Verspätete Urteilsabsetzung

Selbst wenn die äu­ßers­te Frist für die Über­ga­be der Ent­schei­dungs­grün­de an die Ge­schäfts­stel­le von mehr als fünf Mo­na­ten seit Ver­kün­dung des Ur­teils bzw. Nie­der­le­gung des Ur­teils­te­nors noch ge­wahrt ist, gilt ein Ur­teil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO als nicht mit Grün­den ver­se­hen, so­fern zu dem Zeit­ab­lauf als sol­chem be­son­de­re Um­stän­de hin­zu­tre­ten, die be­reits wegen des Zeit­ab­laufs be­ste­hen­de Zwei­fel zu der An­nah­me ver­dich­ten, dass der ge­setz­lich ge­for­der­te Zu­sam­men­hang zwi­schen der Ur­teils­fin­dung und den schrift­lich nie­der­ge­leg­ten Ur­teils­grün­den nicht mehr ge­wahrt ist1.

Verspätete Urteilsabsetzung

Ein bei seiner Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil gilt im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO als nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe innerhalb einer – in Anlehnung an die in §§ 517 und 548 ZPO bestimmten – Frist von fünf Monaten nach Verkündung nicht unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Der zeitliche Zusammenhang zwischen der Beratung und Verkündung des Urteils einerseits und der Übergabe der schriftlichen Urteilsgründe andererseits ist dann so weit gelockert, dass in Anbetracht des nachlassenden Erinnerungsvermögens der Richter die Übereinstimmung zwischen den in das Urteil aufgenommenen und den für die richterliche Überzeugung tatsächlich leitend gewordenen Gründen nicht mehr gewährleistet erscheint2. Entsprechendes gilt, wenn das Urteil nicht verkündet, sondern zugestellt worden ist und zwischen Niederlegung des Tenors und Übergabe des vollständigen Urteils an die Geschäftsstelle ein Zeitraum von mehr als fünf Monaten liegt3.

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Wird die Frist von fünf Monaten gewahrt, so kann ein Urteil gleichwohl als nicht mit Gründen versehen gelten. Dies trifft zu, wenn zu dem Zeitablauf als solchem besondere Umstände hinzutreten, die bereits wegen des Zeitablaufs bestehende Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich geforderte Zusammenhang zwischen der Urteilsfindung und den schriftlich niedergelegten Gründen nicht mehr gewahrt ist4.

Die Maximalfrist von fünf Monaten ist im hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall gewahrt worden; die Urteilsformel wurde am 25.02.2010 der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts übergeben, das vollständige Urteil gelangte ausweislich der Zuleitungsverfügung des Senatsvorsitzenden spätestens am 30.06.2010 zur Geschäftsstelle. Darüber hinaus fehlen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts in diesem Fall aber auch besondere Umstände, die in Verbindung mit dem Zeitablauf die Annahme rechtfertigen, die schriftlichen Urteilsgründe und die für die richterliche Überzeugung tatsächlich leitend gewesenen Gründe fielen auseinander.

Der Verlust der Erstfassung des Urteilstextes auf dem Privatcomputer des Vorsitzenden und Berichterstatters Mitte Mai 2010 stellt keinen solchen Umstand dar. Im Gegenteil liefert dieser Vorfall eine nachvollziehbare Erklärung für die Dauer der Urteilsabsetzung und belegt, dass der Verfasser des Urteilstextes sich in der Zwischenzeit mit dem Fall gedanklich befasst und dadurch die Erinnerung an die der Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen wach gehalten hat. Dass die Entscheidungsgründe bereits einmal schriftlich fixiert waren, bietet eine zusätzliche Gewähr für die Übereinstimmung der später abgefassten mit den für die Entscheidung maßgeblich gewordenen Gründen. Aus der Zeitspanne von ca. vier Wochen zwischen dem Verlust des ersten Computertextes und der Übergabe der späteren Urteilsfassung an die Geschäftsstelle ergibt sich nichts anderes, zumal der Urteilsverfasser nach eigenem Bekunden zwischenzeitlich noch Urlaub hatte.

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Die Entscheidungsgründe bieten ebenfalls keine Anhaltspunkte für die Annahme, sie würden ihrer Funktion, die das Beratungsergebnis tragenden Gründe zu dokumentieren, nicht gerecht. In ihnen kommt eine geordnete Gedankenführung zum Ausdruck, die den zu beurteilenden Lebenssachverhalt im Einzelnen erfasst, das Vorbringen der Beteiligten würdigt und sich mit den als zentral erachteten rechtlichen Problemen des Falles auseinandersetzt. Zwar bleibt unerörtert, aufgrund welcher Erwägungen das Berufungsgericht die Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes über den öffentlichrechtlichen Vertrag für anwendbar gehalten und welche Bedeutung es in diesem Zusammenhang der Bezugnahme im Vorschaltgesetz Kommunalfinanzen geänderter Fassung auf die Abgabenordnung beigemessen hat. Einer solchen singulären Argumentationslücke ist aber kein so großes Gewicht beizumessen, dass sie in Verbindung mit der zeitlichen Komponente den Schluss zuließe, der gesetzlich geforderte Zusammenhang zwischen den für die Überzeugungsbildung wesentlichen Erwägungen und den schriftlich niedergelegten Gründen sei nicht mehr gewahrt.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Mai 2012 – 9 C 5.11

  1. wie BVerwG, Be­schluss vom 09.08.2004 – 7 B 20.04[]
  2. Gms-OBG, Beschluss vom 27.04.1993 – GmS-OGB 1/92, BVerwGE 92, 367, 375 f.; BVerwG, Beschluss vom 26.04.1999 – 8 B 67.99, Buchholz 428 § 3 VermG Nr. 30 S. 6 f.[]
  3. BVerwG, Beschluss vom 26.04.1999 a.a.O.[]
  4. BVerwG, Beschluss vom 09.08.2004 – 7 B 20.04, Rn. 17; vgl. auch Beschluss vom 25.04.2001 – 4 B 31.01, Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 47 S. 3[]
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