtteile Kabuls würden seit 2009 zwischenzeitlich 24 Stunden am Tag mit Strom versorgt. Seit kurzem boome in einigen Städten wie Kabul und MasariScharif der Handel. Geschäfte würden über Nacht eröffnet und man habe mittlerweile ein großes, kaum einen Wunsch offenlassendes Warenangebot. Die Lage sei nicht gut, aber sie sei besser geworden. Jedenfalls im Stadtzentrum sei auch die Armut nicht mehr so offensichtlich. Es gebe nicht mehr überall bettelnde Frauen in Burkas und keine Banden von Kindern, die sich an Klebstoff berauschten. Dafür hätten unzählige KebabStände eröffnet. Überhaupt gebe es deutlich zahlreichere Geschäfte als noch vor wenigen Jahren und sogar eine Müllabfuhr sowie ein Mindestmaß an Ordnung bzw. überhaupt wieder so etwas wie ein Stadtleben. Auch die Sicherheitslage in Kabul sei, abgesehen von einigen spektakulären Anschlägen, unverändert stabil und weiterhin deutlich ruhiger als noch vor zwei Jahren34.

Vor diesem Hintergrund kann heute – trotz der ambivalenten Erkenntnisquellen – aufgrund der hohen Hürden des Bundesverwaltungsgerichts für die Annahme einer extremen allgemeinen Gefahrenlage für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige eine solche Extremgefahr nicht mehr begründet werden. Anders als noch 2009 sieht auch der Verwaltungsgerichtshof keine hinreichenden Anhaltspunkte mehr dafür, dass bei dieser Personengruppe im Falle der Abschiebung alsbald der Tod oder schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erwarten wären. Die Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, es sei vielmehr zu erwarten, dass Rückkehrer in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten „ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren könnten“, trifft heute auch nach Überzeugung des Senats zu. Zwar dürfte aufgrund der schlechten Gesamtsituation ohne schützende Familien- oder Stammesstrukturen in der Tat eine Rückkehr nach Kabul selbst für gesunde alleinstehende Männer unter humanitären Gesichtspunkten kaum zumutbar sein. Diese Zumutbarkeit ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch kein zentraler Maßstab für die Bestimmung einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.“

Im Falle von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen, die in Afghanistan keine Verwandten oder Bekannten mehr haben, kann dies nach Auffassung des Senats jedoch regelmäßig nicht gelten. Für diese Personengruppe ist vielmehr – auch im Lichte von deren besonderer Schutzbedürftigkeit insbesondere nach Art. 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention35 – weiterhin regelmäßig vom Bestehen einer extremen Gefahrenlage auszugehen. Denn anders als bei volljährigen jungen Männern ist bei auf sich selbst gestellten Kindern und Jugendlichen regelmäßig nicht davon auszugehen, dass sie sich insbesondere in einer Großstadt wie Kabul zurechtfinden und etwa eine Tageslohnarbeit auf dem Bau finden und sich damit notdürftig ernähren können. Nach den zitierten Erkenntnisquellen ist ohne schützende Familien- oder Stammesstrukturen stattdessen davon auszugehen, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit alsbald zumindest schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen eintreten. Dies kann Kindern und Jugendlichen auch nach den Vorgaben etwa von Art. 22 der UN-Kinderrechtskonvention keinesfalls zugemutet werden.

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Vor dem Eintritt solcher Extremgefahren schützen auch nicht in Deutschland bzw. außerhalb Afghanistans lebende Familienangehörige. Zwar mag es zutreffen, dass heute Gelder aus Deutschland im Geschäftsverkehr auf afghanische Konten überwiesen werden können. Der Kläger verfügt nach seinen glaubhaften Angaben jedoch nicht über eine Bankverbindung in Afghanistan und könnte sich eine solche dort auch nicht mit hinreichender Sicherheit verschaffen.

Hinreichenden Schutz vor Extremgefahren entfaltet schließlich auch nicht die Regelung des § 58 Abs. 1a AufenthG. Anders als die Beklagte geht der Verwaltungsgerichtshof nicht davon aus, dass diese Norm eine extreme Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für unbegleitete Kinder und Jugendliche generell ausschließt; der Verwaltungsgerichtshof hält einen solchen Ansatz vielmehr nicht für vertretbar. Zwar hat sich gemäß § 58 Abs. 1a AufenthG „die Behörde vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers zu vergewissern, dass dieser im Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.“ Diese Norm, die Art. 10 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG umsetzt36 und damit nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie im Übrigen primär für illegal sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sich aufhaltende Drittstaatsangehörige gelten soll, greift jedoch – strikt einzelfallbezogen – erst auf der, auch zeitlich verschiedenen Ebene der Vollstreckung. Sie kann deshalb – und vor allem aufgrund ihrer Funktion als Schutznorm für Kinder und Jugendliche – schon dogmatisch im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht als Anspruchsausschluss gelesen werden. Ansonsten wäre die nicht plausible Situation gegeben, dass bei Vorliegen einer Extremgefahr gerade Kinder und Jugendliche wegen einer speziell sie schützenden Norm keinen Abschiebungsschutz (und entsprechenden Aufenthaltsstatus) erlangen bzw. dann erst (nur) durch Vollendung des 18. Lebensjahres im Rahmen eines Folgeantrags erhalten könnten. Zudem bestehen erhebliche praktische Bedenken und Einwände gegen den Denkansatz der Beklagten. Denn es ist heute nicht absehbar, welche Ausländerbehörde für eine in der Zukunft liegende Abschiebung des Minderjährigen eigentlich zuständig sein wird. Schon deshalb ist im heutigen Zeitpunkt der Entscheidung über das Abschiebungsverbot nicht hinreichend gesichert, dass das „Mitglied der Familie“, die „zur Personensorge berechtigte Person“ oder „eine geeignete Aufnahmeeinrichtung“ auch tatsächlich ausreichenden Schutz vor einer bestehenden Extremgefahr bieten kann. Jedenfalls solange weder die handelnde Behörde noch die Empfangsperson bzw. die aufnehmende Einrichtung im Zielstaat der Abschiebung feststeht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass allein die gesetzliche Regelung des § 58 Abs. 1a AufenthG Kinder und Jugendliche vor einer aktuell bestehenden Extremgefahr hinreichend schützt. Im vorliegenden Fall hat im Übrigen auch die Beklagte keine den Kläger, der heute in Afghanistan weder Familienmitglieder noch personensorgeberechtigte Personen hat, bei einer Abschiebung nach Kabul sicher aufnehmende „geeignete Aufnahmeeinrichtung“ benannt; für den Verwaltungsgerichtshof ist die Existenz einer solchen Aufnahmeeinrichtung etwa im kriegsversehrten Kabul nach den vorliegenden Erkenntnisquellen auch nicht ersichtlich. Mithin liegt hier allein durch die gesetzliche Regelung des § 58 Abs. 1a AufenthG kein im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts37 „gleichwertiger Schutz“ vor, wie ihn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entfaltet. Anders als etwa ein AbschiebestoppErlass sichert allein diese gesetzliche Regelung keineswegs unabhängig vom konkreten Einzelfall, dass der Eintritt einer extremen Gefahrenlage ausgeschlossen ist.

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Im Falle des Klägers sind für den Verwaltungsgerichtshof auch keine individuellen Faktoren erkennbar, die der Annahme einer extremen Gefahrenlage bei einer unbegleiteten Rückkehr nach Afghanistan heute entgegenstehen könnten.

Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, Urteil vom 27. April 2012 – A 11 S 3392/11

  1. Abgrenzung zu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.03.2012 – A 11 S 3177/11 – bezüglich der Personengruppe der afghanischen volljährigen männlichen Staatsangehörigen[]
  2. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43.07[]
  3. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13.10[]
  4. BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 – 10 C 14.10[][]
  5. BGBl 1952 II 685[]
  6. vgl. zu § 60 Abs. 5: Renner/Bergmann, AuslR, 9. Aufl.2011, § 60 AufenthG Rn. 45 ff., m.w.N.[]
  7. so noch BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 – 9 C 38.96, zur Vorgängernorm des § 53 Abs. 4 AuslG[]
  8. BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 – 9 C 9.95, BVerwGE 99, 324[]
  9. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 – 1 C 5.01, BVerwGE 115, 1[]
  10. vgl. das Schreiben des Innenministeriums Baden Württemberg vom 15.04.2005 (geändert am 01.08.2005, 21. Fortschreibung vom 23.01.2009) – 413-AFG/8, in Umsetzung entsprechender Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und senatoren der Länder bezüglich der Rückführung afghanischer Staatsangehöriger[]
  11. st. Rspr. des BVerwG, s. Urteile vom 29.09.2011 – 10 C 24.10; vom 17.10.1995 – 9 C 9.95, BVerwGE 99, 324; und vom 19.11.1996 – 1 C 6.95, BVerwGE 102, 249 zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG[]
  12. BVerwG, Urteil vom 29.09.2011 – 10 C 24.10[]
  13. BVerwG, Beschluss vom 23.03.1999 – 9 B 866.98[]
  14. VGH Bad.Württ., Urteil vom 13.11.2002 – A 6 S 967/01[]
  15. BVerwG, Urteil vom 27.04.1998 – 9 C 13.97[]
  16. BVerwG, Urteil vom 29.06.2010 – 10 C 10.09[]
  17. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.03.2012 – A 11 S 3177/11[]
  18. vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.05.2008 – 6 A 10749/07, AuAS 2008, 188; HessVGH, Urteil vom 26.11.2009 – 8 A 1862/07.A, NVwZ-RR 2010, 331[]
  19. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.05.2009 – A 11 S 610/08, DVBl 2009, 1327[]
  20. BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 – 10 C 16.10[]
  21. so in BVerwG, Urteil vom 29.09.2011 – 10 C 23.10 bzgl. einer Parallelentscheidung des Hess.VGH[]
  22. insbesondere: Bay.VGH, Urteil vom 03.02.2011 – 13a B 10.30394[]
  23. kritisch: Hess.VGH, Urteil vom 25.08.2011 – 8 A 1657/10.A[]
  24. vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26.10.2010 – 20 A 964/10.A ; Urteil vom 19.06.2008 – 20 A 4676/06.A[]
  25. BVerwG, Urteil vom 19.06.2008, aaO[]
  26. Lagebericht AA vom 10.01.2012, S. 29 f.[]
  27. ebenso: UNHCR vom 11.11.2011, 10 f.[]
  28. Gietmann, Asylmagazin 12/2011, 413, m.w.N.[]
  29. Yoshimura, Asylmagazin 12/2011, 408, m.w.N.[]
  30. Landinfo 2011, Part II, 17[]
  31. Dr. Danesch vom 07.10.2010, Logar, 3[]
  32. ai vom 29.09.2009, 2[]
  33. vgl. ai vom 20.12.2010; Asylmagazin 12/2011, 408414, m.w.N.[]
  34. vgl. Lagebericht AA vom 10.01.2012; Kermani, Die Zeit vom 05.01.2012, 11 ff; Asylmagazin 12/2011, 408414, m.w.N.[]
  35. vom 20.11.1989, BGBl.1992 II S. 122[]
  36. vgl. BT-Drs. 17/5470, S. 24[]
  37. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 – 1 C 2/01; und Beschluss vom 23.08.2006 – 1 B 60/06[]