Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen – und die Begründungserfordernisse

Nach den Begründungs- und Substantiierungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint1.

Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen – und die Begründungserfordernisse

Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer konkreten Begründung.

Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das bezeichnete Grundrecht durch die angegriffene Entscheidung verletzt sein soll und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen sie kollidiert2.

Bei gegen gerichtliche Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerden zählt zu den Anforderungen an die hinreichende Begründung auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis sich die Berechtigung der geltend gemachten Rügen nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach. Nur so wird das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen3.

Diesen Anforderungen wurde die Beschwerdebegründung in dem hier entschiedenen Verfassungsbeschwerdeverfahren insgesamt nicht gerecht:

Soweit sie sich gegen den Beschluss des Familiengerichts vom 01.10.2019 und die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts vom 07.02.2020 richtet, hat es die Beschwerdeführerin versäumt, für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erforderliche Unterlagen vorzulegen oder zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach vorzutragen. Es handelt sich dabei um zwei in früheren, wohl ebenfalls das Sorgerecht der Beschwerdeführerin (möglicherweise für ihre andere Tochter A…) betreffenden gerichtlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten vom 17.08.2014; und vom 20.10.2014, die sich zu ihrer Erziehungsfähigkeit verhalten. Das Familiengericht folgt in seinem angegriffenen Beschluss dem offenbar übereinstimmenden Ergebnis beider früherer Gutachterinnen über die aufgrund einer Persönlichkeitsstörung erheblich eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin. Aus dieser Einschränkung leitet das Familiengericht sowohl ab, dass sie nicht in der Lage sei, die Gefährdung des Kindeswohls ihres Sohnes abzuwenden, als auch die Ungeeignetheit weniger eingriffsintensiver familiengerichtlicher Maßnahmen nach § 1666 BGB als den weitgehenden Entzug des Sorgerechts. Ohne Kenntnis zumindest der wesentlichen Inhalte dieser Gutachten kann nicht beurteilt werden, ob der mit einer Trennung des Kindes von seiner Mutter verbundene vorläufige Sorgerechtsentzug verfassungsrechtlicher Prüfung standhielte.

Weiterlesen:
Einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts - gegen Maßnahmen des Gerichts der Europäischen Union?

Der in der unterbliebenen Vorlage der Gutachten liegende Begründungsmangel erfasst auch die gegen die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde. Das Oberlandesgericht hat zwar weder in dem angegriffenen Beschluss vom 07.02.2020 noch in der vorausgegangenen, in Bezug genommenen Entscheidung vom 13.12.2019 selbst näher die Kindeswohlgefährdung bei dem Sohn der Beschwerdeführerin dargelegt noch sich ausdrücklich zu weniger stark in ihr Elternrecht eingreifenden (vorläufigen) Maßnahmen verhalten, sondern vor allem auf die bereits jetzt bestehende Notwendigkeit einer umfassenden kinder- und jugendpsychotherapeutischen Behandlung der Verhaltensauffälligkeiten des Kindes hingewiesen. Damit dürfte es sich aber implizit die Feststellungen des Familiengerichts zur Kindeswohlgefährdung und zu der fehlenden Fähigkeit der Beschwerdeführerin, diese Gefährdung abzuwenden, zu eigen gemacht haben. Für die Prüfung der gegen die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde bedurfte es daher ebenfalls der Kenntnis vom Inhalt der beiden Gutachten.

Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde ergibt sich nicht in einer nachvollziehbaren Weise, dass der Beschwerdeführerin die Vorlage der beiden Sachverständigengutachten unmöglich oder unzumutbar ist4. Soweit sie geltend macht, die beiden Gutachten könnten nicht als Anlagen beigefügt werden, weil das Familiengericht diese seinerseits „nicht vorgelegt“ habe, begründet das weder die Unmöglichkeit noch die Unzumutbarkeit der Vorlage im Verfassungsbeschwerdeverfahren durch sie. Selbst wenn die Beschwerdeführerin nicht (mehr) über die Gutachten verfügen sollte, obwohl sie an den Verfahren, für die diese erstellt wurden, beteiligt war, konnte sie sich die Sachverständigengutachten beziehungsweise deren Inhalt durch Akteneinsicht nach § 13 FamFG verschaffen5. Das Akteneinsichtsrecht aus § 13 Abs. 1 FamFG bezieht sich auch auf die Anlagen der Akten des gegenständlichen Verfahrens sowie auf beigezogene Akten, wenn diese ? wie hier ? zur Grundlage der Entscheidungsfindung gemacht wurden6.

Weiterlesen:
Vergütung des berufsmäßigen Ergänzungspflegers

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den ihre fachrechtliche Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss des Oberlandesgerichts vom 25.03.2020 richtet, zeigt die Beschwerdeführerin nicht in einer § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise auf, dass das Oberlandesgericht entgegen dem ausdrücklichen Inhalt der angegriffenen Entscheidung entscheidungserhebliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.

Eine Verletzung der von der Beschwerdeführerin als beeinträchtigt geltend gemachten Grundrechte beziehungsweise grundrechtsgleichen Rechte liegt auch nicht derart auf der Hand7, dass ausnahmsweise auf die aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfG folgenden Anforderungen an die Begründung der Verfassungsbeschwerde verzichtet werden könnte. Ohne die offenbar die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin betreffenden, in vorausgegangenen familiengerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten kann nicht verantwortbar beurteilt werden, ob ein vorläufiger Entzug ihres Sorgerechts ohne Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG angeordnet werden durfte.

Angesichts der den gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechenden Begründung der Verfassungsbeschwerde kann offenbleiben, ob diese, soweit sie sich gegen den Beschluss des Familiengerichts richtet, auch wegen prozessualer Überholung aufgrund der vom Beschwerdegericht getroffenen eigenen Sachentscheidung unzulässig ist.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Juni 2020 – 1 BvR 572/20

  1. vgl. BVerfGE 89, 155, 171[]
  2. vgl. BVerfGE 88, 40, 45; 99, 84, 87; 101, 331, 345; 108, 370, 386 f.[]
  3. vgl. BVerfGE 93, 266, 288; 129, 269, 278[]
  4. vgl. BVerfGE 48, 271, 280; 131, 66, 82[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.2002 – 1 BvR 575/02, Rn. 34[]
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 19.07.2018 – V ZB 223/17, Rn. 8; Borth/Grandel, in: Musielak/Borth, FamFG, 6. Aufl.2018, § 13 Rn. 3; Sternal, in: Keidel, FamFG, 20. Aufl.2020, § 13 Rn. 21 m.w.N.[]
  7. vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 24.08.2010 – 1 BvR 1584/10, Rn. 3[]
Weiterlesen:
Beigeordneter oder Dezernent - das ausgetrickste Bürgerbegehren

Bildnachweis: