Unterbringung in Spezialkinderheim und Jugendwerkhof – und die verweigerte Rehabilitierung

Soweit das Oberlandesgericht Dresden die Anwendung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG verneint, weil es eine rein rein fürsorgerische, nicht rechtsstaatswidrige Unterbringung im Spezialkinderheim und im Jugendwerkhof annimmt1, verletzt das Gericht hierdurch das gesetzliche Willkürverbot.

Unterbringung in Spezialkinderheim und Jugendwerkhof – und die verweigerte Rehabilitierung

In dem hier vom Bundesverfassungsgericht aufgehobenen Beschluss stützt das Oberlandesgericht Dresden diese Ansicht auf den Beschluss des Rates des Kreises – Jugendhilfeausschuss, der die weitere Heimerziehung anordnete, und auf die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers in einem späteren Urteil des Kreisgerichts. Als weitere Anhaltspunkte führt das Oberlandesgericht Dresden die zwischenzeitliche Verlegung des Beschwerdeführers in ein Normalkinderheim beziehungsweise in ein Jugendwohnheim und die in der vorliegenden Heimkarteikarte verzeichnete Arbeitsbummelei sowie das Fernbleiben des Beschwerdeführers vom Jugendwohnheim an.

Diese Anhaltspunkte sind, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, unter keinem Gesichtspunkt taugliche Gründe zur Widerlegung der Regelvermutung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG.

Die in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommende Konzeption, die mit Blick auf den Stand der (rechts-)historischen Forschung und aufgrund der beträchtlichen Beweisschwierigkeiten der Antragsteller für die Unterbringung in Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe regelmäßig sachfremde Zwecke annimmt, lässt es nicht zu, die Regelvermutung bereits dann als widerlegt anzusehen, wenn Anhaltspunkte auf die typischen Regeleinweisungsgründe hinweisen.

Die Norm geht auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurück2. Eine spezifisch für Spezialheimeinweisungen geltende Vermutungsregelung war im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung noch nicht enthalten; vielmehr war eine allgemeine Beweiserleichterung für in Heimen untergebrachte Kinder und Jugendliche wegen „Problemen im Hinblick auf die Sachverhaltsaufklärung“ vorgesehen3. Auch im weiteren Verlauf der Beratungen des Gesetzentwurfs blieb die vorgeschlagene Beweiserleichterung zunächst unspezifisch4. Im Rahmen der öffentlichen Anhörung der Sachverständigen im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 11.09.2019 wurden jedoch spezifisch die Spezialheime thematisiert sowie dort praktizierte „Menschenrechtsverletzungen“, „entwürdigende Strafen“, „Disziplinierung und Umerziehung“ sowie ein den Betroffenen dort grundsätzlich widerfahrenes „Systemunrecht“5. Im Anschluss daran empfahl der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages die Gesetz gewordene Formulierung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG. Die Gesetzesbegründung griff die Einschätzung auf, dass „im Fall der Einweisung eines Kindes oder eines Jugendlichen in ein Spezialheim, in denen ein System herrschte, das sich aus strengster Disziplinierung, entwürdigenden Strafen, genauester Kontrolle des Tagesablaufs, Abschottung von der Außenwelt und ideologischer Indoktrination zusammensetzte, und in dem das Kind oder der Jugendliche zur bedingungslosen Unterwerfung unter die staatliche Autorität gezwungen werden sollte, […] vermutet , dass die Anordnung der Unterbringung der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente.“6. Diese Vermutung sollte (erst) durch die Feststellung widerlegt werden können, „dass die Anordnung aus anderen Gründen, wie beispielsweise Fürsorgeerwägungen oder zur Vollstreckung einer Jugendstrafe, erfolgt ist“7.

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Nach den Forschungsergebnissen zur Heimerziehung in der DDR stellten pauschal umschriebene Erziehungsschwierigkeiten, ungenügende Lernbereitschaft, Schul- oder Arbeitsbummelei nach der damaligen Rechtslage und Rechtspraxis typische Begründungen für die Heimerziehung dar, die auch für die Unterbringung in Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen verwendet wurden8.

Vor diesem Hintergrund können sachfremde Zwecke der Unterbringung nicht bereits durch pauschale Verweise auf diese typischen Regeleinweisungsgründe ausgeschlossen werden. Andernfalls hätte die gesetzliche Regelvermutung keinen Anwendungsbereich9.

Die Anwendung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG lehnt das Oberlandesgericht Dresden in der angegriffenen Entscheidung in nicht mehr nachvollziehbarer und damit willkürlicher Weise ab.

Für die Unterbringung des Beschwerdeführers im Spezialkinderheim S. liegen bereits keine Unterlagen vor. Aus dem späteren, die weitere Heimunterbringung anordnenden Beschluss vom 21.11.1969 – 59/69 – ergeben sich nur pauschal Erziehungsschwierigkeiten. Sie können nach übereinstimmender Auffassung aller Oberlandesgerichte, auch des Oberlandesgerichts Dresden in seinen aktuellen Beschlüssen10, die Vermutung der sachfremden Einweisungsgründe noch nicht widerlegen. Nichts anderes gilt für das spätere Strafurteil des Kreisgerichts F. vom 23.01.1973 – S 2/73 -. Es beschreibt schlicht den Verlauf der Heimunterbringung und verweist nur pauschal auf „Schulbummelei und Straftaten“. Welche Straftaten dies gewesen seien, wird nicht konkret benannt und bleibt, zumal der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Unterbringung im Spezialheim erst 12 Jahre alt war, auch offen.

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Auch für die Unterbringung im Jugendwerkhof Sch. fehlen konkrete Anhaltspunkte, die die Vermutung der sachfremden Gründe widerlegen könnten. Der Heimunterbringungsbeschluss vom 21.11.1969 – 59/69 – enthält nur pauschale Hinweise, die eine – nicht von der Vermutungsregelung erfasste – Unterbringung in einem Normalheim rechtfertigen könnten. Der Beschwerdeführer war auf der Grundlage des Beschlusses auch zunächst – weiterhin – im Jugendwohnheim auf der – C-Straße in D. untergebracht. Für die Einweisung in den Jugendwerkhof, die erst zum Juni/Juli 1970 erfolgte, lassen sich dem Beschluss gar keine konkreten Begründungsansätze entnehmen.

Die Annahme des Oberlandesgerichts Dresden, dass aus der zwischenzeitlichen Unterbringung in einem Normalkinderheim beziehungsweise in einem Jugendwohnheim der Schluss gezogen werden könne, dass die damalige Jugendhilfe bestrebt war, (auch) erkennbaren Verbesserungen der Erziehungssituation Rechnung zu tragen, und die auf die vorliegenden Heimkarteikarten gestützte spiegelbildliche Annahme, dass „Arbeitsbummelei sowie das Fernbleiben […] vom Jugendwohnheim eine Intensität erreicht“ hätten, die die daraufhin erfolgte Unterbringung in einem Jugendwerkhof nicht als rechtsstaatswidrig erscheinen lasse, lässt sich ebenfalls nicht mit der übereinstimmenden Rechtsauffassung aller Oberlandesgerichte und des Oberlandesgerichts Dresden in seinen späteren Entscheidungen in Einklang bringen. Es fehlen bereits Anhaltspunkte dafür, dass die Intensität der „Verfehlungen“ im Jugendwohnheim als untragbar eingeschätzt wurde; erst Recht fehlen Anhaltspunkte dafür, dass als Reaktion hierauf keine andere Maßnahme als die Einweisung in einen Jugendwerkhof zur Verfügung stand11.

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Vor dem Hintergrund der festgestellten Rechtsverletzung kann dahinstehen, ob durch die angegriffene Entscheidung weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzt werden12. Darauf kommt es für den Erfolg der Verfassungsbeschwerde nicht an.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 31. Juli 2023 – 2 BvR 1014/21

  1. OLG Dresden, Beschluss vom 02.03.2021 – 1 Reha Ws 31/20[]
  2. BR-Drs. 233/19 bzw. BT-Drs.19/10817[]
  3. BR-Drs. 233/19, S. 1 bzw. BT-Drs.19/10817, S. 1, siehe dazu Art. 1 Nr. 3 Buchstabe a des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, a.a.O.[]
  4. vgl. Stellungnahme des Bundesrates BR-Drs. 233/19 (Beschluss); BR-Plenarprotokoll 979, S. 300, 327; BT-Plenarprotokoll 19/108, S. 13426 ff.; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates BT-Drs.19/12086[]
  5. siehe das Wortprotokoll der 58. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz Nr.19/58 inklusive der schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen; dort insbesondere die Äußerungen des Sachverständigen Dombrowski, S. 8, 36; der Sachverständigen Ebbinghaus, S. 9; des Sachverständigen Hahne, S. 10; der Sachverständigen Nooke, S. 13, 22, 32, 69 f., 73; des Sachverständigen Wasmuth, S. 15, 20, 23, 92, 102-105; des Sachverständigen Mützel, S. 23 f.; teilweise unter Hinweis auf die Expertisen in: Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer , Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Expertisen, 2012, bzw. unter Hinweis auf den dazu ergangenen Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend u.a., in: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe <AGJ, Hrsg.>, Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Bericht, 2012 []
  6. BT-Drs.19/14427, S. 28[]
  7. vgl. BT-Drs.19/14427, S. 28[]
  8. siehe Wapler, Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR, in: Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer , Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Expertisen, 2012, S. 72-74 Punkt 5.02.6, S. 97-99 Punkt 6.1.2.2[]
  9. vgl. ThürOLG, Beschluss vom 16.11.2020 – 1 Ws Reha 6/17 26-31; KG, Beschluss vom 07.10.2021 – 7 Ws 52-54/21 REHA 15-19; OLG Naumburg, Beschluss vom 18.11.2021 – 1 Ws (Reh) 14/21 21; OLG Rostock, Beschluss vom 12.01.2022 – 22 Ws_Reha 19/21 11 f.; siehe auch Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 21.10.2021 – 2 Reha 18/21 8; OLG Dresden, Beschluss vom 09.01.2023 – 1 Reha Ws 17/22 13[]
  10. vgl. insbesondere OLG Dresden, Beschluss vom 09.01.2023 – 1 Reha Ws 17/22 13; in der Sache bereits Beschluss vom 05.08.2022 – 1 Reha Ws 29/21 7[]
  11. vgl. insoweit OLG mDresden, Beschluss vom 05.08.2022 – 1 Reha Ws 29/21 7[]
  12. vgl. BVerfGE 42, 64 <78 f.>[]
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Klage gegen die Abschiebungsanordnung - und die zwischenzeitlich erfolgte Abschiebung

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