Verfassungsbeschwerde unmittelbar ein Gesetz – und die Subsidiarität

Der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität erfordert, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern1.

Verfassungsbeschwerde unmittelbar ein Gesetz – und die Subsidiarität

Daher ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann2.

Dadurch soll vor allem gewährleistet werden, dass dem Bundesverfassungsgericht infolge der fachgerichtlichen Vorprüfung der Beschwerdepunkte ein bereits eingehend geprüftes Tatsachenmaterial vorliegt und ihm auch die Fallanschauung und die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch die sachnäheren Fachgerichte vermittelt werden3. Das Bundesverfassungsgericht soll nicht gezwungen sein, auf ungesicherter Grundlage weitreichende Entscheidungen zu erlassen4. Auch soll es nicht Aussagen über den Inhalt einer einfachgesetzlichen Regelung treffen müssen, solange sich hierzu noch keine gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte entwickelt hat5.

Zum vorrangigen fachgerichtlichen Rechtsschutz zählt auch die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO6. In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage nach § 43 VwGO statthaft ist, wenn die Feststellung begehrt wird, dass wegen Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm kein Rechtsverhältnis zu dem anderen Beteiligten begründet ist7; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl.2015, § 43 Rn. 8d; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl.2014, § 43 Rn. 58a)). Die Beschwerdeführerin muss sich daher im Wege der negativen Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO an die Verwaltungsgerichte wenden und dort auf Feststellung klagen, dass sie die von ihr verneinte gesetzliche Verpflichtung nicht trifft.

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Die Erhebung einer Feststellungsklage ist nicht schon deshalb entbehrlich, weil sie offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in einer derartigen Fallkonstellation die Zumutbarkeit der vorherigen Anrufung der Fachgerichte ausnahmsweise verneint8. Vorliegend steht aber weder der Misserfolg eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens von vornherein fest noch würde hierdurch der Sinn des Subsidiaritätsgrundsatzes verfehlt.

Das Durchlaufen des Rechtswegs ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Regel auch dann zu verlangen, wenn das Gesetz keinen Auslegungs, Ermessens- oder Beurteilungsspielraum offen lässt, der es den Fachgerichten erlaubte, die geltend gemachte Grundrechtsverletzung kraft eigener Entscheidungskompetenz zu vermeiden9. Obwohl in derartigen Fällen die vorherige fachgerichtliche Prüfung für den Beschwerdeführer günstigstenfalls dazu führen kann, dass die ihm nachteilige gesetzliche Regelung gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird, ist eine solche Prüfung regelmäßig geboten, um zu vermeiden, dass das Bundesverfassungsgericht ohne die Fallanschauung der Fachgerichte auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage entscheiden muss10. Ein zulässiger Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht zur Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen setzt nämlich voraus, dass das vorlegende Gericht die Anwendbarkeit und Verfassungsmäßigkeit der in Rede stehenden Norm sorgfältig geprüft hat11. Es muss dabei auf naheliegende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte eingehen12 und unter Umständen auch eine verfassungskonforme Auslegung in Betracht ziehen13.

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Anders liegt es nur, wenn von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung keine verbesserte Entscheidungsgrundlage für die vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmende verfassungsrechtliche Bewertung zu erwarten wäre. Dies kommt aber nur dann in Betracht, wenn der Sachverhalt allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, deren Beantwortung weder von der näheren Sachverhaltsermittlung noch von der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des einfachen Rechts durch die Fachgerichte, sondern allein von der Auslegung und Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt14.

Im vorliegenden Verfahren stellen sich auch nicht lediglich spezifisch verfassungsrechtliche Fragen, für deren Beantwortung es allein auf Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlicher Maßstäbe ankommt. Vielmehr bedarf die verfassungsrechtliche Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen zunächst der Klärung vieler einfachrechtlicher Fragen. Die in Rede stehenden Regelungen bedürfen daher zunächst der – bislang noch nicht ansatzweise erfolgten – Aufbereitung durch die Fachgerichte. Erst dann besteht eine gesicherte Tatsachen- und Rechtsgrundlage, auf der über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Verpflichtungen entschieden werden kann.

Die vorherige Anrufung der Fachgerichte ist auch nicht deshalb unzumutbar, weil die überwiegende Anzahl der angegriffenen Verpflichtungen bußgeldbewehrt ist. Insofern verlangt der Grundsatz der Subsidiarität zwar nicht, dass Betroffene vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen eine straf- oder bußgeldbewehrte Rechtsnorm verstoßen und sich dem Risiko einer entsprechenden Ahndung aussetzen müssen, um dann im Straf- oder Bußgeldverfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm geltend machen zu können15. So liegt der vorliegende Fall indes nicht. Die Beschwerdeführerin kann mithilfe der negativen Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen die angegriffenen Verpflichtungen erreichen, ohne sich der Gefahr einer Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit aussetzen zu müssen. Sie ist also nicht darauf angewiesen, zunächst gegen die angegriffenen Verpflichtungen zu verstoßen, um dann im Rahmen des Bußgeldverfahrens die Verfassungswidrigkeit der zugrundeliegenden Normen geltend machen zu können. Die während des laufenden fachgerichtlichen Verfahrens bestehende Gefahr der Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit kann die Beschwerdeführerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 123 Abs. 1 VwGO abwenden.

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Einer Vorabentscheidung entsprechend § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG steht vorliegend ebenfalls entgegen, dass es an einer hinreichenden Vorklärung der einfachrechtlichen Lage fehlt16.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. Juli 2015 – 1 BvR 1014/13

  1. vgl. BVerfGE 74, 102, 113; 77, 381, 401; 81, 22, 27; 114, 258, 279; 115, 81, 91 f.; 123, 148, 172; 134, 242, 285 Rn. 150; stRspr[]
  2. vgl. BVerfGE 68, 319, 325 f.; 71, 305, 335 ff.; 74, 69, 74; 97, 157, 165; 120, 274, 300; 123, 148, 172; BVerfG, Beschluss vom 14.01.2015 – 1 BvR 931/12 23[]
  3. vgl. BVerfGE 79, 1, 20; 86, 382, 386 f.; 114, 258, 279[]
  4. vgl. BVerfGE 74, 102, 113 f.; 123, 148, 172 m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 14.01.2015 – 1 BvR 931/12 23[]
  5. vgl. BVerfGE 86, 15, 27; 114, 258, 280[]
  6. vgl. BVerfGE 115, 81, 95[]
  7. BVerwG, Urteil vom 23.08.2007 – BVerwG 7 C 13/06, NVwZ 2007, S. 1311, 1312; Happ, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl.2014, § 43 Rn. 9a; Pietzcker, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 43 Rn. 25 ((Oktober 2008[]
  8. vgl. BVerfGE 55, 154, 157; 79, 1, 20; 102, 197, 208; 123, 148, 172[]
  9. vgl. BVerfGE 72, 39, 43 f.; 79, 1, 20; 123, 148, 173[]
  10. vgl. BVerfGE 8, 222, 227; 123, 148, 173[]
  11. vgl. BVerfGE 127, 335, 355[]
  12. vgl. BVerfGE 86, 71, 78[]
  13. vgl. BVerfGE 76, 100, 105; 126, 331, 355 f.; BVerfG, Beschluss vom 16.12 2014 – 1 BvR 2142/11 75, 87[]
  14. vgl. BVerfGE 68, 319, 327; 123, 148, 173; BVerfG, Beschluss vom 14.01.2015 – 1 BvR 931/12 23[]
  15. vgl. BVerfGE 81, 70, 82 f.; BVerfG, Beschluss vom 14.01.2015 – 1 BvR 931/12 23[]
  16. vgl. BVerfGE 77, 381, 401; 86, 15, 27[]
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