Verlust der Freizügigkeit – und das bestehende Aufenthaltsrecht

Art. 10 VO (EU) 492/2011 (ArbeitnehmerfreizügigkeitsVO) vermittelt Kindern, die in Deutschland die Schule besuchen, und ihren Eltern ein Freizügigkeitsrecht i.S.d. § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU), das einer Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU entgegensteht.

Verlust der Freizügigkeit – und das bestehende Aufenthaltsrecht

Eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ist daher nicht möglich, solange ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 besteht.

Dies hat jetzt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig auf die Klage einer Mutter und ihre beiden Töchter – allesamt polnischer Staatsangehörigkeit – entschieden. Von Ende Mai 2012 bis Ende März 2013 ging die Mutter einer Beschäftigung nach. In der Folge wurden ihr und ihren Kindern, die staatliche Schulen im Bundesgebiet besuchten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligt. Im Juni 2013 stellte die beklagte Ausländerbehörde den Verlust des Rechts der Mutter und ihrer beiden Töchter auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland fest. Nach Aufnahme einer Beschäftigung im August 2013 wurde an der Verlustfeststellung nur noch für den Zeitraum von Juni bis August 2013 festgehalten.

Das Verwaltungsgericht Dresden hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen1. Auf die Berufung der Klägerinnen hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht in Bautzen die Verlustfeststellung auch insoweit aufgehoben2: Die beiden Töchter seien als Kinder einer Wanderarbeitnehmerin auch in dem streitigen Zeitraum freizügigkeitsberechtigt gewesen. Der Mutter habe als für ihre Kinder sorgendem Elternteil ein von diesem Aufenthaltsrecht ihrer Töchter abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugestanden. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts im Ergebnis mit einer alternativen Begründung bestätigt:

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Wird davon ausgegangen, dass die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU nicht in einzelne Zeitabschnitte teilbar ist, kann sie grundsätzlich insgesamt keinen Bestand mehr haben, wenn der betroffene Unionsbürger oder sein Familienangehöriger im Verlauf des Verfahrens (neuerlich) freizügigkeitsberechtigt wird und die Behörde die Verlustfeststellung nur noch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum aufrechterhält.

Wird hingegen von einer zeitlichen Teilbarkeit der Verlustfeststellung und damit einer zeitabschnittsweisen Betrachtung ausgegangen, war die verbliebene Verlustfeststellung ebenfalls rechtswidrig. Denn die Mutter und ihre Töchter waren auch seinerzeit freizügigkeitsberechtigt i.S.d. FreizügG/EU.

Gemäß Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Dies vermittelt ihnen und – hiervon abgeleitet – auch ihren tatsächlich die Personensorge ausübenden Eltern ein Aufenthaltsrecht.

Aufenthaltszeiten, die allein auf der Grundlage des Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 zurückgelegt wurden, ohne dass die für die Inanspruchnahme eines Aufenthaltsrechts nach der sogenannten Unionsbürger-Richtlinie (RL 2004/38/EG) vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt waren, können zwar nicht für die Zwecke eines Daueraufenthaltsrechts i.S.d. § 4a FreizügG/EU berücksichtigt werden. Jedoch vermitteln sie den Kindern eines Wanderarbeitnehmers und dem Elternteil, der die tatsächliche Sorge für diese ausübt, Freizügigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU in dem Aufnahmemitgliedstaat des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers, so dass eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU ausscheidet.

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Verfassungsbeschwerde - und die EMRK als Prüfungsmaßstab?

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 11. September 2019 – 1 C 48.18

  1. VG Dresden, Urteil vom 18.08.2016 – 3 K 3320/14[]
  2. Sächs. OVG, Urteil vom 25.10.2018 – 3 A 736/16[]