Verfassungsbeschwerde – und die Erforderlichkeit einer Anhörungsrüge

Wird mit der Verfassungsbeschwerde auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht, so gehört eine Anhörungsrüge an das Fachgericht zu dem Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im Regelfall abhängig ist1.

Verfassungsbeschwerde – und die Erforderlichkeit einer Anhörungsrüge

Dies ist allerdings dann nicht zu verlangen, wenn die Anhörungsrüge von vornherein aussichtslos und damit unzumutbar ist. Aussichtslos ist ein Rechtsbehelf von vornherein, wenn er offensichtlich unstatthaft oder unzulässig ist. Dies ist unter anderem der Fall, wenn mit der Anhörungsrüge lediglich durch ein Rechtsbehelfsgericht nicht geheilte, also perpetuierte Gehörsverstöße gerügt werden oder wenn in der Sache gar kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG geltend gemacht wird2.

Im Fall der vorliegend entschiedenen Verfassungsbeschwerde gehört die Anhörungsrüge daher zum formellen Rechtsweg. Der Beschwerdeführer sieht sich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil der Hessische Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 24.03.2022 fälschlicherweise davon ausgegangen sei, dass ihm das Schreiben vom 15.01.2021 zugestellt worden sei und vor diesem Hintergrund entschieden habe, dass das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main den Wegfall des Rechtsschutzinteresses habe unterstellen dürfen. Mit der auf diese Wertung gestützten Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung habe der Hessische Verwaltungsgerichtshof ihm seinen Vortrag zu den Verfolgungsgründen endgültig abgeschnitten. Nach der Rechtsprechung vom 05.03.20193 verletzt die fehlerhafte Bejahung der Wirksamkeit einer fiktiven Klagerücknahme neben Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG zugleich den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass in einer auf einer solchen fehlerhaften Wertung basierenden Ablehnung des Berufungszulassungsgrundes aus § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 VwGO ebenfalls nicht nur ein Verstoß gegen Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG, sondern auch ein Gehörsverstoß liegt. Die statthafte Anhörungsrüge war vor diesem Hintergrund nicht offensichtlich aussichtslos. Mit dieser Rüge macht der Beschwerdeführer auch keinen bloß perpetuierten Gehörsverstoß geltend, da er eine eigene rechtliche Wertung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs angreift.

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Darüber hinaus musste der Beschwerdeführer die Anhörungsrüge auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten erheben. Denn erst in diesem Rahmen war es ihm überhaupt möglich, vor den Fachgerichten dazu vorzutragen, dass das Schreiben vom 15.01.2021 tatsächlich nie abgesendet worden war, und eine auf diesem Vortrag basierende Prüfung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs herbeizuführen. Hätte er unmittelbar den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24.03.2022 mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen, wäre diese wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der formellen Subsidiarität als unzulässig abgelehnt worden.

Von einer ordnungsgemäßen Rechtswegerschöpfung war im hier entscheidenen Verfahren auch für den Fall, dass die Anhörungsrüge verfristet wäre, ausnahmsweise auszugehen. Denn der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat im Beschluss vom 30.05.2022 zugleich Ausführungen dazu gemacht, dass die Anhörungsrüge mangels Entscheidungserheblichkeit des gerügten Gehörsverstoßes unbegründet wäre. In einem solchen Fall kann die Unzulässigkeit des fachgerichtlichen Rechtsbehelfs dem Beschwerdeführer nicht als Grund für die Unzulässigkeit seiner Verfassungsbeschwerde entgegengehalten werden, weil insoweit das mit dem Gebot der Rechtswegerschöpfung verfolgte Ziel – dem Bundesverfassungsgericht durch die umfassende fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte ein in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial zu verschaffen und ihm die Fall- und Rechtsanschauung der Gerichte zu vermitteln – in der Regel erreicht ist4.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 7. Februar 2023 – 2 BvR 1057/22

  1. vgl. BVerfGE 134, 106 <113 Rn. 22> m.w.N.[]
  2. vgl. BVerfGK 20, 300 <302 f.>[]
  3. BVerfG, Beschluss vom 05.03.2019 – 2 BvR 12/19[]
  4. vgl. BVerfGK 13, 181 <185 f.> 13, 409 <415> 19, 157 <162> BVerfG, Beschluss vom 21.09.2018 – 2 BvR 1649/17, Rn. 23; vgl. dazu auch Henke, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl.2022, § 90 Rn. 169[]
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