Verfolgung somalischer Volkszugehöriger in Äthiopien

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Verfolgung somalischer Volkszugehöriger in Äthiopien

Diese Voraussetzungen liegen bei einem äthiopischen Staatsangehörigen somalischer Volkszugehörigkeit vor.

Dabei geht das Verwaltungsgericht Schwerin davon aus, dass im vorliegenden Fall allein auf Äthiopien als möglichen Verfolgerstaat abzustellen ist. Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG ist das Herkunftsland maßgeblich, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Auf Grund der Herkunft des Asylbewerbers aus dem Ogaden, der völkerrechtlich zu Äthiopien gehört, ist hier zweifelsfrei von der äthiopischen Staatsangehörigkeit des Asylbewerbers auszugehen, ohne dass seine somalische Volkszugehörigkeit dem entgegenstünde. Eine somalische Staatsangehörigkeit hat er nicht geltend gemacht, sondern dem Bundesamt gegenüber lediglich darauf hingewiesen, dass er auf Grund seiner Stammeszugehörigkeit „Somali“ sei. Dass er möglicherweise Anspruch auf die somalische Staatsangehörigkeit haben könnte führt nicht dazu, dass (ergänzend) auf Somalia als möglichen Verfolgerstaat abzustellen wäre.

Der Asylbewerber hat vor seiner Ausreise aus Äthiopien eine individuelle politische Verfolgung in Anknüpfung an seine politische Überzeugung erlitten. Das Gericht ist nach der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen, insbesondere die Festnahme und Misshandlung durch äthiopische Sicherheitskräfte im Jahr 2008, der Wahrheit entspricht.

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Bereits in seiner früheren Anhörung at der Asylbewerber das Verfolgungsgeschehen und dessen Hintergrund detailliert und anschaulich geschildert. In der mündlichen Verhandlung hat er das Geschehen ebenso anschaulich wiederholt und sämtliche Nachfragen des Gerichts ausführlich und überzeugend beantwortet, ohne dass dabei Widersprüche oder Ungereimtheiten aufgetreten wären. Insbesondere die Umstände seiner Festnahme, der Verhöre und Misshandlungen, sowie der Freilassung bzw. Flucht aus dem Gefängnis hat er ausführlich und glaubhaft geschildert. Auch die Nachfragen des Gerichts zur Person seiner Tante in Saudi-Arabien, ohne die das Gelingen seiner Flucht und damit das Gesamtgeschehen nicht plausibel wäre, hat er hinreichend beantworten können.

Zwar hat er seinem Sachvortrag auf gerichtliche Nachfrage mehrfach Einzelheiten hinzugefügt, die er gegenüber dem Bundesamt nicht erwähnt hatte (z. B. dass seine Ehefrau bei der Festnahme dabei gewesen sei, dass er auch an den Füßen gefesselt worden sei, dass sein Bruder bereits seit 1994 untergetaucht gewesen sei, dass er seine Tante erstmals im Sudan telefonisch gesprochen habe), diese Einzelheiten sind aber nicht als Steigerung des Vortrages zu bewerten, zumal er nach diesen Dingen bisher nicht befragt worden war. Das Kerngeschehen hat er ohne wesentliche Abweichungen konstant wiedergegeben. Gerade die zusätzlichen Details sprechen nach Überzeugung des Gerichts für den Wahrheitsgehalt seines Vortrages, da sie seinen bisherigen Angaben nicht widersprechen, sondern diese lediglich ergänzen.

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Die gegenteilige Einschätzung des BAMF vermag nicht zu überzeugen. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Schwerin ist das Verhalten der äthiopischen Sicherheitskräfte nicht deshalb als unwahrscheinlich einzustufen, weil der Asylbewerber tatsächlich nicht für die ONLF aktiv gewesen ist. Die Argumentation, ein unpolitischer Bewohner des Ogaden wäre allein auf Grund der Mitgliedschaft seiner Verwandten bei der ONLF nicht inhaftiert worden, es hätte näher gelegen, seine Verwandten festzusetzen, ist durch die ergänzenden Angaben des Asylbewerbers widerlegt worden. Gerade weil sein Bruder bereits seit langer Zeit „untergetaucht“ war und die Sicherheitskräfte seiner offenbar nicht habhaft werden konnten, ist es durchaus plausibel, dass sie den – aus ihrer Sicht ungefährlichen – Asylbewerber ins Visier genommen haben, um auf diese Weise Informationen über den Bruder und dessen Aufenthaltsort zu erlangen.

Auf der Basis dieser Feststellungen ist dem Asylbewerber die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Verfolgungsmaßnahmen gingen von staatlichen Akteuren aus und haben erkennbar an die politische Überzeugung des Asylbewerbers und damit an ein asylrelevantes Merkmal angeknüpft. Dabei reicht es aus, dass ihm diese politische Überzeugung von Seiten der Verfolger zugeschrieben wurde, auch wenn sie tatsächlich nicht bestanden haben mag. Mit Blick auf die ihm zugefügte Freiheitsentziehung und Misshandlung liegt eine schwerwiegende, den Betroffenen aus der staatlichen Friedensordnung ausgrenzende Verfolgung vor. Der nötige Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Ausreise ist ebenfalls gegeben. Er kann ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes auch nicht auf internen Schutz (§ 3e AsylVfG) in anderen Teilen seines Herkunftslandes verwiesen werden. Hinreichende Sicherheit vor dem Zugriff der äthiopischen Sicherheitskräfte besteht für ihn als somalischen Volkszugehörigen in anderen Landesteilen nicht.

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Der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft steht auch nicht entgegen, dass der Asylbewerber möglicherweise die somalische Staatsangehörigkeit erwerben und sich nach Somalia begeben könnte. Es kommt nicht darauf an, ob er dort vor dem Zugriff Äthiopiens hinreichend sicher wäre. Wie bereits ausgeführt ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG allein auf Äthiopien als das Herkunftsland abzustellen, dessen Staatsangehörigkeit er bereits besitzt.

Der Asylbewerber muss im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit politischer Verfolgung rechnen. Stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung liegen nicht vor. Der Zeitablauf von annähernd sieben Jahren reicht nicht für die Annahme, dass der Asylbewerber vor einem erneuten Zugriff Äthiopiens sicher wäre. Seit 2008 haben sich weder das Regime in Äthiopien noch die Lage im Ogaden grundlegend geändert. Der Konflikt zwischen der äthiopischen Regierung und der ONLF besteht weiter fort.

Im Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 17.06.2014 heißt es dazu:

„Die Ogaden National Liberation Front (ONLF) wurde in den 1980er Jahren gegründet. Seither kämpft die Gruppierung für einen unabhängigen Staat in der Ogaden-Region. Das Gebiet wird hauptsächlich von ethnischen Somali muslimischen Glaubens bewohnt. Gespräche zwischen der Regierung und der ONLF, um den jahrzehntelangen Konflikt zu beenden, waren bisher nicht erfolgreich. Angehörige der äthiopischen Armee, regierungsnahe Milizen sowie die ONLF wurden wiederholt beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen, extralegale Hinrichtungen und Vergewaltigungen begangen zu haben. Medienschaffende, Menschenrechtsorganisationen und die meisten Hilfswerke haben keinen Zugang ins umkämpfte Gebiet. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz musste bereits im Jahr 2007 die Region verlassen, da die äthiopische Regierung die Organisation der Zusammenarbeit mit Terroristen bezichtigt hatte.

Die äthiopische Regierung geht äußerst hart gegen vermeintliche oder tatsächliche Mitglieder der ONLF vor. Gemäß Amnesty International werden im Ogaden-Gebiet oftmals zivile Personen festgenommen, die keinerlei Verbindung zur Organisation haben. Ein Verdacht der Sicherheitsbehörden, die ONLF zu unterstützen, reicht aus, um verhaftet zu werden. Selbst UNO-Mitarbeiter werden nicht verschont. ……………. ist seit 2010 in Haft, da die äthiopischen Behörden seinen Bruder verdächtigen, Verbindungen zur ONLF zu haben. Die Behörden wollen mit der Haft die Rückkehr des Bruders erzwingen.“

Auch das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 04.03.2015 aus, zwar sei im Oktober 2010 ein Friedensabkommen mit Teilen der ONLF abgeschlossen worden, das die Freilassung von Gefangenen, die Reintegration ehemaliger Kämpfer und eine Amnestie für diejenigen zusichert, die ihre Waffen freiwillig abgeben. Allerdings sei die Umsetzung des Abkommens weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Manche ehemaligen Kämpfer würden nach Freilassung wieder eingesperrt, andere Kämpfer seien zu dem noch kämpfenden Flügel der ONLF übergelaufen. Die ONLF werde von der äthiopischen Regierung nach wie vor als terroristische Vereinigung eingestuft.

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Es kommt noch hinzu, dass der Asylbewerber sich nach seinen glaubhaften Angaben auch exilpolitisch für die ONLF und für die OYSU betätigt hat. Zwar begründen solche Aktivitäten – isoliert betrachtet – nur dann relevante Verfolgungsgefahren in Äthiopien, wenn sich der Betreffende aus dem Kreis der bloßen Mitläufer hervorhebt und als möglicher ernsthafter Oppositioneller in Frage kommt1. Dies dürfte beim Asylbewerber bei dem geringen Ausmaß der von ihm geschilderten exilpolitischen Betätigung noch nicht der Fall sein. Darauf kommt es mit Blick auf die bereits festgestellte asylrelevante Vorverfolgung aber nicht mehr entscheidend an.

Ausschlussgründe nach § 60 Abs. 8 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 2 AsylVfG greifen offensichtlich nicht ein.

Verwaltungsgericht Schwerin, Urteil vom 17. Juni 2015 – 5 A 222/12 As

  1. vgl. VG Gießen, Urteil vom 29.02.2012 – 6 K 2312/10.GIA; VG Bayreuth, Urteil vom 06.07.2011 – B 3 K 10.30246; OVG NRW, Urteil vom 17.08.2010 – 8 A 4063/06.A[]